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2.3 Diagnosen

2.3.3 Erläuterung und Vergleich der in der Aktenanalyse verwendeten Diagnosen

2.3.3.1 Dysgrammatismus

Schwarz (1985) spricht nicht von Dysgrammatismus sondern von Dysphrasie, der Störung des Satzgebrauchs. Diese kann sich auf den Satzgebrauch, die grammatikalischen Regeln bzw. deren fehlerhafte Verwendung, und den Sinnzusammenhang beziehen, so dass „[…]

die Aussage des Sprechers über ein Etwas nicht mühelos, nicht eindeutig, schwer oder kaum verstehbar ist“ (Schwarz, 1985, S. 350). Von einer Aphrasie spricht Schwarz, wenn die Aussage des Sprechers aufgrund fehlerhafter oder gänzlich fehlender Syntax und Nicht-Einhaltung grammatischer Regeln vollständig unverständlich ist, oder der Sprecher über-haupt keine Sätze verwendet.

Nachdem Schwarz das Störungsbild Dysphrasie genauer beschrieben hat, stellt sie folgen-des fest: „In Anlehnung an diese Definition werden in der vorliegenden Arbeit zur Bezeich-nung von Störungen des Satzgebrauchs die neuen Begriffe Dysphrasie und Aphrasie anstel-le des allgemein gebräuchlichen Begriffes Dysgrammatismus verwendet, der ausschliesslich Störungen der Satzkonzeption […] umfasst“ (Schwarz, 1985, S. 254).

Wirth (1983)32 definiert Dysgrammatismus als „Störung des morphologisch-syntaktischen Systems (unvollständiger Satzbau)“ (S. 127) bzw. als „Störung der Verknüpfung der syntakti-schen Ebene mit der semantisyntakti-schen Ebene [...]“ (S. 145) und verwendet somit schon im Jahr 1983 eine Nomenklatur, die heute im Zusammenhang linguistisch orientierter Diagnosen gebraucht wird. Wirth ordnet Dysgrammatismus als eines der Leitsymptome für die patholo-gische Form der verzögerten Sprachentwicklung ein (vgl. Wirth, 1983, S. 135).

32 Mittlerweile liegt das Werk von Wirth in der 5. Auflage (erschienen 2005) vor. Aus Gründen der His-torizität wird die alte Auflage aus dem Jahr 1983 verwendet.

Von eher linguistischer Seite her betrachtet, definiert Franke (2004) Dysgrammatismus als eine Störung der Fähigkeit „sich sprachl. durch deklinatorisch u. konjugatorisch richtig ge-brauchte Wörter auszudrücken infolge mot., sensor. u./od. kognitiver Stör.“ [Abkürzungen im Originaltext - Anm. der Verf.] (Franke 2004, S. 64). Bei der Definition von Franke liegt ein deutlicher Schwerpunkt im Wortgebrauch, während grammatikalische Regeln und Syntax doch über Konjugation und Deklination als Teile dieses Regelsystems hinausgehen. Dys-phrasie definiert Franke als Störung „des Ausdrucks von Gedanken in Folge von Psychosen“

(Franke, 2004, S. 69). Es wird deutlich, dass hier die Definitionen weit auseinander gehen.

Motsch (vgl. 1981, S. 49) spricht von verzögerter Sprachentwicklung und subsumiert hier das Leitsymptom Dysgrammatismus, liefert aber keine weiteren Beschreibungen der Symptoma-tik. In seiner Abhandlung über grammatische Störungen aus dem Jahr 2009 ordnet Motsch diese „[…] als Teilaspekt einer Spracherwerbsstörung in Abhängigkeit zu den anderen be-troffenen Sprachebenen, insbesondere zu der semantisch-lexikalischen und phonetisch-phonologischen Ebene“ (Motsch, 2009b, S. 163) ein. Er weist aber auch darauf hin, dass der historisch ältere Begriff des „kindlichen Dysgrammatismus“ nicht mehr verwendet werden sollte, weil er auf der Annahme basiert, dass es sich hier um eine isolierte Störung handelt, die jedoch heute als Teilsymptom einer weitergehenden Symptomatik wie SSES33 zu sehen ist. Gleichzeitig vertritt er die Meinung, dass bei grammatischen Störungen eine „ideographi-sche einzelfallorientierte Betrachtungsweise“ (Motsch, 2009b, S. 163) der angemessenste Zugang ist (vgl. Motsch, 2009b, S. 163).

Entwicklungsdysgrammatismus wird von Peuser & Winter (2000) als Synonym für Dys-grammatismus angeführt, der Sprachentwicklungsstörung untergeordnet und wie folgt defi-niert. „Sprachentwicklungsstörung im morphologischen und syntaktischen Bereich bei ab-weichendem Spracherwerb, entspricht hinsichtlich des Satzbaus dem Telegrammstil der Broca- Aphasie. Zur Diagnostik dient u.a. die Profilanalyse. Synonym gebraucht wird auch die allgemeine Bezeichnung Entwicklungsdysphasie. Syn. Dysgrammatismus (2), spe-zifische Sprachentwicklungsstörung (GRIMM, DANNENBAUER), Entwicklungsdysphasie (GRIMM DANNENBAUER) Dysgrammatismustherapie“ [Großschreibung im Originaltext - Anm. der Verf.] (Peuser & Winter, 2000, S. 56). Hier wird deutlich dass die Trennlinie zwi-schen Entwicklungsdysgrammatismus und Entwicklungsdysphasie nicht klar zu ziehen ist.

