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Die sprachliche Entwicklung von Kindergartenkindern

2.4 Das Kindergartenkind

2.4.4 Die sprachliche Entwicklung von Kindergartenkindern

Die Forschung zum Spracherwerb bis ca. vier Jahre weist darauf hin, dass wichtige Bereiche der deut-schen Sprache (Grammatik, Wortschatz) in diesem Alter tendenziell als erworben gelten können. Die For-mulierung „tendenziell“ deutet dabei auf das Phänomen der interindividuellen Variation hin: Zwischen ein-zelnen Kindern besteht im Alter der Einschulung eine enorme Heterogenität. So variiert der Umfang des ak-tiven Wortschatzes schon bei Kindern mit vergleichbarem sozioökonomischem Hintergrund im Alter von sechs Jahren stark. Bei Mittelschichtskindern beträgt er zwischen 3000 und 5500 Wörtern (Leimbrink, 2015; Augst, 1984). Die Sprachentwicklung im Kindergartenalter wird mehrheitlich anhand mündlicher Fä-higkeiten gemessen. Immerhin können aber im Kanton Zürich rund 33% der Kinder, die in die 1. Regelklas-se der Primarschule eintreten, bereits einfache Sätze und Wörter leRegelklas-sen. 15% sind sogar fähig, einen kurzen Text zu lesen und zu verstehen (Moser, Berweger & Stamm, 2005).

2.4.4.1 Wortschatz und Semantik

Die ersten Wörter verwenden Kleinkinder ab einem Alter von ungefähr einem Jahr. Danach entwickelt sich die Anzahl der verwendeten Wörter über Monate langsam (bis auf ungefähr 50 Wörter). Mit zwei Jahren verwenden Kinder je nach Studie zwischen 200 und 300 Wörter aktiv, mit zweieinhalb Jahren sind es be-reits gegen 500 Wörter. Der aktiv gebrauchte Wortschatz am Ende des Kindergartens wird auf ca. 5 000 Wörter geschätzt, der rezeptive Wortschatz auf ca. 14 000 Wörter (Leimbrink, 2015, S. 28). Er umfasst alle Wortarten und mehrheitlich Wörter, die konkrete Situationen des Alltagserlebens beschreiben. Doch auch hoch abstrakte Wörter wie „Leben“ oder „Mut“ werden von Kindern in diesem Alter verwendet und bieten beim konkreten Verstehen keine grösseren Hürden; allerdings kann nicht von einem für das

Erwachsenen-diesem Alter gelegentlich noch überdehnt; dies ist eine natürliche Folge des eingeschränkten Wortschat-zes. Wer etwas Neues ausdrücken will, aber nicht genügend Wörter zur Verfügung hat, behilft sich mit der Überdehnung bekannter Wörter (z. B. „Schaf“ für „Ziege“). Auch Unterdehnungen kommen noch vor, also die Beschränkung der Wortbedeutung auf zentrale Bedeutungsaspekte („ein Haifisch ist kein Tier, eine Katze ist ein Tier“).

2.4.4.2 Grammatik

Die Entwicklung der Grammatik ist wesentlich an jene des Wortschatzes gekoppelt: Im Alter zwischen ei-nem Jahr und eineinhalb Jahren dominieren Einwortsätze, dann setzen Zweiwortäusserungen ein, die sich schon bald zu Mehrwortäusserungen erweitern. Im Alter von vier Jahren haben die meisten monolingual deutschsprachig aufgewachsenen Kinder wichtige Bereiche der deutschen Grammatik tendenziell erwor-ben: das Genus der Nomen, das Kasussystem, einen grossen Teil der Pluralbildung bei Nomen und die zentralen Wortstellungsphänomene des Deutschen (Verbzweitstellung, Satzklammer, Verb-End-Stellung im Nebensatz) (vgl. Szagun, 2013).

Kinder, die Deutsch als zweite Sprache lernen, die also vor dem Alter von etwa vier Jahren nicht intensiv mit Deutsch (oder einem deutschen Dialekt) in Kontakt gekommen sind, stehen beim Erwerb der deutschen Grammatik vor besonderen Herausforderungen. Diese betreffen einerseits die Wortebene (z. B. das grammatische Geschlecht der Wörter oder die Deklination der Artikel, vgl. Grießhaber, 2010). Andererseits sind auch einige Grundformen der deutschen Syntax komplex: die fixe Verbzweit-Stellung im Hauptsatz (und damit verbunden das Phänomen der Inversion), die Satzklammer (Klammerstellung von finitem und infinitem Verb) sowie die Verb-End-Stellung des finiten Verbs im Nebensatz (für eine Kurzübersicht vgl.

