4 Beschreibung der regionalen
5.3 Altersinteraktionsterme
Bei der Ausarbeitung des Sondergutachtens zu den Wirkungen des Morbi‐RSA hat sich der Wissenschaftliche Beirat mit der Frage auseinandergesetzt, wie sich die Ausgabeneffekte von Multimorbidität im Risikostrukturausgleich zielgenauer abbil‐
den lassen. Vor diesem Hintergrund wurde unter anderem die Ergänzung der RSA‐Ausgleichsformel um sogenante Interakti‐
onsterme untersucht (vgl. Drösler et al. 2017, S. 441ff.). Dies bedeutet, verkürzt dargestellt, dass die bereits im RSA‐Modell berücksichtigten Risikogruppen untereinander interagieren können, um so die konkreten versichertenindividuellen Folge‐
kosten besser abschätzen zu können. Das gilt zum Beispiel dann, wenn mehrere bestimmte Ko‐Morbiditäten vorliegen (HMG‐Interaktionen) oder aber wenn Morbiditäten Versicherte einer bestimmten Altersgruppe betreffen (Altersinteraktionen).
Liegen bei einem Versicherten gleichzeitig zwei unabhängige Risikomerkmale vor, so wird dies in der Regressionsrechnung (sowie bei der anschließenden Ermittlung der Zuweisungen)
durch ein zusätzliches Risikomerkmal – den Interaktionsterm – berücksichtigt. Auf diese Weise lässt sich eine differenziertere Klassifizierung der (Multi‐)Morbidität und damit einhergehend eine verbesserte Vorhersage krankheitsbedingter Folgekosten erreichen. Insbesondere die Einführung von altersspezifisch ausdifferenzierten Morbiditätszuschlägen erscheint nach den bisherigen empirischen Untersuchungen dazu geeignet, Selek‐
tionsanreize gegen bestimmte Versichertengruppen zu senken und zudem bestehende Deckungsdisparitäten zwischen den Krankenkassen zu reduzieren (vgl. Drösler et al. 2017, S. XXXV).
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, in welchem Aus‐
maß die Einführung einer solchen weiteren Altersdifferenzie‐
rung der Morbiditätsgruppen die Verteilung regionaler Über‐
und Unterdeckungen im Status quo beeinflusst.
5.3.1 Modellspezifikation
Das Klassifikationsmodell 2018 unterscheidet insgesamt 201 HMGs. Diese werden in der hier untersuchten Modellerweite‐
rung jeweils um eine sogenannte Kids‐HMG (KHMG) ergänzt, über die immer dann ein zusätzlicher Zuschlag ausgelöst wird, wenn ein von einer HMG betroffener Versicherter jünger als 18 Jahre ist. In diesem Fall erfolgt somit eine parallele Zuordnung zu einer HMG und zu einer KHMG. Analog hierzu wird eine Old‐
Aged‐HMG (OHMG) ausgelöst, wenn ein Versicherter mit einer Basis‐HMG ein Alter von über 65 Jahren aufweist. Versicherte im Alter zwischen 18 und 65 Jahren werden lediglich der Basis‐
HMG zugeordnet. Die vorliegende Untersuchung soll lediglich eine grobe Abschätzung auf die regionalen Auswirkungen der
Altersinteraktionsterme ermöglichen. Auf die Spezifikation von weiter ausdifferenzierten Modellvarianten, etwa mit der Be‐
rücksichtigung von sogenannten Restriktionen (vgl. Drösler et al. 2017, S. 443) wird an dieser Stelle verzichtet.
5.3.2 Ergebnisse
Ergebnisse auf Versichertenebene
Hinsichtlich der Ausgabenprädiktion auf Ebene der einzelnen Versicherten bestätigen sich die Ergebnisse des Sondergutach‐
tens (vgl. Drösler et al. 2017, S. 446). Die personenbezogenen Gütemaße R², CPM und MAPE zeigen sich im Vergleich zum gegenwärtigen Verfahren deutlich verbessert. Wie schon bei den Auswertungen für das Sondergutachten ergeben sich auch auf Grundlage der aktualisierten Datenbasis und des Klassifika‐
tionsmodells für das Ausgleichsjahr 2018 Anstiege des Be‐
stimmtheitsmaßes um rund 0,7 bzw. des CPM um etwa 0,2 Prozentpunkte, während der mittlere Vorhersagefehler um etwa fünf Euro abnimmt (vgl. Tabelle 5.14).