Braun (2006) sieht Dysgrammatismus als Störung des grammatischen Sprachgebrauchs und Erwerbs, Ursache ist eine beeinträchtigte Fähigkeit; das Regelwerk der Muttersprache zu

33 SSES = spezifische Sprachentwicklungsstörung

erwerben, aufzubauen und anzuwenden. Er weist auch darauf hin, dass Dysgrammatismus selten isoliert, sondern häufig in Kombination mit weiteren Störungen wie Dyslalie und Dys-phasie (im Sinne von semantisch-lexikalischen Störungen), auftritt. Er differenziert hier weiter und spricht von einem Entwicklungsdysgrammatismus, der eine spezifische Form der Ent-wicklungsdysphasie darstellt (vgl. Braun, 2006, S. 195). Auch hier ist die Kombination meh-rerer Diagnosen/Störungen/Symptombildern gerade bei frühkindlichen Störungen ersichtlich.

Grohnfeldt (1999) beschreibt Entwicklungsdysgrammatismus wie folgt: Störungen im Bereich der Syntax und Morphologie, Störungen im Entwicklungsverlauf der einzelnen Sprachebe-nen, Störungen der Grammatik im Zusammenhang mit kognitiven Funktionsschwächen, die z.B. die auditive Verarbeitung, Rhythmus- und Zeitverarbeitung, Gedächtniskapazität und Problemlösefähigkeit betreffen (vgl. 1999, S. 72). Im Lexikon der Sprachtherapie (Grohnfeldt, 2007) erklärt er den Begriff in einem traditionellen Zusammenhang (Entwicklungsdysgram-matismus) als Störung bei Kindern beim Erwerb und Gebrauch von Strukturen und Regeln (vgl. Grohnfeldt, 2007, S. 93). Er räumt ein, dass die Verwendung und Definition des Begrif-fes mit einigen Unklarheiten verbunden ist. „Es ist vielmehr davon auszugehen, dass Dys-grammatismus stets einen zeitweise besonders hervorstechenden Symptombereich im Merkmalskomplex einer umfassenden Sprachentwicklungsstörung bezeichnet (‚Leitsymp-tom‘; spezifische Sprachentwicklungsstörung). Dysgrammatismus eignet sich somit nur als Deskriptionsbegriff und nicht als Explikations- oder Klassifikationsbegriff“ (Grohnfeldt, 2007, S. 93).

Grimm (1999) weist unter der Überschrift „Vielfalt der Benennungen“ (S. 103) auch darauf hin, dass die Bezeichnungen nicht klar und ihre Verwendung nicht eindeutig ist. Sie postu-liert, dass die Begriffe Sprachentwicklungsstörung, Sprachentwicklungsbehinderung und Dysgrammatismus im deutschen Sprachraum gleichbedeutend verwendet werden, sie selbst spricht in ihren Veröffentlichungen von Entwicklungsdysphasie. Dysgrammatismus sollte ihr folgend nur im Zusammenhang mit einer klaren abgegrenzten Störung der Grammatik ver-wendet werden. „Der Begriff des Dysgrammatismus sollte demgegenüber für solche Kinder reserviert bleiben, die, wie schon der Name besagt, eine von anderen kognitiven Bereichen vollständig isolierte Störung der Grammatik aufweisen“ (Grimm, 1999, S. 103).

Dannenbauer (2009b) erwähnt Dysgrammatismus als eines der Symptome der spezifischen Sprachentwicklungsstörungen (SSES) und beschreibt die Störung wie folgt: „Mit wachsender Verständlichkeit treten im Vorschulalter morphologische und syntaktische Defizite immer deutlicher in Erscheinung. Diese betreffen manche Aspekte der Grammatik stärker als ande-re. Besonders nachhaltig ist z.B. der Erwerb von Verbzweitstellung und Kongruenz

beein-trächtigt. Zunehmend ergibt sich das Bild eines ‚unausbalancierten‘ Retardierungsmusters, das hierzulande als Dysgrammatismus bezeichnet wird.“ (2009b, S. 106). Er weist außerdem darauf hin, dass grammatische Störungen bei SSES über Jahre als deutlichstes Symptom dominieren können.

Fazit:

Alle Autoren (mit Ausnahme von Franke, 2004) weisen darauf hin, dass Dysgrammatismus im Zusammenhang mit anderen Störungen und Symptomen im Rahmen einer übergreifen-den Störung auf Ebene der Sprachentwicklung zu sehen ist. Im vorliegenübergreifen-den Zusammen-hang wird der Begriff im Sinne von Schwarz und in Anlehnung an Grimm verwendet, aller-dings in einer weiten Definition, die morphologisch-syntaktische Störungen und Dysphasien im Sinne von Schwarz subsumiert und sich auf die Struktur und die Regeln der Sprache be-zieht.