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EXKURS: Diagnostik in der Logopädie nach Cécile Schwarz

2.3 Diagnosen

2.3.2 EXKURS: Diagnostik in der Logopädie nach Cécile Schwarz

2.3.2.1 Systematik nach Schwarz

Cécile Schwarz (1985) unterscheidet folgende Leistungsstörungen des Sprechvermögens:

„Störungen der Lautbildung - Dyslalie bzw. Alalie Störungen des Wortgebrauchs - Dysnomie bzw. Anomie Störungen des Satzgebrauchs - Dysphrasie bzw. Aphrasie Störungen des Redeflusses - Dysfluenz

Störungen des Sprechtempos - Dysagogie Störungen der Sprachakzentuierung - Dysprosodie

Störungen der Stimmbildung - Dysphonie bzw. Aphonie“

(Schwarz, 1985, S. 254)

Im Folgenden werden die Störungen des Sprechtempos und die Störungen der Sprachak-zentuierung nicht weiter betrachtet. Zum einen, weil diese Diagnosen in den Akten nicht vor-kommen, zum anderen, weil es sich um Störungen handelt, die im Zusammenhang mit Kin-dern, die an einer Sprachheilschule beschult werden, weniger im Fokus stehen, oder weil diese Störungen bei Kindern mit starken Hörproblemen30 und in der Nachsorge nach einer Cochlea Implantat Operation auftreten können.

Dass die Begriffe und die Definitionen logopädischer Diagnosen und der oben genannten Leistungsstörungen nicht einheitlich sind, räumt auch Schwarz ein: „Die Ausdrücke Dyslalie und Alalie, Dysnomie und Anomie, Dysphrasie und Aphrasie, Dysprosodie und Aphonie sind allgemein bekannt, werden aber in der Fachliteratur in sehr unterschiedlicher Bedeutung und in nicht konsequenter Weise verwendet“ (Schwarz, 1985, S. 254).

29 Logopädische Diagnosen sollten im Idealfall auch Hinweise für die Therapiegestaltung und Thera-pieschwerpunkte geben (vgl. Schrey_Dern, 2006, S. 29). Dieser Bereich, wie auch die Frage nach den möglichen Ursachen sprachlicher Störungen (sofern sie sich nicht direkt aus der Aktenlage und der Auswertung der Daten ergeben), wird in der vorliegenden Arbeit ausgeblendet.

30 In der Aktenuntersuchung wurden die Daten der Sprachheilklassen untersucht, die Akten der Ge-hörlosenklassen wurden nicht erfasst.

2.3.2.2 Modell nach Schwarz

Der Systematik nach Schwarz ist ein mehrdimensionales komplexes Modell unterlegt, das die oben genannten Leistungsstörungen weiter differenziert und für die anamnestische Ab-klärung konzipiert wurde. Es wird ein Diagnoseraster verwendet, das es erlaubt, die jeweilige Störung in Bezug auf die vermutete Ursache und im Hinblick auf mitverursachende Begleit-erscheinungen differenziert zu erfassen. Die Komplexität des Modells setzt allerdings voraus, dass die Person, die die Abklärung vornimmt, genauestens mit dem Modell vertraut ist, die einzelnen Parameter gut kennt und entsprechende Erfahrungen damit gesammelt hat. Im vorliegenden Rahmen kann das Modell nur oberflächlich vorgestellt werden. Es wird ver-sucht, die entsprechenden diagnostischen Begrifflichkeiten im Rahmen der Aktenerfassung abzubilden und in Anlehnung an Schwarz definitorisch festzulegen.

A 1. Raster

Abbildung 5: Raster nach Schwarz (Schwarz 1985, S. 131)

Aufgabe des Rasters ist es, die möglichen Ursachen von Störungen mit zu erfassen. Die einzelnen Felder sind mit spezifischen Attributen verknüpft, die der jeweiligen Leistungsstö-rung vorangestellt werden.

2.3.2.3 Die Bedeutung der einzelnen Felder

Durch die Ursachenzuordnung wird die Leistungsstörung weiter differenziert und erlaubt eine spätere Zuordnung zu entsprechenden Therapieinhalten und Interventionen.

Vereinfacht und verkürzt dargestellt beziehen sich die Felder I und II auf die auditive Wahr-nehmung, W31 auf die auditive Gedächtnisleistung, D auf die Informationsverarbeitung und die Bildung sprachlicher Konzepte, B, III und IV auf die Sprachproduktion im engeren Sinne.