Tabelle 5.14: Altersinteraktionsterme: Kennzahlen auf Versi‐
chertenebene
Modell AJ2018 Altersinteraktionsterme
R² 25,84% 26,53%
adj. R² 25,84% 26,52%
CPM 24,13% 24,31%
MAPE 2.267,60 € 2.262,05 €
Quelle: Auswertung BVA
Ergebnisse auf Ebene der Versichertengruppen
Auch bei Betrachtung der Deckungsbeiträge einzelner Versi‐
chertengruppen werden die Resultate des Sondergutachtens (vgl. Drösler et al. 2017, S. 447) bestätigt. So zeigt sich erneut, dass die Altersinteraktionen zu einem Abbau von Überdeckun‐
gen bei gesunden Versicherten und zu einer Verringerung der durchschnittlichen Unterdeckung von Versicherten mit einer oder mehreren RSA‐Erkrankungen führen würden (vgl. Tabelle 5.15). Auch bei den meisten übrigen morbiditätsbezogen abge‐
grenzten Subgruppen käme es gegenüber dem Status quo zu einer Verringerung von Über‐ und Unterdeckungen. Lediglich bei der Gruppe der Versicherten, die (ausschließlich) an Krank‐
heiten leiden, die im gegenwärtigen RSA‐Verfahren nicht be‐
rücksichtigt werden, zeigt sich (wie schon bei Untersuchung des Modells im Sondergutachten) eine Verstärkung der durch‐
schnittlichen Ausgabenunterdeckung. Die mittlere Unterde‐
ckung dieser Versicherten würde von 117 € im Status quo auf etwa 147 € bei Einführung der Altersinteraktionsterme vergrö‐
ßert.
Tabelle 5.15: Altersinteraktionsterme: Deckungsbeiträge ausgewählter Versichertengruppen
Versichertengruppe Ausprägung Modell AJ2018 Altersinteraktionsterme
DB (Ø) DB (Ø)
Mindestens eine Verordnung (2015)
Nein 286 € 274 €
Ja ‐85 € ‐81 €
Über 20 Verordnungen (2015) Nein 150 € 147 €
Ja ‐1.006 € ‐986 €
Mindestens eine ambulante Diag‐
nose (2015)
Nein 311 € 299 €
Ja ‐31 € ‐30 €
Mindestens eine Hospitalisierung (2015)
Nein 156 € 149 €
Ja ‐852 € ‐815 €
Im Morbi‐RSA berücksichtigte Krankheit (RSA‐KH, 2015)
Keine Krankheit 278 € 256 €
Mindestens eine RSA‐KH ‐97 € ‐63 €
Nur nicht RSA‐KHs ‐117 € ‐147 €
Krankenkassenwechsel (2016) Nein ‐2 € ‐1 €
Ja 69 € 66 €
Quelle: Auswertung BVA
Ergebnisse auf Krankenkassenebene
Die Veränderung der Deckungsbeiträge der einzelnen Kranken‐
kassen sind ebenfalls vergleichbar mit den Verhältnissen im Sondergutachten (vgl. Tabelle 5.16 sowie Drösler et al. 2017, S. 446). Hier reduziert sich durch Hinzunahme der Altersinter‐
aktionsterme der mittlere Vorhersagefehler im Vergleich zum Status quo geringfügig um 1,09 € (ungewichtet) bzw. um 1,28 € (gewichtet mit Versichertentagen).
Tabelle 5.16: Altersinteraktionsterme: Kennzahlen auf Krankenkassenebene
MAPE (KK) Modell AJ2018 Altersinteraktionsterme
absolut 53,28 € 52,19 €
gewichtet 47,95 € 46,66 €
Quelle: Auswertung BVA
Ergebnisse aus regionaler Perspektive
Die bislang analysierten Kennzahlen auf Versicherten‐ bzw. auf Krankenkassenebene zeigen, dass eine altersbezogene Ausdif‐
ferenzierung der Morbiditätsgruppen durchaus Potenziale zur Verbesserung des Ausgleichsverfahrens besitzt und in Zukunft weiter untersucht werden sollte. Ob diese Modellanpassung jedoch auch dazu geeignet wäre, regionale Über‐ und Unterde‐
ckungen zu verringern, muss bereits mit Blick auf die wohnort‐
basiert abgegrenzten Versichertengruppen (vgl. Tabelle 4.17) in Frage gestellt werden: Hinsichtlich dieser für das Regionalgut‐
achten neu vorgenommenen wohnortspezifischen Zuordnung der Versicherten (zu großstadtregionalen Einzugsbereichen bzw. siedlungsstrukturellen Kreistypen) ergibt sich nahezu keine Veränderung der Deckungsbeiträge. Die mittleren Unterde‐
ckungen von Versicherten in Kernstädten und Ergänzungsge‐
bieten bleiben trotz der Modellanpassung ebenso bestehen wie die Überdeckungen von Versicherten in eher peripheren Wohn‐
lagen. Eine Zunahme der regionalisierenden Wirkung des RSA durch die Berücksichtigung von Altersinteraktionstermen lässt sich zumindest unter Berücksichtigung der hier abgegrenzten Versichertengruppen nicht belegen.
