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Forschungsaufgaben und Ziele

Im Dokument Frank & Timme (Seite 138-144)

3 Gespräch und Gesprächskompetenz im Kontext der professionellen

4.1 Forschungsaufgaben und Ziele

Die Arbeit der Agenten im Callcenter an der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, Auftraggeber und Kunden ist mit der rasanten Entwicklung der Bran-che immer wieder Gegenstand von Forschungsprojekten und -kooperationen gewesen. Allerdings wurden, zumindest für den Bereich der Sprechkommunika-tion, bis heute kaum nachhaltige Optimierungsprozesse angestoßen, und kom-munikationstheoretisches Grundlagenwissen scheint bisher nur fragmentarisch in der Anwendungspraxis etabliert.

Die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsfeld der professionellen Tele-fonie setzt an diesem Transferdefizit an und zeigt, dass die bisherigen

Erkennt-nisse über theoretische und praktische Regularitäten der Gesprächsführung in Callcentern an der Schnittstelle zwischen Mündlichkeit, Schriftlichkeit und Da-tenkommunikation allenfalls als ‚vorwissenschaftlich’ zu bezeichnen sind (vgl.

Hirschfeld/Neuber 2009, 93). Gleiches gilt auch für den Trainingsmarkt in der beruflichen Aus- und Weiterbildung von Callcenteragenten, dem es an wissen-schaftlich fundierten Expertentum und Ausbildungskonzepten mangelt. Die hier symptomatisch zutage tretende unzureichende wissenschaftstheoretische und methodisch-didaktische Fundierung der branchenüblichen Gesprächs- und Aus-bildungsstandards ist eng mit der Entstehung und rasanten Entwicklung dieses Wirtschaftszweiges zu Beginn der 90-er Jahre verwoben (vgl. Oh-nemus/Engelbrecht 2017, 124). Zugleich ist sie Beleg für die von Antos (1996, 10 f.) bereits für die Linguistik beklagte, mangelnde populärwissenschaftliche Ausrichtung der sich mit Sprache, Sprechen und Kommunikation befassenden akademischen Wissenschaftsdisziplinen. Gemeint ist eine auf den Transfer wis-senschaftlicher Erkenntnisse abzielende Publikationstätigkeit, um Forschungs-ergebnisse und Theorien einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Mit zunehmender Relevanz dieses „tertiären Sektors“ (ebd. 11) steht besonders die anwendungsorientierte Sprechwissenschaft in der Verantwortung für diese drin-gend notwendige Transferarbeit zur theoretischen und empirischen Fundierung des Kommunikationswissens der Callcenterbranche. Auch in der Wirtschafts-praxis besteht ein nicht zu unterschätzendes Verwertungsinteresse der Erkennt-nisse, da gerade die Callcenterbranche „auf einen kontinuierlichen Wissens-transfer“ (ebd.) angewiesen ist, um auf die wachsenden Anforderungen der Kunden in der Dienstleistungskommunikation zu reagieren.

Mit Blick auf die in Kapitel 3.1 dargestellte Gesprächs- und Kompetenzkon-zeption der Wirtschaftspraxis wird deutlich, dass das zugrundeliegende Kom-munikationswissen der Branche „inzwischen durchaus popularisierte wissen-schaftliche Erkenntnissplitter und kommunikationspsychologische Theorie-segmente“ (Antos 1996, 26) durchzieht. Bis heute fehlt es diesem Wissen jedoch an empirischer Legitimation, da es v.a. den Ansprüchen von Praxisrelevanz und Praktizierbarkeit Folge leistet. Gesprächsstandards, Ausbildungs- und Trainings-inhalte fußen überwiegend auf dem Erfahrungswissen selbsternannter Experten, das bestenfalls mit Informationen aus der Ratgeberliteratur angereichert ist (vgl.

