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Erkenntnisse aus Sprachanalysen in ausgewählten Videosequenzen

5.1 Perspektiven der Kindergartenlehrpersonen

5.2.4 Erkenntnisse aus Sprachanalysen in ausgewählten Videosequenzen

Die ausgewählten Sequenzen der Unterrichtsvideos wurden einer Sprachanalyse unterzogen. Diese kon-zentrierte sich auf die Fragestellung, welche potenziellen Sprachbildungshandlungen sich rund um die ers-te Plenumssequenz in den zwanzig uners-tersuchers-ten Klassen erkennen lassen (vgl. Kapiers-tel 4.10). Im Einzelnen wurden die Sprechdauer der Kindergartenlehrpersonen und der Kinder analysiert. Erfasst wurden auch die von der Lehrperson angeregten bildungssprachlichen Handlungen. Auch die Art der von den Kindergarten-lehrpersonen gestellten Fragen wurde untersucht.

5.2.4.1 Sprechdauer der Kindergartenlehrpersonen und der Kinder

Eine der Forderungen der aktuellen Sprachdidaktik im Kindergarten besteht darin, dass Kinder einen Ge-staltungsraum brauchen, um mit bildungssprachlichen Handlungen experimentieren zu können. Dazu brau-chen sie Gelegenheiten zum Sprebrau-chen. Nachfolgend werden die Interaktionen zwisbrau-chen den Kindergarten-lehrpersonen und Kindern berücksichtigt, die in den videografierten Kindergärten rund um die erste numssequenz erfolgten, d. h. fünfzehn Minuten vor sowie die ersten fünfzehn Minuten während dem Ple-num (vgl. Kapitel 4.10). Tabelle 23 gibt eine Übersicht über die Anzahl der Äusserungen von Lehrpersonen und Kindern sowie ihre jeweilige Dauer. Die Kommunikationssituationen im Kindergarten unterscheiden sich von Kommunikationssituationen in der Schule dadurch, dass sich die Kindergartenkinder noch nicht an die schulische Gesprächsregulierung (aufstrecken bzw. aufgerufen werden) halten. Dadurch entstehen hochkomplexe Kommunikationssituationen, in denen es oft schwer zu eruieren ist, was eine zusammen-hängende verbale Äusserung ist. In der vorliegenden Untersuchung ist sie operationalisiert als die Sprech-einheit einer Person, die sich aus einem oder mehreren der folgenden Begrenzungskriterien ergibt:

• Sie folgt auf die Äusserung einer anderen Person.

• Sie folgt mit einer Pause (mind. eine Sekunde) auf die vorangehende Äusserung derselben Person.16 ___________________________________________________________

16 Dieses Kriterium wurde eingeführt, um die wirklichen Sprechzeiten zu erheben (und nicht die gesprochene Zeit inkl. Sprechpausen).

• Wenn die sprechende Person ein neues Thema anschneidet, gilt das als neue Äusserung.

• Wenn die sprechende Person einen neuen Rezipienten adressiert, gilt das als neue Äusserung.

• Wenn die Äusserung derselben Person einen neuen Sprachhandlungstyp darstellt, gilt sie als neue Äusserung.

Eine Äusserung beginnt also, indem sie auf eine andere Äusserung folgt, indem dieselbe sprechende Per-son eine Pause macht und wieder zu sprechen beginnt, indem die gleiche sprechende PerPer-son ein neues Thema einführt, indem die sprechende Person eine neue Person adressiert oder indem dieselbe Person einen neuen Sprachhandlungstyp verwendet (z. B. nach einer Handlungsanweisung eine Aufforderung zum Berichten vornimmt). Oft treffen dabei mehrere dieser Kriterien gleichzeitig zu. Zu den verbalen Äusserun-gen gehören auch Kurzantworten oder BestätigunÄusserun-gen wie „mhm“ oder das Aufrufen eines Namens. Durch diese Operationalisierung sind die Äusserungen tendenziell kurz, weil sprachliches Handeln in mehr Äusse-rungen aufgeteilt wird, als das in der Gesprächsanalyse üblicherweise der Fall ist.