Tabelle 5.17 Altersinteraktionsterme: nach Regionstyp
Versichertengruppe Ausprägung Modell AJ2018 Altersinteraktionsterme
DB (Ø) DB (Ø)
Großstadtregionaler Einzugsbereich
Zentrum (Kernstadt) ‐50 € ‐50 €
Ergänzungsgebiet ‐13 € ‐12 €
Enge Verflechtung 13 € 13 €
Weite Verflechtung 29 € 29 €
Außerhalb Großstadtregion 30 € 30 €
Nicht zuordenbar 695 € 697 €
Siedlungsstruktureller Kreistyp
Kreisfreie Großstädte ‐49 € ‐49 €
Städtische Kreise 11 € 10 €
Ländliche Kreise (verdichtet) 42 € 42 €
Ländliche Kreise (dünn besiedelt) 6 € 7 €
Nicht zuordenbar 695 € 697 €
Quelle: Auswertung BVA; Ergänzungsgebiet = Ergänzungsgebiet zur Kernstadt; Ländliche Kreise (verdichtet) = Ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen
Auch bei der Betrachtung der 401 Kreise zeigen sich trotz der Berücksichtigung der Altersinteraktionen weiterhin regionale Über‐ und Unterdeckungsmuster, die gegenüber dem Status quo keine nennenswerten Veränderungen erkennen lassen (vgl. Abbildung 5.5 und Abbildung 5.6). Neben 50 Kreisen und kreisfreien Städten, in denen sich die Höhe der Über‐ und Un‐
terdeckungen geringfügig reduziert, lassen sich in 33 weiteren Regionaleinheiten zunehmende Über‐ und Unterdeckungen feststellen. In den übrigen 318 Kreisen dagegen bleiben die mittleren Deckungsbeiträge je Versichertenjahr nahezu unver‐
ändert. Im Vergleich zum Status quo kommt es somit insgesamt zu keinen nennenswerten Veränderungen der regionalen Über‐
und Unterdeckungen.
Abbildung 5.5: Altersinteraktionsterme: Regionale Verteilung der Deckungsbeiträge
Quelle: Auswertung BVA © GeoBasis‐DE/BKG 2018
Abbildung 5.6: Altersinteraktionsterme: Veränderung der ab‐
soluten Über‐ und Unterdeckungen
Quelle: Auswertung BVA © GeoBasis‐DE/BKG 2018
Das geringe Ausmaß der Veränderungen lässt sich auch aus den Verteilungsstatistiken zu den raumbezogenen Über‐ und Un‐
terdeckungen ablesen. Die Hinzunahme der Altersinteraktions‐
terme bewirkt nur marginale Veränderungen der örtlichen Zu‐
weisungsresiduen (vgl. Tabelle 5.18). So ist etwa das Absinken des Interquartilsabstands um einen Euro zu vernachlässigen.
Auch der Variationskoeffizient der Deckungsquoten bleibt na‐
hezu unverändert. Die Spannbreiten der Deckungsbeiträge und
‐quoten würden bei Berücksichtigung von Altersinteraktions‐
termen sogar etwas zunehmen.