Hirschfeld/Neuber 2009, 93). Nicht selten wird in der Personalentwicklung ganz und gar auf externe Expertise verzichtet. Die Mitarbeiterqualifikation und Quali-tätskontrolle speist sich dann ausschließlich aus internen Ressourcen, indem langerfahrene, leistungsstarke Mitarbeiter eigenes Erfahrungswissen didaktisie-ren (zu den personalpolitischen und trainingspraktischen Vorteilen vgl. Bose et al. 2012, 174). Den Beobachtungen der zurückliegenden Forschungsarbeit

zu-folge fehlt es in fast allen Bereichen der professionellen Telefonie an soliden und datengestützten Erkenntnissen, die sich im Qualitätsmanagement und in andragogischen Konzepten zur Aus- und Weiterbildung von Callcenteragenten umsetzen ließen (vgl. Hirschfeld/Neuber 2009, 93).

Da die Callcenterbranche vom Erfolg und der Effizienz interpersoneller Kom-munikation lebt, fallen wesentliche Themengebiete des sprechwissenschaftli-chen Erkenntnisinteresses mit den Kernbedarfen der Branche zusammen. Zudem verfügt das Fach über jahrzehntelange Erfahrungen im Bereich der Sprechwir-kungsforschung und damit auch über umfangreiche Kenntnisse und Instrumen-tarien der qualitativen und quantitativen Forschung zu Prozessen und Effekten der mündlichen Kommunikation.

Die professionelle Telefonie umfasst inzwischen wesentliche Bereiche des öf-fentlichen und privaten Lebens und Kommunizierens. Mit der Entwicklung der Branche entstand zugleich ein neuer Berufszweig, der wie kaum ein anderer Sprechberuf mit der Nutzung modernster Kommunikationsmedien und -technik verwoben ist und damit völlig neue Anforderungen an die Kommunizierenden stellt (vgl. Ohnemus/Engelbrecht 2017, 124). Gleichzeitig ergeben sich durch die eingangs erörterten Rahmenbedingungen der Dienstleistungsarbeit (vgl.

Kap. 2.1) untersuchungsmethodologische Vorteile und Interessen, die den Ge-genstand der Callcenterkommunikation in besonderer Art und Weise charakteri-sieren (vgl. Neuber 2017, 12). Von grundlegendem Interesse ist in diesem Zu-sammenhang das ausgesprochen umfangreiche Gesprächsspektrum der professionellen Telefonie: Es reicht von Verkaufsgesprächen, über Beratungs- und Reklamationsgespräche bis hin zu Seelsorgegesprächen. Damit bildet die professionelle Telefonie die grundlegendsten Gesprächsformen im öffentlichen Bereich ab und bietet unzählige Ansätze für konkrete Untersuchungen. Für die sprechwissenschaftliche Forschungsarbeit sind v.a. folgenden Forschungsinte-ressen ausschlaggebend:

x Qualitätsbewertung und -sicherung

Die datenbasierte Bestimmung und Operationalisierung von Qualitätskrite-rien telefonischer Kundengespräche ist, unter der Perspektive des Anwen-dungsbezuges, eine zentrale Motivation der Forschungsarbeit. Die mit der Operationalisierung verbundenen Aufgaben verbinden die Grundlagenfor-schung mit dem Praxistransfer in Personalentwicklung und Qualitätsma-nagement.

x Sprechausdruck und -wirkung

Die fehlende Übertragung des nonverbalen Kanals führt zu einer besonderen Bedeutung der sprecherischen und stimmlichen Ausdrucksmittel. Von For-schungsinteresse sind in diesem Zusammenhang nicht nur die Identifikation und Analyse auffälliger Sprechausdrucksweisen und -muster, sondern auch die durch sie hervorgerufenen Wirkungen und Assoziationen (Zuschreibung von Persönlichkeitseigenschaften, Charakter- und Kompetenzassoziationen, Angemessenheitsbewertungen usw.).

