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2.3 Diagnosen

2.3.3 Erläuterung und Vergleich der in der Aktenanalyse verwendeten Diagnosen

2.3.3.4 Dyslexie

Schwarz (1985) verwendet den Begriff Dyslexie nicht als Oberkategorie, sondern spricht von Störungen des Lese- und Schreibvermögens und verwendet für die Störungen des Lesever-mögens den Begriff Dyslexie als Störung des LeseverLesever-mögens und Alexie als Unfähigkeit das Lesen zu lernen (vgl. Schwarz, 1985, S. 559). Dabei unterscheidet sie ursächlich zwei weite-re Untergruppen sowie die Kombination beider: Aufgrund von Störungen innerhalb des Hör-Denk-Sprechorganismus und aufgrund von Störungen innerhalb des Seh-Schreib-Organismus. Als separaten Bereich betrachtet sie Störungen des Schreibvermögens, die sie in die Begriffe Dysgraphie und Agraphie aufteilt. Analog zur Lesestörung handelt es sich hier entweder um eine Störung oder den totalen Ausfall der Schreiblernfähigkeit. Auch auf Ebene des Schreibens wird die oben erwähnte Differenzierung in Hör-Denk-Sprechorganismus und Seh-Schreib-Organismus vorgenommen. Den Begriff „Legasthenie“ führt Schwarz auf einer Liste der Sammelbegriffe zum Thema auf und setzt ihn mit Leseschwäche gleich (vgl.

Schwarz, 1985, S. 565 ff).

Wirth (1983) wendet sich einerseits dem Begriff Alexie zu, den er als durch Hirnschädigun-gen ausgelöste Schreib- (Agraphie) und Lesestörung definiert (vgl. Wirth, 1983, S. 292). Un-ter dem Begriff Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) fasst Wirth andererseits Störun-gen zusammen, die zum einen aufgrund einer konStörun-genitalen, erblichen Lese-Rechtschreib-Schwäche und zum anderen auf einer Lese-Rechtschreib-Schwäche im Erlernen des Lesens bei intakter und guter Intelligenz beruhen. Außerdem sieht er eine zweite Variante vor, die Legasthenie als multikonditionales Syndrom sieht und sprachlich-akustischen Schwierigkeiten eine große

Bedeutung zumisst (vgl. Wirth, 1983, S. 285ff). Im Zusammenhang mit dem Begriff Sprach-entwicklungsverzögerung zeigt Wirth auf, dass sich Lese-Rechtschreibschwächen in den ersten Schuljahren als Folge oder Teilsymptom einer Sprachentwicklungsverzögerung erge-ben können (vgl. Wirth, 1983, S. 135).

Braun (2006) geht auf den Begriff Dyslexie überhaupt nicht ein, auch die Begriffe Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Legasthenie finden sich nicht in seinem Werk.

Peuser & Winter (vgl. 2000, S. 58) nennen drei Definitionen für Dyslexie:

Als erstes als Synonym für „Alexie, bes. in angloamerikanischer Literatur, verdeutlicht als erworbene Dyslexie (engl. acquired dyslexia)“. Zweitens als leichte Form der Alexie und drittens als Synonym für Legasthenie, im amerikanischen Sprachraum im Sinne einer Ent-wicklungsdyslexie verwendet.

Ausführlicher ist bei Peuser & Winter (vgl. 2000, S. 128) die Beschreibung von Legasthenie, die die Autoren in 4 Unterbereiche aufteilen. Zum einen die angeborene (kongenitale) Wort-blindheit, die geschichtlich in Zeiten zurückreicht, in denen hauptsächlich Mediziner mit der Erforschung entsprechender Störungen beschäftigt waren. Hier ordnen die Autoren auch die Begrifflichkeiten Alexie und Agraphie zu, die durch eine Hirnverletzung beim erwachsenen Menschen verursacht werden können. Der zweite Bereich stellt Legasthenie als besondere Form der Lese-Rechtschreibstörung, bei der von einer normalen Schulleistung und einer in der Norm liegenden Intelligenz ausgegangen wird, in den Vordergrund. „Hierbei wurde an-genommen, dass sich diese Lese-Rechtschreib-Schwäche durch spezifische Fehler (Re-versionen) manifestiere und als primäre Schwäche von so genannten sekundären Lese-Rechtschreibstörungen unterscheiden lasse, welche durch konstitutive Mängel, ungünstige Umweltbedingungen, Entwicklungsrückstände etc. bedingt seien“ (Peuser & Winter, 2000, S.

129). Im dritten Bereich wird der Begriff Legasthenie weiter differenziert und als Sammelbe-griff für alle Formen von Lese-Rechtschreib-Schwäche verwendet, die bei Kindern auftreten, die neben einer normalen Intelligenzleistung durchschnittliche Schul- und Rechenleistungen zeigen. Im vierten Bereich wird die Tatsache thematisiert, dass der Begriff heute für jegliche Störungen im Bereich des Lesens und Schreibens verwendet wird.