Tabelle 5.18: Altersinteraktionsterme: Statistiken zur räumli‐
chen Verteilung der Deckungsbeiträge Verteilungsstatistiken
(Kreisebene)
Modell AJ2018 Altersinteraktions‐
terme
DB_VJ DQ DB_VJ DQ
Minimum ‐260 € 0,9153 ‐258 € 0,9154
1. Quartil ‐42 € 0,9839 ‐43 € 0,9841
Median 17 € 1,0063 18 € 1,0064
3. Quartil 82 € 1,0304 80 € 1,0305
Maximum 341 € 1,1482 356 € 1,1544
Interquartilsabstand 124 € 0,0465 123 € 0,0464
Mittelwert 17 € 1,0071 17 € 1,0069
Standardabweichung 94 € 0,0349 94 € 0,0349 Variationskoeffizient ‐ 0,0347 ‐ 0,0346 Quelle: Auswertung BVA
Auch die regionalen Vorhersagefehler zeigen bei Aufnahme der zusätzlichen Ausgabenprädiktoren in die RSA‐Formel nur ge‐
ringfügige Veränderungen. Unabhängig davon, ob hierbei die Gemeinde‐ (AGS), Gemeindeverbands‐ (GVB), Kreis‐ oder Lan‐
desebene betrachtet wird, ergeben sich bei Einführung der Altersinteraktionsterme (überwiegend) rückläufige Progno‐
sefehler, allerdings durchweg auf niedrigem Niveau (vgl. Tabel‐
le 5.19). Auf Ebene der Bundesländer kommt es zu einem ge‐
ringfügigen Anstieg des mit den Versichertenzeiten gewichte‐
ten Vorhersagefehlers (MAPELand_gew).
Tabelle 5.19: Altersinteraktionsterme: Mittlere Vorhersage‐
fehler auf unterschiedlichen regionalen Ebenen
MAPE Modell AJ2018 Altersinterak‐
tionsterme
AGS absolut 220,05 € 219,19 €
gewichtet 113,23 € 112,70 €
GVB absolut 127,28 € 126,74 €
gewichtet 102,71 € 102,30 €
Kreis absolut 77,90 € 77,43 €
gewichtet 76,51 € 76,20 €
Land absolut 110,73 € 110,57 €
gewichtet 44,71 € 45,03 €
Quelle: Auswertung BVA
5.4 Fazit
Sowohl die Einführung eines Vollmodells als auch die Schwere‐
graddifferenzierung über das Erwerbsminderungsmerkmal und
Sondergutachten als sinnvolle Anpassungen des RSA‐
Verfahrens identifiziert. Im vorliegenden Kapitel wurden die drei Erweiterungsvarianten hinsichtlich ihrer regionalen Umver‐
teilungswirkungen untersucht.
Der Wissenschaftliche Beirat erachtet die Berücksichtigung al‐
ler Krankheiten im Klassifikationsmodell weiterhin als sinnvol‐
len Ansatz zur Steigerung der Zielgenauigkeit des Verfahrens.
Insbesondere würde die individuelle Morbidität der Versicher‐
ten deutlich besser abgebildet als im bisherigen Verfahren. Be‐
zogen auf die in den vorangehenden Kapiteln festgestellten regionalen Deckungsbeitragsunterschiede, kann diese bessere Berücksichtigung der individuellen Morbidität jedoch nur einen geringen Beitrag leisten.
Der Wissenschaftliche Beirat hält die Option, Erwerbsminde‐
rung als manipulationsresistenten Schweregradindikator zur Differenzierung des Klassifikationsmodells einzusetzen, nach wie vor für zielführend. Diese Einschätzung beruht auf der Be‐
obachtung des im Jahr 2017 veröffentlichten Sondergutach‐
tens, dass auf diese Weise die Überdeckung relativ gesunder Erwerbsminderungsrentner und die Unterdeckung multimorbi‐
der Erwerbsminderungsrentner reduziert und somit Risikose‐
lektionsanreize vermindert werden können (vgl. Drösler et al.
2017, S. 364). Im Hinblick auf mögliche regionale Risikoselekti‐
onsanreize ergeben sich aus einer solchen Anpassung allerdings keine nennenswerten Verbesserungen.
Die Morbiditätsgruppen des Klassifikationsmodells künftig ei‐
ner stärkeren Altersdifferenzierung zu unterziehen, wird eben‐
falls weiterhin als sinnvolle Anpassungsoption angesehen. Al‐
lerdings bringt auch diese Verfahrenserweiterung keine rele‐
vanten Redistributionseffekte zwischen den Regionen mit sich.
Insofern hätte auch die Umsetzung dieser Ausgestaltungsalter‐
native keinen Einfluss auf die grundlegende Einschätzung bzgl.
der in diesem Gutachten diskutierten Notwendigkeit einer Re‐
gionalkomponente im RSA.
Somit führt keiner der drei untersuchten Modellansätze zu ei‐
nem nennenswerten Rückgang regionaler Über‐ und Unterde‐
ckungen.