4 Beschreibung der regionalen
4.3 Erklärung der regionalen Ausgabenvariation
In den beiden vorigen Abschnitten 4.1 und 4.2 wurde gezeigt, dass der Morbi‐RSA in der Lage ist, einen Teil der regionalen Variation der GKV‐Ausgaben zu erklären und auf diese Weise die regional unterschiedlichen Ausgabenrisiken der Kranken‐
kassen auch ohne Berücksichtigung raumbezogener Risikofak‐
toren partiell auszugleichen. Im Folgenden wird es darum ge‐
hen, den Anteil der durch den Morbi‐RSA erklärten Ausgaben‐
varianz zu quantifizieren und das Ergebnis ins Verhältnis zu den Ausgleichsmodellen der Vergangenheit zu setzen. Zu diesem Zweck erfolgt – auf einer einheitlichen Datenbasis (KM2015/EM2016) – ein Vergleich des Status‐quo‐Modells mit einer Simulation des Alt‐RSA. Unter Heranziehung älterer Aus‐
wertungen des BVA können darüber hinaus Aussagen zum Morbi‐RSA‐Verfahren in weiter zurückliegenden Jahren getrof‐
fen werden: Bereits für die Ausgleichsjahre 2009 und 2010 ha‐
ben die Krankenkassen zum Zwecke der Durchführung der so‐
genannte Konvergenzklausel (§ 272 SGB V a.F.) die Wohnorte der Versicherten auf Ebene der Landkreise und der kreisfreien Städte erhoben und an das BVA übermittelt. Somit konnten bereits damals die Wohnorte der Versicherten mit deren Leis‐
tungsausgaben bzw. den versichertenindividuell ermittelten Zuweisungen verknüpft werden. Weil die Meldung der Leis‐
tungsausgaben für die Jahresausgleiche 2009 und 2010 aller‐
dings für eine GKV‐Stichprobe erfolgte, war eine Regionalisie‐
rung der Ausgaben für lediglich rund sieben Prozent der Versi‐
cherten möglich. Für den Jahresausgleich 2011 wurde dem BVA dagegen erstmals eine Vollerhebung der Leistungsausgaben zur Verfügung gestellt, die (aufgrund des Auslaufens der Konver‐
genzklausel nur einmalig) eine Verknüpfung mit dem (letztmals für das Jahr 2010 erhobenen) Wohnortmerkmal aller Versicher‐
ten zuließ.
Betrachtungsgegenstand der folgenden Auswertung sind die tatsächlichen (rohen) Ausgaben auf Ebene der Kreise und kreis‐
freien Städte, die jeweils mit den durch die verschiedenen RSA‐
Modelle erklärten Ausgaben verglichen werden. Hierzu wird auf (indirekt) standardisierte Leistungsausgaben abgestellt.
Diese ergeben sich rechnerisch aus einer Addition der GKV‐
Durchschnittsausgaben je Versichertenjahr und der nach RSA in der Region verbleibenden Deckungsbeiträge – ebenfalls je Ver‐
sichertenjahr (vgl. Göpffarth 2011, S. 22 und Göpffarth 2013, S. 32).
Die Simulation des Alt‐RSA‐Verfahrens erfolgt mittels einer Re‐
gressionsrechnung mit den bis zum Jahr 2008 geltenden Aus‐
gleichsmerkmalen, allerdings auf Grundlage der aktuell vorlie‐
genden Versichertendaten.
Die für die Morbi‐RSA‐Ausgleichsjahre 2009, 2010 und 2011 verfügbaren Werte beruhen dagegen auf älteren Datengrund‐
lagen – mit jeweils unterschiedlichem Ausgabenniveau. Daher muss für diese Jahre vor einem Vergleich mit den übrigen Mo‐
dellen jeweils eine Hochrechnung auf das Ausgabenniveau des Jahres 2016 vorgenommen werden. Außerdem müssen für die drei genannten Jahre zwischenzeitlich erfolgte Gebietsrefor‐
men berücksichtigt werden, um eine Vergleichbarkeit mit dem Status quo herstellen zu können. Dies erfolgt, indem aus den für die Jahre 2009, 2010 und 2011 ermittelten Deckungsbeiträ‐
gen (mittels der Versichertenzeiten gewichtete) Mittelwerte für die inzwischen neu entstandenen Kreise errechnet werden.
In Abbildung 4.8 wird zunächst die bestehende Variation der (rohen) Leistungsausgaben auf regionaler Ebene im Jahr 2016 dargestellt. Abweichend zur sonstigen Klassenbildung werden
hierbei – ausgehend vom Median der Ausgabenverteilung auf Kreisebene (etwa 2.660 € je Versichertenjahr) – sieben äqui‐
distante Ausgabengruppen abgegrenzt. Regionen mit beson‐
ders hohen Ausgaben (orange) liegen überwiegend im Osten Deutschlands, aber auch im Ruhrgebiet, in Teilen des Saarlan‐
des oder in Rheinland‐Pfalz vor. Besonders niedrige Leistungs‐
ausgaben (blau) zeigen sich dagegen in weiten Teilen Bayerns und Baden‐Württembergs, im Süden Hessens sowie im westli‐
chen Niedersachsen.