Grohnfeldt (1999) geht nur punktuell auf den Begriff Legasthenie ein, verweist aber auf eine Untersuchung von Weuffen (1980). „Ihre Untersuchungen zur Beziehung von Laut- und Schriftsprache stützen die in der Literatur häufig genannten Belege, dass aufgrund von Stö-rungen der phonematischen Differenzierung nicht nur sprachliche RetardieStö-rungen, sondern in Verbindung damit auch Symptome einer Legasthenie auftreten können“ (Grohnfeldt, 1999,

S.81). Davon ausgenommen, klammert Grohnfeldt (1999) die weitere Betrachtung der Le-gasthenie und verwandter Begriffe begründet aus.

Franke (2004) verwendet Dyslexie als Synonym für Legasthenie. Die im vorliegenden Zu-sammenhang den Schwerpunkt bildende angeborene Dyslexie definiert sie wie folgt: „(2) Angeborene D. Stör. im Erlernen des Lesens; die Wörter können nicht global aufgenommen, die Buchstaben nicht zusammengesetzt werden, bzw. Wörter in Laute nicht zerlegt wer-den(Amerisie). Laute werden ausgelassen, hinzugefügt, umgestellt, ähnlich wie bei Le-gasthenie). Oft auftretend mit Sprach- u. Sprachentwicklungsstörungen“ ([Abkürzungen im Originaltext - Anm. der Verf.] (Franke, 2004, S. 66). Legasthenie definiert Franke als „spezi-elle Stör. der Beziehung zw. geschriebenem od. gedrucktem u. dem ausgesprochenen u.

erkannten Wort“ [Abkürzungen im Originaltext - Anm. der Verf.] (Franke, 2004, S. 133).

Mit Fragen rund um Störungen des Schriftspracherwerbs setzt sich Osburg (vgl. 2009a, S.

123f) auseinander, im Besonderen auch mit der Frage, welche Zusammenhänge zwischen Sprachentwicklungsstörungen und Problemen beim Schriftspracherwerb bestehen. Außer-dem weist sie darauf hin, dass im Schriftspracherwerb auch eine Chance besteht, vorhande-ne sprachliche Defizite zu verbessern. „Festgehalten werden kann, dass Sprachentwick-lungsstörungen sich einerseits durchaus als behindernde Bedingung darstellen können. An-dererseits können in der Auseinandersetzung mit der geschriebenen Sprache sprachliche Fähigkeiten allgemein (und konkret Fähigkeiten im Bereich der gesprochenen Sprache) ge-fördert werden“ (Osburg, 2009a, S. 131). Zusammenhänge mit Sprachentwicklungsstörun-gen sind für Osburg nur scheinbar: „Die Zusammenhänge sind wesentlich komplexer, da es sich beim Schriftspracherwerb um eine sprachliche Fähigkeit handelt – um eine Sprachhand-lung, eine kognitive Konstruktion, als Resultat biografischen Erkennens“ (S. 131). Biografi-sche Zusammenhänge verdeutlicht Osburg mit entsprechenden Praxisbeispielen, die plau-sible Erklärungen für Lernrückschritte und Verschlechterungen in den Verschriftungen von Kindern liefern. Phonologische Bewusstheit als notwendige Grundvoraussetzung für den Schriftspracherwerb stellt sie zum Teil in Frage, da sich diese erst mit der Beherrschung der Schrift und als Ergebnis der Auseinandersetzung mit ihr ergibt (vgl. Osburg, 2009a, S. 133).

Im Gegensatz zu einigen anderen AutorInnen zeigt Osburg auch auf, dass es sich bei Prob-lemen beim Schriftspracherwerb auch um eine Lehr-Lernstörung handeln könnte, stellt also die Rolle der Lehrerin / des Lehrers und die Frage der Fachdidaktik mit in den Vordergrund.

Diese Aspekte werden, weil sie in den Akten nicht ersichtlich sind und in der Aktenanalyse nicht erfasst wurden, nicht weiter berücksichtigt.