Tabelle 23: Prozentuale Verteilung der beiden Stichproben des 2. Kindergartenjahres

Sprechende

Anzahl Äusserungena

Durchschnittliche Äusserungsdauera

(in Sekunden)

Standardabweichung der Äusserungsdauer

(in Sekunden)

Lehrperson gesamt (30 Minuten) 7511 2.00 5.51

Kinder gesamt (30 Minuten) (524)b 1.91 3.54

Lehrperson (Handlungsorganisation) 2345 2.17 1.73

Lehrperson Auffangzeit (15 Minuten) 3867 1.87 6.74

Kinder Auffangzeit (15 Minuten) (299)b 1.54 1.25

Lehrperson Plenum (15 Minuten) 3644 2.13 3.78

Kinder Plenum (15 Minuten) (225)b 2.4 5.18

a In die Anzahl und Dauer der Äusserungen sind vorgefertigte Äusserungen wie Lieder und Verse nicht eingerechnet. Insgesamt wur-den über die zwanzig Klassen hinweg 82 gesungene Lieder bzw. Verse (oder Teile davon) iwur-dentifiziert, die grossmehrheitlich in Ple-numssituationen vorkamen. Im Durchschnitt wurde pro Klasse ca. 2 Minuten und 20 Sekunden lang gesungen. b Einbezogen wurden nur die klar wahrnehmbaren Fälle. Die Äusserungsdauer bezieht sich auf diese Fälle.

Die Kindergartenlehrpersonen vollzogen über alle Klassen hinweg insgesamt 7511 Äusserungen. Das sind pro Klasse in dreissig Minuten etwa 375 Äusserungen. Ein Drittel davon hatte den Charakter von Hand-lungsanweisungen („Versorg noch schnell die Schere“), bei denen die Sprachproduktion der Kinder nicht angeregt werden. Aufgrund der Tatsache, dass es bei der ausgewählten Sequenz darum ging, die Kinder im Plenum zu versammeln, ist es nachvollziehbar, dass die Kindergartenlehrpersonen viele Handlungsan-weisungen gaben. Die Lehrpersonenäusserungen über den gesamten Untersuchungszeitraum von dreissig Minuten pro Klasse waren im Durchschnitt länger als die Äusserungen der Kinder, allerdings ist dieser Un-terschied nicht signifikant.17 Insgesamt sprachen die Kindergartenlehrpersonen über die Zeit von dreissig Minuten im Durchschnitt knapp zehn Minuten.

Während des Plenums machte eine grössere Gruppe der Kinder relativ viele rezeptive Spracherfahrungen, pro Klasse nämlich gut 182 Äusserungen (3644 dividiert durch 20). Demgegenüber vollzieht sich die Kom-munikation in der Auffangzeit von Lehrperson zu Einzelkind oder einer kleinen Gruppe. Hier muss die von Kindern rezipierte durchschnittliche Lehrpersonenäusserungszahl von 193 (3867 dividiert durch 20) pro Kind erheblich nach unten korrigiert werden, weil längst nicht alle Kinder die Äusserungen der Lehrperson wahrnehmen konnten (und sollten).

___________________________________________________________

17 t(7927) = 1.50; p = 0.133.

Die Äusserungen von Lehrpersonen und Kindern waren, auch unter Berücksichtigung der oben genannten etwas restriktiven Operationalisierungen, recht kurz. Während Lehrpersonen häufiger längere Sprechpau-sen einlegten, was zu mehr und kürzeren Äusserungen führte, waren bei den Kindern längere Äusserun-gen sehr selten. Rund ein Drittel der LehrpersonenäusserunÄusserun-gen betrafen HandlungsanweisunÄusserun-gen, auf wel-che die Kinder nicht verbal reagieren mussten. Einerseits ist dies verständlich, zumal solwel-che Anweisungen auch immer wieder Gelegenheit bieten, das Hörverstehen der Kinder zu beobachten, aber für die Sprach-förderung umfassender wären Äusserungen, die nicht ausschliesslich die Verstehensfähigkeiten, sondern auch die produktiven Fähigkeiten der Kinder herausfordern würden.

5.2.4.2 Von der Kindergartenlehrperson angeregte bildungssprachliche Handlungen

Wie in Kapitel 4.10 dargestellt, sind bestimmte Sprachhandlungstypen als besonders bildungssprachlich zu bezeichnen, weil sie in Vermittlungszusammenhängen typisch sind und im Vergleich zu alltagskommunika-tiven Sprachhandlungen wie etwa einer Bitte eher komplexe kognitive und sprachliche Leistungen erfor-dern. Die in die Analyse des untersuchten Videomaterials aufgenommenen bildungssprachlichen Handlun-gen sind das Begründen, Berichten, Beschreiben, Erklären und Erzählen.18

Tabelle 24 zeigt die Häufigkeitsverteilung für das Anregen der untersuchten Sprachhandlungstypen. Insge-samt konnten 422 Fälle des Anregens der genannten Sprachhandlungstypen identifiziert werden. Das sind pro Klasse im Durchschnitt einundzwanzig Fälle (in dreissig Minuten).