Die Unterdifferenzierung der Leistungsstörungen war in der vorliegenden Akten-Erfassung nicht möglich, aus diesem Grund werden im Folgenden nur die Felder näher betrachtet, die auch in der Aktenerfassung berücksichtigt wurden.

Schwarz ordnet den einzelnen Feldern Bezeichnungen zu, die die Leistungsstörung weiter differenzieren:

„bei Ursache in Feld I: das Attribut peripher-audiogen bei Ursache in Feld II: das Attribut zentral-audiogen

bei Ursache in Feld W: das Attribut phonematisch-mnestisch bei Ursache in Feld D[a)]: das Attribut dyslogisch

bei Ursache in Feld D [b)]: das Attribut mnestisch-assoziativ bei Ursache in Feld B: das Attribut artikulatorisch-praxisch bei Ursache in Feld III: das Attribut zentral-motorisch bei Ursache in Feld IV [a.aa)] und [b.aa)]: das Attribut peripher-motorisch bei Ursache in Feld IV [a.bb)] und [b.bb)]: das Attribut peripher-organisch bei Ursache in Feld K-: das Attribut konditionsbedingt bei Ursache in Feld P-: das Attribut psychogen bei Ursache in Feld U-: das Attribut umweltbedingt“

(Schwarz, 1985, S. 255)

(Zentral-) audiogene Zusammenhänge wurden in der Aktenerfassung im Feld mitverursa-chende Behinderung unter dem Stichwort „zentral-auditive Wahrnehmung und Verarbeitung“

erfasst, hier subsummieren sich in der Aktenerfassung auch die Begriffe „phonematisch-mnestische Störung“ sowie „auditive Wahrnehmung“. Motorische Zusammenhänge wurden unter dem Stichwort „Sprechmotorik“ erfasst.

31 Schwarz (1985) verwendet hier die Abkürzung „W“, die für den „WERNICKEschen Organismus“

steht ([Grossschreibung im Original – Anm. d. Verf.] Schwarz, 1985, S. 40). Schwarz ging davon aus, dass sich im Wernickeschen Areal der Verarbeitungs- und Aufnahmeort für den phonetischen Input befindet (vgl. Schwarz, 1985, S. 40).

Die umgebenden Felder K, P und U können negative Zusammenhänge (z.B. K-) oder auch positive unterstützende Begleiterscheinungen abbilden (z.B. U+), ob negativ oder positiv wird durch das dem Buchstaben nachfolgende Zeichen (+/-) kodiert. Bei den nun folgenden Bei-spielen für die Felder K, P und U handelt es sich um eine Auswahl, die Beschreibungen von Schwarz sind hier weitaus umfangreicher.

Die Felder K, P und U sind außen, die anderen Felder umgebend, angeordnet. K bezieht sich auf die Kondition des Kindes. „Kondition wird hier verstanden im Sinne von «allgemeiner Verfassung«, »körperlicher Zustand«, »Allgemeinzustand« (AZ)“ (Schwarz, 1985, S. 113). Im positiven Sinne (K+) wird davon ausgegangen, dass das Kind gut ernährt ist, ein normales Schlafverhalten zeigt und körperlich gesund ist. Beispiele für negative konditionale Zusam-menhänge (K-) sind vegetative Störungen, Unterernährung, chronische oder schwere Krank-heiten, Körper- und Bewegungsbehinderungen (vgl. Schwarz, 1985, S. 116-117). In der Ak-tenerfassung wurde diese Ebene durch die Merkmale „POS ADS ADHS“ „Epilepsie“, sowie

„Hirnsymptomatiken“ in den Items „medizinische Probleme“ und „zusätzliche medizinische Probleme“ abgebildet.

Im Feld P werden psychische Faktoren berücksichtigt, „die die Entwicklung und die Funkti-onsweise der Hör-, Denk- und Sprach-Organismus negativ [oder positiv – Anm. der Verf.]

beeinflussen“ (Schwarz, 1985, S. 120). Dazu zählen im positiven Zusammenhang (P+) Lern-freude, Kontaktbedürfnis und Kontaktfähigkeit, ein eher unauffälliges Verhalten, normales Bewegungsverhalten und -bedürfnis und Sprechlust. Zusammenhänge, die die Sprachent-wicklung eher negativ beeinflussen sind Beziehungs- und Kontaktstörungen, Aufmerksam-keitsstörungen, Reizüberempfindlichkeiten, aber auch psychische Störungen, die durch in-trafamiliäre Spannungen und Schulprobleme ausgelöst werden können. (vgl. Schwarz, 1985, S. 121-123).