Klicpera, Schabmann und Gastein-Klicpera setzen sich mit dem Begriff phonologische Be-wusstheit auseinander, wenn sie über Vorläuferfähigkeiten des Schriftspracherwerbs spre-chen und meinen damit die „[…] Fähigkeit, die einzelnen Segmente der Sprache zu erken-nen und wahrzunehmen“ (Klicpera et. al, 2007, S. 20). Phonologische Bewusstheit setzt sich aus mehreren Teilfertigkeiten zusammen, von denen einige schon vor dem Schulunterricht erworben wurden, andere sich erst zusammen mit dem Erlernen der Schriftsprache ausbil-den (vgl. Klicpera et. al, 2007, S. 22). Zudem unterscheiausbil-den die Autoren verschieausbil-dene For-men von Lese- und Schreibschwierigkeiten (vgl. S. 149 ff). Diese Differenzierung ist ange-sichts der Aktenlage jedoch hier nicht weiter interessant, ebenso die Frage, welche Ursa-chen Legasthenie haben kann (vgl. S. 160ff). Für die Interpretation der Akten sind folgende Erkenntnisse von Belang: „Es ist ein konsistentes Ergebnis bisheriger Untersuchungen, dass die Geschwisteranzahl negativ mit der Lese-und Schreibfähigkeit korreliert. Dieser Zusam-menhang wird deutlich bei Familien mit drei und mehr Kindern. Je später die Kinder in der Geschwisterreihenfolge geboren wurden, desto häufiger sind sie von Lese- und Recht-schreibschwierigkeiten betroffen“ (Klicpera et.al. 2007, S. 186). Neben diesen familiären Zu-sammenhängen erwähnen die Autoren auch die konkreten Lebensbedingungen der Familie, die Infrastruktur und die Qualität der Eltern-Kind-Interaktion38 (vgl. S. 187). Faktoren, die den Verlauf negativ beeinflussen können, sind Störungen, die sich als direkte Folge der Legas-thenie ergeben. Dies können Verhaltensauffälligkeiten, Störungen des Selbstbildes und eine geringe Selbstwirksamkeit sein (vgl. S. 193).

Über den Verlauf einer Dyslexie schreibt Schulte-Körner: “Die Lese-Rechtschreibstörung bleibt überwiegend bis in Erwachsenenalter bestehen […]. Jugendliche mit einer LRS errei-chen ein im Verhältnis zu ihren kognitiven Möglichkeiten zu geringes Schulabschlussniveau“

(Schulte-Körner, 2004, S. 71). Aus diesem Grund ist eine gelingende Therapie notwendige Voraussetzung dafür, dass die betroffenen Kinder auch in ihrem weiteren Bildungsweg nicht eingeschränkt werden. Auch wenn Prognosen bezüglich der Wirksamkeit und der Therapier-barkeit von LRS eher negativ ausfallen. „Trotz optimaler Förderung verbessern sich recht-schreibschwache Fünftklässler bis ins Erwachsenenalter nur unwesentlich“ (Schulte-Körner, 2004, S. 71).

Mit der Frage nach dem Gebrauch welcher Begriffe im Zusammenhang mit Dyslexien setzt sich Renate Valtin unter dem Titel „Das Konstrukt Legasthenie – Wem schadet es? Wem nützt es?“ auseinander. Sie zieht Lese-Rechtschreib-Schwäche dem medizinisch geprägten

38 Eine Betrachtung der Familienkonstellation, der Geschwister und der sozio-ökönomischen Lage der Familien findet sich in Kapitel 4

Begriff Legasthenie vor, auch weil bestimmte Ausschlußkriterien und Vorannahmen, die mit Legasthenie verbunden sind, ihrer Meinung nach diagnostisch nicht sinnvoll und wissen-schaftlich nicht haltbar sind. „Obwohl alle Annahmen des »klassischen« kausalen Legasthe-nie-Konzepts als falsifiziert gelten (vgl. auch Bühler-Niederberger, 1991), finden sich inner-halb des medizinischen Ansatzes immer noch Anhänger dieses Konzeptes, die gegenwärtig in der Öffentlichkeit viel Resonanz finden. Sie definieren Legasthenie als spezielle Lese-Rechtschreib-Störungen bei intelligenten Kindern und betrachten angeborene bzw. ererbte Defekte des Kindes (»Teilleistungsstörungen«) als Ursache der Legasthenie“ (Valtin, 2004, S. 57). Somit werden Kinder, die über diese Teilleistungsstörungen ausgeschlossen werden, nicht nur von der Diagnose, sondern in der Folge auch von spezifischen therapeutischen Interventionen ausgeschlossen. „Dieses Konstrukt ist therapeutisch nicht brauchbar, denn die so definierten Legastheniker brauchen keine anderen Therapiemaßnahmen als andere Kinder mit LRS“ (Valtin, 2004, S. 59).

Fazit:

Der Begriff Dyslexie ist dem Begriff Legasthenie39 vorzuziehen, weil er ohne die Einschrän-kung „normale Intelligenz und Schulleistung“ auskommt. Im vorliegenden Zusammenhang ist auch der Hinweis auf eine Vulnerabilität bezüglich Lese-Rechtschreib-Problematiken im Zu-sammenhang mit frühkindlichen Sprachstörungen wichtig, ebenso die Annahme, dass es genetische Dispositionen gibt und die Störung schwer zu therapieren ist.