Tabelle 24: Häufigkeitsverteilung der Anregungen zum bildungssprachlichen Handeln nach Sprachhandlungstypen

Angeregte

Sprachhandlung Häufigkeit

Prozentualer Anteil

Beschreiben 139 32.9%

Berichten 137 32.5%

Erklären 107 25.4%

Erzählen 25 5.9%

Begründen 14 3.3%

Total 422 100.0%

Die von den Lehrpersonen angeregten Sprachhandlungstypen in Tabelle 24 werden im Folgenden anhand einiger ausgewählter Beispiele erläutert:

Beschreiben

Die Lehrpersonen forderten die Kinder häufig auf, etwas zu beschreiben. Dies waren beispielsweise Ge-genstände, aber auch Personen oder Tiere.

Das erste Kind ist eingetroffen und hat einen Kuchen und Brownies mitgebracht. Die Lehrperson öffnet die Alufolie und begutachtet das Gebäck.

KGLP: Ah, das sieht aber fein aus. Brownies, oder?

A: Ja.

KGLP: Welche hast du am liebsten, welche soll ich sicher heute geben? – Komm mal zu mir (A. begibt sich zur Kindergartenlehrperson) – Diese?

A: Ja.

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18 Für Operationalisierungen der Sprachhandlungstypen vgl. das inhaltsanalytische Codierraster in Anhang B7.

Die Entscheidung, das Kind zu sich zu rufen, führt dazu, dass das Kind sich kaum noch äussern muss, sondern entweder mit Zeigegesten reagiert oder, wie im vorliegenden Fall, auf eine geschlossene Frage der Lehrperson nur noch bejahen oder verneinen muss. Die Lehrperson hätte hier auch aus der Ferne be-schreiben lassen können (das Kind hätte dann die Brownies bebe-schreiben müssen, etwa: „Die mit den Schokoladestücklein obendrauf“).

Erklären

Erklären bezieht sich in der vorliegenden Untersuchung darauf, aufzuzeigen, wie etwas funktioniert, zu-stande gekommen ist oder zusammengesetzt ist, damit es funktioniert. Diese Sprachhandlung kann auf ganz verschiedene Arten angeregt werden. Einleitend werden oft die Frageadverbien „wie“ („wie funktio-niert das?“) oder „was“ („was kann man damit machen?“) gebraucht, oder es wird eine Frage gestellt, die an der Oberfläche auf eine Beschreibung abzuzielen scheint („beschreibe einmal, was man damit machen kann“).

Die Kindergartenlehrperson fragt die Kinder danach, was auf einem bestimmten Bild zu sehen ist.

KGLP: Und das hier unten, das so hell ist, was ist das, F.?

F: Nägel.

KGLP: Zehennägel.

Die Frage nach dem Abgebildeten zeigt an, dass ein Sachverhalt erklärungsbedürftig ist. Die Zehennägel auf dem Bild gehörten einem Dinosaurier; sie waren im Bild nur als solche erkennbar, wenn man wusste, dass ein Teil eines Dinosauriers abgebildet war. Die Gelegenheit zu einer eigentlichen ausgebauten Erklä-rung wurde hier nicht wahrgenommen: Die Lehrperson gab sich mit der Antwort „Zehennägel“ zufrieden.

Sie hätte auch fragen können, wie bzw. woran man das erkennen konnte, dann wäre das Kind in den Mo-dus des Erklärens gekommen und hätte sprachlich aufwändiger reagieren müssen.

Begründen

Interaktionen, in denen Kinder zum Begründen aufgefordert werden, enthalten meist ein auf Kausalität hin gerichtetes Frageadverb (oft „warum“).

Plenum im Kreis

KGLP: Was ist am Donnerstag besonders, warum können wir wissen, dass heute Donnerstag ist?

S: Weil Frau X da ist.

KGLP: Frau X ist da und was ist sonst noch besonders am Donnerstag? – D.!

D: Die sind da am Filmen?

KGLP: Genau, die sind da am Filmen, aber die sind ja nicht jeden Donnerstag bei uns am Fil-men. – M., was ist denn bei uns am Donnerstag noch besonders? – Für alle Mädchen der blauen Gruppe?

M: Dass wir am Nachmittag kommen?

KGLP: Genau, dass ihr am Nachmittag nochmals kommt.

In dieser Sequenz wurde das Begründen mit einer Warum-Frage angeregt. Das erste Kind antwortete an-gemessen mit der Konjunktion „weil“, die allerdings von der Lehrperson in ihrer Bestätigung so nicht aufge-nommen wurde. Die folgende Kinderantwort enthielt eine auf den ersten Blick unlogisch erscheinende Be-gründung, die von der Lehrperson implizit kommentiert wurde. Hier wäre eine Nachfrage auch möglich ge-wesen, die das Kind angeregt hätte, den von ihm angenommenen Kausalzusammenhang zwischen dem Filmen und dem Donnerstag zu begründen. Die typische syntaktische Realisierung einer Begründung mit kausalen Konjunktionen (weil, da, denn) oder Adverbien (darum, somit) wurde hier nur spärlich realisiert.