Schneider, Lindauer, Dittmar et al., 2018, S. 22ff.; für eine ausführliche Darstellung vgl. Grießhaber, 2010).

Mit Bezug auf ältere Arbeiten von Clahsen, Meisel und Pienemann (1983) und v. a. Pienemann (1989) geht die Forschung zu Deutsch als Zweitsprache (DaZ) heute von einer prototypischen Stufenabfolge im Erwerb syntaktischer Phänomene des Deutschen aus. Es gilt heute in der DaZ-Didaktik als Standard, dass diese Erwerbsstufen diagnostiziert werden und dass die Förderung im Fach DaZ auf syntaktische Phänomene fokussiert, die höchstens eine Stufe über der Erwerbsstufe eines Kindes liegen, das Deutsch als zweite Sprache spricht. Dass Kinder mit Deutsch als erster oder zweiter Sprache über diese Strukturen verfügen, bedeutet aber nicht, dass ihre Sprachfähigkeiten bereits ausgereift wären. Letztere bilden das Grundgerüst für die bildungssprachliche Sprachhandlungsfähigkeit, die im Kindergartenalter erst rudimentär ausgebildet ist und deren Erwerb als zu lernender bzw. erwerbender Bereich in die Schulzeit fällt.

2.4.4.3 Sprachhandlung

Sprachliche Äusserungen haben meist eine kommunikative Funktion und sind an ein Gegenüber gerichtet.

Im Kindergartenalter sind Kinder aber oft noch nicht in der Lage, sich in ihren Sprachäusserungen am Ge-genüber zu orientieren. Vielmehr sind sie von einem in diesem Alter typischen Egozentrismus geprägt. Dies führt zu sogenannten kollektiven Monologen (Piaget, 1972), in denen Kinder frei daherreden, ohne Bezug zu Redebeiträgen von anderen Kindern und ohne Überlegungen dazu, ob das von ihnen Gesagte von an-dern Kinan-dern verstanden werden kann oder ob es diese interessieren könnte. Piaget ordnet den Egozent-rismus der kognitiven Entwicklungsphase des präoperationellen Denkens zu (vgl. Kapitel 2.4.3). Auch wenn die Zeitspanne, in der er dieses Phänomen verortet (1.5–7 Jahre), heute ebenso umstritten ist wie die Idee, dass die Entwicklungsphasen als zwingend aufeinander aufbauende Stufen zu verstehen sind, sind doch die zu beobachtenden Phänomene in der Sprachaneignung und im Sprachhandeln weitgehend anerkannt.

Es ist als eine wichtige Aufgabe des Kindergartens und der Schule zu verstehen, den Kindern bewusst zu machen, dass andere ihren Gedanken nur folgen können, wenn diese einigermassen explizit und kohärent geäussert werden. Dies kann beispielsweise bedeuten, dass Kinder im Kindergarten erste Erfahrungen mit dem typischen Muster der Textsorte Erzählung (= Einleitung, Komplikation, Höhepunkt mit Auflösung) ma-chen (für einen didaktisma-chen Umsetzungsversuch vgl. Schütz, 2009).

Je entfernter eine Situation, in der Kinder sprachlich handeln sollen, von ihrer Lebenswelt ist, desto schwie-riger ist es für sie, die Perspektivenübernahme zu bewältigen. In Situationen hingegen, die ihnen vertraut sind und in denen sie eine hohe intrinsische Motivation für sprachliche Äusserungen verspüren, sind sie

diesbezüglich schon früh zu erstaunlichen Leistungen fähig. Dies ist etwa beim Argumentieren mit Eltern oder mit Kindergartenlehrpersonen der Fall, beispielsweise wenn es darum geht, ein bestimmtes Spiel spielen zu dürfen. Hier können sich Kindergartenkinder in ihren Argumentationen geschickt auf das Nor-mensystem der Erwachsenen (z. B. Gerechtigkeit) beziehen („[...] aber gestern war Luise dran, jetzt will ich auch“). Vom Erwerb des ganzen Sprachhandlungsmusters Argumentieren mit all seinen kognitiven, sozia-len und sprachlichen Facetten (Grundler & Vogt, 2013) ist die Sprachhandlungsfähigkeit der Kindergarten-kinder aber noch weit entfernt.