In Abbildung 4.9 werden den rohen Ausgaben aus Abbildung 4.8 standardisierte Werte gegenübergestellt. Zur Standardisie‐
rung werden mit Alter, Geschlecht, Erwerbsminderungsstatus und DMP‐Einschreibung diejenigen indirekten Morbiditätsindi‐
katoren herangezogen, die im Alt‐RSA‐Verfahren bis zum Jahr 2008 als Ausgleichsfaktoren verwendet worden sind. Hierbei zeigt sich, dass die regionale Variation der standardisierten Ausgaben deutlich geringer ausfällt als die der rohen Werte.
Große Teile der Ausgabenvariation zwischen den Kreisen kön‐
nen also durch die Unterschiede in der über Alter, Geschlecht, EM‐Status und DMP‐Einschreibung indirekt erfassten Morbidi‐
tät der dort wohnhaften Versicherten erklärt werden.
Abbildung 4.8: Variation der Leistungs‐
ausgaben (2016, roh)
Quelle: Auswertung BVA © GeoBasis‐DE/BKG
2018
Abbildung 4.9: Variation der Leistungs‐
ausgaben (Alt‐RSA, Daten: 2015/2016, standardisiert)
Quelle: Auswertung BVA © GeoBasis‐DE/BKG
2018
Abbildung 4.10: Variation der Leistungs‐
ausgaben (Modell: AJ2018, Daten:
2015/2016, standardisiert)
Quelle: Auswertung BVA © GeoBasis‐DE/BKG 2018
In Abbildung 4.10 wird die Situation im Status quo dargestellt, in dem auch die über Diagnosen und Arzneimittelverordnungen direkt erfasste Morbidität zur Standardisierung der Leistungs‐
ausgaben herangezogen wird. Augenscheinlich ergibt sich, dass
sich durch die Hinzunahme direkter Morbiditätsindikatoren der Anteil der durch den RSA erklärten Ausgabenvariation noch weiter erhöht hat.
Weitergehende Aussagen zur Erklärung der geographischen Ausgabenunterschiede durch das Ausgleichsverfahren in den verschiedenen Jahren lassen sich aus Tabelle 4.7 ableiten. Hier werden die regionalen Streu‐ und Lagemaße der rohen und der (durch verschiedene RSA‐Modelle) standardisierten Ausgaben‐
verteilungen einander gegenübergestellt. Es zeigt sich, dass sich die Spanne der durchschnittlichen Leistungsausgaben durch die Standardisierung mit den Alt‐RSA‐Faktoren von 1.180 € auf 752 € reduziert. Durch die Hinzunahme direkter Morbiditätsin‐
dikatoren des Morbi‐RSA sinkt dieser Wert im Status‐quo‐
Modell weiter ab (602 €). Auch der Interquartilsabstand der regionalen Verteilung nimmt durch die Standardisierung deut‐
lich ab (roh: 343 €; Alt‐RSA: 168 €; Status quo: 124 €).
Über die Entwicklung des Variationskoeffizienten lässt sich ab‐
schätzen, zu welchem Anteil die im RSA berücksichtigten Fakto‐
ren die regionale Ausgabenvariation auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte erklären können. Liegt der Variationskoeffi‐
zent der rohen Ausgaben im Jahr 2016 noch bei 0,086, sinkt der Wert bei Standardisierung über die Alt‐RSA‐Variablen auf 0,044 ab, was einem Rückgang um 48,4 % entspricht. Dieser Wert ist als der Anteil der regionalen Ausgabenvariation zu interpretie‐
ren, der sich durch die Ausgleichsgrößen des Alt‐RSA erklären lässt. Durch Hinzunahme der direkten Morbiditätsindikatoren des Morbi‐RSA sinkt der Variationskoeffizient noch weiter – auf 0,036 (im Status quo) – ab. Der Anteil der durch das gegenwär‐
tige RSA‐Modell erklärten Variation liegt bei 58,6 %.
Tabelle 4.7: Vergleich der regionalen Leistungsausgaben (Alt‐RSA, JA2009, JA2010, JA2011 und AJ2018, standardisiert) Ausgaben
2016
standardisierte Leistungsausgaben
Alt‐RSA JA2009*;** JA2010*;** JA2011** AJ2018
Minimum 2.226 € 2.286 € 2.352 € 2.318 € 2.388 € 2.320 €
1. Quartil 2.509 € 2.566 € 2.565 € 2.576 € 2.589 € 2.580 €
Median 2.657 € 2.646 € 2.643 € 2.642 € 2.647 € 2.646 €
3. Quartil 2.853 € 2.734 € 2.725 € 2.717 € 2.701 € 2.703 €
Maximum 3.407 € 3.038 € 3.395 € 3.738 € 2.919 € 2.921 €
Interquartilsabstand 343 € 168 € 161 € 141 € 112 € 124 €
Mittelwert 2.686 € 2.654 € 2.650 € 2.652 € 2.647 € 2.644 €
Standardabweichung 231 € 118 € 127 € 133 € 88 € 94 €
Variationskoeffizient 0,086 0,044 0,048 0,050 0,033 0,036
Durch RSA‐Faktoren erklärte Ausgabenvarianz 48,4% 44,1% 41,8% 61,5% 58,6%
Quelle: Auswertung BVA; *JA2009 und JA2010: Versichertenstichprobe; **JA2009, JA2010 und JA2011: Gebietsreformen mitberücksichtigt, keine Umstellung der
Diese Werte bestätigen Ergebnisse, die in der Vergangenheit auf Grundlage älterer GKV‐Daten errechnet worden sind (vgl.