Die Codierung U ist für die Erfassung von Umweltprobleme vorgesehen und sieht im unter-stützenden positiven Sinne (U+) Faktoren wie gut sprechende Eltern und Geschwister, eine angemessene Erziehung, schulische und elterliche Förderung, konstante Bezugspersonen und Umgebungen und sprechmotorische Anregungen im Umfeld vor (vgl. Schwarz, 1985, S.

121-123). Negative Umweltbedingungen (U-) sind Verwahrlosung, mangelnde oder schlech-te sprachliche Vorbilder, schwerhörige oder gehörlose Elschlech-tern, Erziehungsfehler, abgelegene Wohnsituationen und wenig Außenkontakte.

Außerdem bietet das Modell die Möglichkeit für die Felder K-, P- und U- Kombinationen mit den Ursachenfeldern I, II, W, III IV, D und B zu bilden, dabei sind diese Felder dann durch Punkte gekennzeichnet. Es handelt sich in den meisten Fällen um mehrere mögliche

Ursa-chenfelder, die hier kombiniert werden können. Für die Darstellung der Störungsbilder sieht Schwarz außerdem noch weitere Codierungen vor, die das Auftreten der Störung in Abhän-gigkeit vom Alter (K= Kinder, E=Erwachsene), dem Geschlecht (J=Jüngling, M=Mädchen, F=Frauen) und in Kombinationen auch z.B. die Auftretenswahrscheinlichkeit beschreiben (z.B. (M)=kommt bei weiblichen Kindern kaum vor; das Codierungsmerkmal „( )“ steht für wenig bzw. kaum) (vgl. Schwarz, 1985, S. 257).

2.3.2.4 Weitere Besonderheiten des Rasters nach Schwarz

Mithilfe des Rasters sollen nicht nur relevante Zusammenhänge aufgezeigt werden, das Raster selbst impliziert Abläufe und festgelegte Reihenfolgen der Informationsaufnahme (I, II) und Informationsverarbeitung (W, D) und deckt den Bereich der Sprachproduktion genau-so ab, wie den der Sinneswahrnehmung und beteiligter motorischer Bereiche.

Die folgende Übersicht zeigt zum einen gewisse Richtungsabläufe wie z.B. die Wahrneh-mungsabfolge von I über II zum Feld W und den Sprachproduktionsprozess von der Konzep-tion (D) bis hin zu ArtikulaKonzep-tion auf, sie verdeutlicht andererseits aber auch die Einflussvariati-onen der umgebenden Felder K- P- und U-.

I und II sind die einzigen Felder, die davon nicht beeinflusst werden können. Sie enthalten die Attribute peripher-audiogen und zentral-audiogen. Es ist zu vermuten, dass Schwarz da-von ausging, dass Einschränkungen auf der auditiven Ebene durch keine anderen Bereiche beeinflusst werden, aber auch zentral und grundlegend für einen gelingenden Spracherwerb sind.

Abbildung 6: Raster Beeinflussungen nach Schwarz (Schwarz 1985, S. 131)

Das folgende Beispiel aus der Systematischen Logopädie von Cécile Schwarz zeigt die Komplexität des Modells am Beispiel einer Lautbildungsstörung.

Abbildung 7: Beispiel Lautbildungsstörung (Schwarz 1985, S. 259)

Interessant ist die Tatsache, dass D (der Bereich der Informationsverarbeitung) bei einer Störung der Lautbildung leer bleibt, also nicht relevant ist. Außerdem fallen die punktierten Kombinationsfelder auf, die erst zum Tragen kommen, wenn die umgebenden Felder K, P oder U auffällig sind und diese Felder negativ beeinflussen.

2.3.2.5 Zusammenfassung

Die Systematik nach Schwarz erlaubt es zwar, sehr individuelle Zusammenhänge zu erfas-sen, erweist sich aber aufgrund dieses hohen Individualitätsgrades als statistisch nicht aus-wertbar und wurde bei der Datenerfassung nur auf Ebene der Leistungsstörung und der vor-her schon beschriebenen zusätzlichen mitverursachenden und medizinischen Variablen be-rücksichtigt. Die Umgebungsvariablen wurden in weiteren Variablen erfasst, die - soweit sig-nifikant und sinnvoll - als Kovariaten in die LCA Berechnung mit einfließen.

2.3.3 Erläuterung und Vergleich der in der Aktenanalyse verwendeten