x Emotionssignalisation und -erkennung

Die Untersuchung des Ausdrucks und der (auch automatisierten) Erkennung von Emotionalität in telefonischen Kundengesprächen ist im Rahmen der Forschungsarbeit v.a. deshalb von Interesse, da die Analyse realer Gespräche weit über die labormäßige Extraktion und Betrachtung von Basisemotionen hinausgeht. Die von den Kundendienstmitarbeitern oftmals nicht erkannten Kundenemotionen führen nicht selten zu Kommunikationsstörungen und Konflikten in den Gesprächen.

x Wirkungen und Anforderungen der interkulturellen institutionellen professionellen Telefonie

Neben den Besonderheiten der institutionellen Kommunikation geraten zu-nehmend auch Aspekte der interkulturellen Kommunikation in den Fokus der Forschungen zur professionellen Telefonie. In der Praxis sind diese nicht nur bei sog. Ethno-Hotlines anzutreffen, sondern auch bei der ins Ausland verla-gerten telefonischen Kundenbetreuung (Offshore-Geschäft). Fragen des an-gemessenen Ausdrucks von Kundenfreundlichkeit, Höflichkeit oder Emotio-nalität besitzen in interkulturellen Kontexten besondere Relevanz, da hier kulturelle und sprachliche Interferenzen wirksam werden.

x Gesprächsführung im Spannungsfeld zwischen Individualität und Au-tomatisierung

Unterschiedliche Standardisierungsgrade, Multimedialität sowie der repetiti-ve Charakter von Kommunikationsarbeit führen zu unterschiedlichen Hand-lungs- und Gestaltungsspielräumen, ungewollten Automatisierungserschei-nungen sowie zu unterschiedlichen Mündlichkeitsformen: vom frei produzierten Sprechen, z.B. in Beratungspassagen, bis hin zum reproduzie-renden, textgebundenen Sprechen, z.B. beim Verlesen von Vertragstexten.

Zu untersuchen sind hier u.a. die Manifestationen und kommunikativen Auswirkungen dieser produktionslogistischen Begleiterscheinungen der Kommunikationsarbeit.

x Arbeitsgestaltung und -belastung im Sprechberuf

Die psychologischen und physiologischen Aspekte, Belastungen und Folge-erscheinungen in der Kommunikationsarbeit der Kundenberater (Belastungen durch den repetitiven Charakter der Arbeit, Stimmbelastung im Sprechberuf usw.) stellen einen erfolgskritischen Faktor der Arbeit im Kundendienst dar.

Die ökonomischen Konsequenzen der Arbeits- und Stimmbelastung, verur-sacht durch hohe Fluktuation und Krankenstand, sind in diesem Zusammen-hang nicht zu unterschätzen.

In der Gesamtschau erweist sich das Forschungsfeld der professionellen Telefo-nie als ausgesprochen vielseitig und in vielfacher Hinsicht ertragreich, nicht zu-letzt, weil die für das Fach relevanten Bereiche der Sprechkommunikation um-fassend abgebildet werden.

Durch den betonten Anwendungsbezug des Forschungsschwerpunktes ergeben sich in Bezug auf den Untersuchungsgegenstand konkrete Zielsetzungen, die im Kerninteresse des Faches liegen. Grundlegend geht es dabei v.a. um die wissen-schaftstheoretische und empirische Überprüfung und Erweiterung des bisher in der Anwendungspraxis weitläufig vermittelten Erfahrungswissens. Aufgabe und Ziel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Fragen und Problemen der professionellen Telefonie ist es, das laien-rhetorisch basierte Wissen und Kön-nen der Branche theoretisch und empirisch zu erschließen und es durch wissen-schaftliche Lehr- und Lerninhalte zu fundieren.