Göpffarth 2013, S. 31f. und Göpffarth et al. 2016, S. 809).
Eine Sonderstellung in der Darstellung in Tabelle 4.7 nehmen die Statistiken zu den Jahresausgleichen 2009 und 2010 ein. Die Kennzahlen legen nahe, dass es in diesen Jahren im Vergleich zum Altverfahren zu einer temporären Zunahme der regionalen Ungleichheiten gekommen ist. Sowohl die Spanne als auch der Interquartilsabstand und der Variationskoeffizient nehmen im Vergleich zum Alt‐RSA zu. Der Grund hierfür ist allerdings nicht auf eine Verschlechterung des Ausgleichsverfahrens, sondern auf die für die Berechnung verwendete Datengrundlage zu‐
rückzuführen. Die standardisierten Leistungsausgaben je Regi‐
on wurden – im Gegensatz zu den übrigen Modellen – lediglich auf Basis einer rund sieben prozentigen Versichertenstichprobe ermittelt (s.o.), weshalb die Analysen zu diesen Jahren anfällig für Ausreißereffekte sind. Bereits in der Vergangenheit wurde darauf hingewiesen, dass die Umstellung auf eine Vollerhebung der Meldung der Leistungsausgaben sowohl Spanne als auch Varianz der regionalen Ausgabenunterschiede erheblich redu‐
ziert hat (vgl. Göpffarth 2013, S. 31). Die Werte der Ausgleichs‐
jahre 2009 und 2010 sind daher mit den Kennzahlen für die übrigen Modellvarianten nicht vergleichbar. Es ist anzunehmen, dass – wäre der Jahresausgleich 2009 auf den vorliegenden Daten simuliert worden – die regionale Varianzerklärung deut‐
lich höher ausgefallen wäre als dies auf Grundlage der Stich‐
probe den Anschein hat.
Auffällig ist jedoch, dass der Variationskoeffizient im Aus‐
gleichsjahr 2011 unterhalb des Wertes für das Modell 2018 liegt. Etwaige Stichprobeneffekte können für diesen Effekt aus‐
geschlossen werden, da die Auswertung für das betroffene Jahr auf einer GKV‐Vollerhebung beruht. Es ist somit zu konstatie‐
ren, dass der Jahresausgleich 2011 die (damals) vorliegende regionalen Ausgabenvariation etwas besser erklären konnte, als das gegenwärtige Modell dies für die aktuellen Ausgaben vermag; über die Gründe hierfür kann allerdings nur spekuliert werden. In Betracht kommt etwa eine Zunahme der regionalen Ausgabenvariation im Zeitverlauf, für die es konkrete Anzei‐
chen gibt: Ausgehend von Göpffarth (2013, S. 31), der für die rohen Ausgaben des Jahres 2011 einen Variationskoeffizienten von 8,12 % angibt, hat die Ausgabenvariation auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte bis zum Jahr 2016 um etwa sechs Prozent zugenommen. Die Ansprüche an die regionale Erklä‐
rungskraft des Modells sind somit im Zeitverlauf in gewisser Weise gestiegen. Zu berücksichtigen ist weiterhin, dass die Er‐
gebnisse für das Jahr 2011 auf eine Berechnung ohne Umstel‐
lung auf Pro‐Tag‐Werte zurückgehen. Diese seit dem Jahres‐
ausgleich 2013 eingeführte Änderung des Berechnungsverfah‐
rens zur Korrektur der sogenannten Verstorbenenproblematik (vgl. hierzu bspw. Drösler et al. 2011, S. 5 und LSG Nordrhein‐
Westfalen, Urteil v. 04.07.2013, Az.: L 16 KR774/12 KL) hat möglicherweise Auswirkungen auf die regionalen Verteilungs‐
wirkungen des RSA gehabt. Schließlich könnte der Anstieg des Variationskoeffizienten auf eine regional uneinheitliche Ent‐
wicklung in der Qualität der dokumentierten Diagnosen (zur
regionalen Variation der Kodierqualität vgl. bspw. Bauhoff et al.
2017; Göpffarth et al. 2016, S 813; Ozegowski 2013; Göpffarth 2011, S. 29 und darüber hinaus Abschnitt 3.3.2 Exkurs: Entwick‐
lung der Diagnosehäufigkeiten im Zeitverlauf oder auf zwisch‐
enzeitliche Änderungen des im RSA berücksichtigten Morbid‐
itätsspektrums bzw. die Weiterentwicklung des Klassifika‐
tionsmodells zurückzuführen sein.