Die Lehrperson hätte in der Bestätigung der Kinderantworten solche Konjunktionen brauchen bzw. sie mit Nachfragen einfordern können.

Die Analysen der ausgewählten Videosequenzen verweisen im Hinblick auf sprachförderndes Verhalten der Kindergartenlehrpersonen darauf, dass Kinder in verschiedener Weise bildungssprachlich gefördert werden. Sie erhalten Gelegenheit, sich selber in Situationen zu äussern, in denen typisch bildungssprachli-che Handlungen wie Berichten, Beschreiben oder Erklären gefragt sind. Allerdings zeigt sich auch, dass Kinder eher selten zu kausalem Sprachhandeln (Begründen) angeregt werden. Gerade diese Sprachhand-lung gehört aber zum späteren schulischen Alltag und deshalb könnte hier beispielsweise noch mehr Wert auf Warum-Fragen gelegt werden.

Obwohl Erzählen ein wichtiges Element des Kindergartens ist, wurde diese Sprachhandlung bei den Kin-dern im Rahmen der analysierten dreissig Minuten eher selten angeregt – jedenfalls wenn Erzählen als

„einer typischen Erzählstruktur folgen“ verstanden wird. Häufiger wurden die Kinder zum Berichten und Be-schreiben angeregt: Ersteres wurde oft mit der Aufforderung „Erzähl mal!“ angestossen („Erzähl einmal, was ihr am Wochenende gemacht habt.“). Auch Erklärungen wurden häufig angeregt, Begründungen hin-gegen selten. Die hier präsentierten Gesprächsausschnitte sind repräsentativ für den grössten Teil der In-teraktionen: Insgesamt zeigt die Analyse des sprachlichen Handelns von Kindergartenlehrpersonen (und in der Folge: der Kinder), dass die Sprachanregungen wenig geeignet waren, die Kinder sprachlich herauszu-fordern. Vielmehr entstanden aus solchen Interaktionen lediglich nonverbale Reaktionen der Kinder bzw.

nur kurze Äusserungen. Sprachbildung in Alltagssituationen im Sinne von Isler et al. (2017) fand nur aus-nahmsweise statt.

5.2.4.3 Arten von Fragen der Kindergartenlehrpersonen

Von den 7511 Äusserungen der Kindergartenlehrpersonen waren 1200 (das sind knapp 16%) als Fragen formuliert (vgl. Tabelle 25). 822 waren geschlossene Fragen, die von den Kindern eine Ja- oder eine Nein-Antwort erforderten. Offene Fragen, die potenziell eine längere Kinderantwort hervorrufen würden, wurden im Rahmen der dreissig analysierten Minuten nur halb so oft gestellt. Auffällig ist zudem, dass offene Fra-gen geleFra-gentlich unmittelbar durch geschlossene FraFra-gen ergänzt wurden, so dass die Kinder nur auf die geschlossene Frage antworteten („Was wollte sie werden? Malerin?“).

Tabelle 25: Anteil Fragearten in Äusserungen der Kindergartenlehrperson währen der analysierten 30 Minuten

Art der Fragen Häufigkeit

Prozentualer Anteil

Geschlossene Fragen 822 68.5%

Offene Fragen 378 31.5%

Total 1200 100.0%

Gerade offene Fragen bieten aber Gelegenheit, Kinder zu längeren und anspruchsvolleren Äusserungen zu animieren. Und auch wenn in solchen Fällen eine Antwort nicht selten aus einem Wort besteht, ist es doch oft ein spezifisches Inhaltswort, das im mentalen Lexikon aktiviert werden muss (im Vergleich zum unspezi-fischen Ja oder Nein). Dies sind einige Hinweise, die andeuten, wie das Lehrpersonenhandeln in Bezug auf Sprachförderung optimiert werden kann.

Verschiedene Autoren (z. B. Knapp, Kucharz & Gasteiger-Klicpera, 2010) wiesen darauf hin, dass ge-schlossene Fragen wenig Sprachbildungspotenzial bergen und offene Fragen gleichzeitig eher selten vor-kommen. Dieser Befund wurde auch in unseren Analysen sichtbar.

Die analysierten Unterrichtssequenzen zeigen nur einen Ausschnitt aus dem gesamten Kindergartenalltag, einen Ausschnitt zudem, in dem im Übergang von der Auffangzeit zur Plenumssequenz recht viele organi-sierende Sprachhandlungen der Lehrpersonen notwendig sind. Trotzdem muss als Fazit auch festgehalten werden, dass die alltagsintegrierte Sprachbildung, die in einem Teil der Auffangzeit gut umgesetzt werden könnte, eher selten und in tendenziell wenig anregender Qualität realisiert wird. Hier liegt ein Entwicklungs-potenzial, das noch ausgeschöpft werden könnte.