2.4.4.4 Hochdeutscherwerb in der Deutschschweiz

Im Kindergarten kommen die Kinder im Kanton Zürich mit der Varietät des Hochdeutschen in Kontakt. Prin-zipiell muss Hochdeutsch von Deutschschweizer Kindern erworben werden. Durch seine starke Präsenz im Alltag und die grosse sprachstrukturelle Nähe zum Dialekt ist Hochdeutsch jedoch nicht als prototypische Fremdsprache, sondern als Sekundärsprache zu bezeichnen (Hägi & Scharloth, 2005) und in einem soge-nannten erweiterten Erstspracherwerb (Häcki Buhofer & Burger, 1998) anzueignen. Dieser Prozess weist dennoch Merkmale des Zweitspracherwerbs auf (z. B. Übergeneralisierungen innerhalb des Hochdeut-schen), aber insbesondere ein für den Erwerb von nahen Varietäten typisches hohes Mass an Transferleis-tungen bei der Übertragung vom Dialekt ins Hochdeutsche. Solche Spracherwerbsphänomene sind für Kinder mit Dialekt als Erstsprache in der deutschen Schweiz gut erforscht. Diese Forschung zeigt, dass der Erwerb einiger Bereiche sich bis weit in die Schulzeit hinein erstreckt.

Die Frage, ob die Diglossie-Situation in der deutschen Schweiz für Kinder, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, eine besondere Problematik darstellt, wird von der Fachwelt unterschiedlich eingeschätzt. Wäh-rend in verschiedenen Studien mit sehr kleinen Stichproben (z. B. Bachmann & Sigg, 2004 oder Gyger, 2005) von einer Problematik der Diglossie-Situation ausgegangen und für den Kindergarten der Gebrauch des Hochdeutschen als Unterrichtssprache propagiert wird, weist Berthele (2010) darauf hin, dass sich ein direkter Zusammenhang zwischen der Diglossie-Situation und der sprachlichen Entwicklung von Kindern mit Deutsch als Zweitsprache nicht nachweisen lässt und dass die Kinder eine Dialekt-Standard-Kompetenz aufbauen können, die messbare Vorteile für den Aufbau einer erweiterten Mehrsprachigkeit in verwandten europäischen Sprachen bieten. Auch Straßl und Ender (2009, S. 217) finden in ihrer etwas breiter angelegten Untersuchung für die Mittelstufe keine Belege dafür, dass der Erwerb von Deutsch als Zweitsprache durch den Umgebungsdialekt massgeblich erschwert würde.

Als Fazit kann festgehalten werden, dass das Nebeneinander von Dialekt und Hochdeutsch in der deut-schen Schweiz durchaus mit Erwerbsaufgaben verbunden ist; ob diese allerdings als problematisch oder vielmehr als positive Herausforderung einzuschätzen sind, kann aufgrund der vorliegenden Forschungsla-ge nicht abschliessend entschieden werden.

3 Konzeptionelle Rahmung

Der vorliegenden Kindergartenstudie wurde eine konzeptionelle Rahmung zugrunde gelegt. Sie umfasst die zentralen Einflussbereiche, die sich wechselseitig auf Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern auswirken. Diese systemische Perspektive geht zurück auf die Theorie der ökosystemischen Entwicklung des US-amerikanischen Sozialisationsforschers Urie Bronfenbrenner (1981). Er verdeutlichte damit, dass Bildungs- und Entwicklungsprozesse in verschiedenen Erfahrungszusammenhängen sowie auf der Grund-lage eines dynamischen Wechselspiels zwischen persönlichen AnGrund-lagen und der sozialen LebensGrund-lage ent-stehen. Ergänzend orientiert sich die konzeptionelle Rahmung an empirischen Analysen des Schulfor-schers Peter Rüesch (1999, 2001). Er kam aufgrund von Analysen des internationalen Forschungstandes ebenfalls zur Erkenntnis, dass Bildungs- und Entwicklungsprozesse „nicht einfach das Ergebnis eines zent-ralen Faktors, wie etwa der kognitiven Fähigkeiten der Lernenden“ (ebd., 2001, S. 12) sind, sondern viel-mehr ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren: der Lernenden, ihrer Familien, der besuchten Klassen, des Unterrichts sowie des gesellschaftlichen Kontexts. Aufbauend auf den beiden oben erwähnten Grund-lagen – den persönlichen AnGrund-lagen und der sozialen Lebenslage – werden nachfolgend die zentralen Ein-flussbereiche verdeutlicht, die durch ihr Zusammenwirken einen Einfluss auf Bildungs- und Entwicklungs-prozesse von Kindergartenkindern ausüben (vgl. Abbildung 5).