Wie Holtgrewe (2002, 15) anmerkt, verfügen die Mitarbeiter der Callcenter-branche (Manager, Personalentwickler, Teamleiter und Agenten) durchaus über ein intuitives Wissen darüber, was in Kundengesprächen effektiv und funktional ist. Dies belegen auch die Beobachtungen und Erfahrungen aus der Forschungs-arbeit. Mitunter haben die verantwortlichen Akteure ein z.T. sehr konkretes, je-doch intuitives Wissen in Bezug auf funktionale und dysfunktionale Gesprächs-strategien, -vorgaben und Standards. Nach diesem Wissen reflektieren und professionalisieren sie ihre berufliche Praxis vor allem dort, wo die strukturellen Rahmenbedingungen dies ermöglichen. Häufig ist jedoch der Handlungsspiel-raum von Agenten und Verantwortlichen derart eingeschränkt, dass Verbesse-rungsansätze scheitern. Hier hat die Wissenschaft die Aufgabe, Optimierungs-prozesse, auch über die individuellen Handlungsspielräume von Einzelpersonen hinaus, zu legitimieren und zu unterstützen und dies theoretisch und empirisch zu untermauern. Dies ist langfristig das Hauptziel der Auseinandersetzung mit dem Forschungsfeld: Es gilt Strukturen, Bedingungen sowie Ausbildungs- und Qualitätsstandards datenbasiert zu prüfen, zu validieren, alternative Konzepte zu entwickeln, diese theoretisch und empirisch zu begründen und schließlich

um-zusetzen. Die von Holtgrewe (ebd.) ebenfalls genannten Aufgaben der Überset-zungsarbeit, Verallgemeinerungs- und Legitimationshilfe stellen Teilaspekte in diesem Forschungsprozess dar.

Über dieses grundlegende Ziel hinaus werden konkrete Forschungsziele formu-liert. Sie decken sich in Teilen nicht nur mit grundsätzlichen Bedarfen der Bran-che, sondern sind in einem rhetorisch-ethischen Sinn auch von gesellschaftli-chem Interesse. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung ergeben sich für das Fach die folgenden programmatischen Ziele mit den jeweils dazugehörigen Teilzielsetzungen (vgl. dazu auch Hirschfeld/Neuber 2011, 9):

x Optimierung der Kundenkommunikation

- Grundlagenforschung zu phonetischen, rhetorischen und linguistischen Merkmalen und Besonderheiten der mündlichen Kommunikation in Call-centern,

- Beschreibung der kommunikativen Auswirkungen von Standardisierung, Automatisierung und Technisierung auf die Gesprächsqualität,

- Identifikation und Beschreibung wiederkehrender struktureller und indi-vidueller Probleme der Gesprächsführung und der Ursachen für Kommu-nikationsstörungen an der Schnittstelle zwischen Auftraggebern und Kun-den,

- Ermittlung und Validierung von Merkmalen zur Qualitätserkennung für unterschiedliche Gesprächstypen,

- Überprüfung etablierter Qualitätsstandards sowie Entwicklung und Im-plementierung wissenschaftlich basierter Standards,

- Aufwertung und rhetorisch-ethische Begründung und Konzeption der Kundenkommunikation.

x Optimierung der beruflichen Ausbildung

- Analyse der Tätigkeitsfelder und der strukturellen Bedingungen der Kommunikationsarbeit,

- Analyse des Kompetenzbedarfs für die Kommunikationsarbeit als Kun-denbetreuer,

- Ableitung individueller und struktureller Gelingensbedingungen, - Ableitung von Ausbildungs- und Qualifizierungsbedarfen,

- Ermittlung von Auswahlkriterien und Optimierung von Auswahlverfah-ren,

- Entwicklung und Unterbreitung fundierter Konzepte zur Verbesserung rhetorischer, sprachlicher, sprecherischer und stimmlicher Kompetenzen, - Aufwertung der Ausbildung und des Berufsbildes des Callcenteragents.

Eng verbunden mit diesen programmatischen Zielsetzungen sind die Schwer-punkte der bisher geleisteten Forschungsarbeit. Bevor die zentralen Forschungs-schwerpunkte und Ergebnisse mit Bezug auf die jeweiligen Kooperationen überblicksartig dargestellt werden, sollen die Methoden skizziert werden, auf denen die Forschungsarbeit im Wesentlichen aufbaut.

Im Dokument Frank & Timme (Seite 138-144)