Abbildung 5: Zentrale Einflussbereiche auf Bildungs- und Entwicklungsprozesse des Kindes (Quelle: eigene Darstel-lung)

Die obenstehende Abbildung verdeutlicht, dass Bildungs- und Entwicklungsprozesse des Kindes im Zent-rum stehen. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass pädagogische, fürsorgliche und erzieherische Mass-nahmen sowie bildungspolitische Interventionen im weitesten Sinne letztlich immer darauf abzielen, einen Beitrag zur Entfaltung der Potenziale und Talente aller Kinder zu leisten. Dabei dominiert das Verständnis, dass kindliche Bildungs- und Entwicklungsprozesse durch ihre individuelle Anlage, also die gegebenen raussetzungen, beeinflusst, jedoch nicht beschränkt werden. Unter den oben erwähnten kognitiven Vo-raussetzungen werden insbesondere „Intelligenz, Denkstil, logisches Denkvermögen, Auffassungsgabe und Lernfähigkeit“ (Rüesch, 2001, S. 12) verstanden. Motivationale Voraussetzungen beziehen sich auf die

„Leistungsbereitschaft, das Interesse am Lernen, die Einschätzung eigener Kompetenzen sowie die Erfah-rung, eigene Fähigkeiten verbessern zu können“ (ebd.). Ergänzend zu den Bildungs- und

Entwicklungsvo-Bildungs- und Entwicklungsprozesse

des Kindes abhängig von:

Anlagen des Kindes Anregungsqualität der Umwelt

Qualität der Übergänge

Eltern und Familie

Kindergartenlehrperson Unterrichtsprozesse

Erziehungs- und Bildungskooperation

Kooperationen zwischen Lehr- und Fachpersonen

Gesellschaftliche und bildungspolitische Rahmenbedingungen

Vor- und ausserschulische (Bildungs-)Angebote

raussetzungen des Kindes spielt die Anregungsqualität des Umfeldes eine wichtige Rolle, wobei „man heu-te vom Ineinandergreifen der beiden Faktoren ausgeht“ (Stamm, 2015, S. 31).

Einflussbereiche, die sich unmittelbar auf Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern auswirken, werden in Anlehnung an Rüesch (2001, S. 14) als proximale Einflussbereiche oder „direkte Bedingungen oder Nah-Ursachen“ bezeichnet. Im vorliegenden Kontext handelt es sich diesbezüglich um die Eltern und die Familie, vor- und ausserschulische Bildungs- und Betreuungsangebote, Unterrichtsprozesse sowie die Kindergartenlehrperson. Ebenfalls von Bedeutung sind institutionelle Übergänge, deren Qualität sich auf die weiteren Bildungs- und Entwicklungsverläufe auswirken kann (z. B. OECD, 2017a; König, 2017). Die sogenannten distalen Einflussbereiche, die auch als „indirekte Bedingungen oder Fern-Ursachen“ (Rüesch, 2001, S. 14) bezeichnet werden, beeinflussen die Bildungs- und Entwicklungsprozesse von Kindern, ohne unmittelbar auf sie einzuwirken. Es sind dies die Erziehungs- und Bildungskooperation zwischen der Kin-dergartenlehrperson und den Eltern bzw. der Familie sowie Kooperationen zwischen der Kindergartenlehr-person und weiteren Lehr- und FachKindergartenlehr-personen. Ebenso gehören dazu die gesellschaftlichen und bildungs-politischen Rahmenbedingungen (z. B. Bevölkerungsstruktur, Gesetze, Lehrpläne), in die sämtliche der aufgezeigten Bereiche eingebunden sind.

Das konzeptionelle Rahmenmodell spielt für die vorliegende Studie insofern eine Rolle, als alle aufgeführ-ten Bereiche für das Forschungsdesign der vorliegenden Studie berücksichtigt und folglich untersucht wur-den (vgl. Kapitel 4.2). Zudem wurde es der Entwicklung des Interviewleitfawur-dens zugrunde gelegt, indem Leitfragen zu allen aufgeführten proximalen und distalen Einflussbereichen entwickelt wurden (vgl. Kapi-tel 4.4). Das Rahmenmodell wurde auch für die Strukturierung des Ergebnisteils (vgl. KapiKapi-tel 5) und für die abschliessenden pädagogischen Konsequenzen (vgl. Kapitel 7) eingesetzt. Nachfolgend werden zunächst die proximalen Einflussbereiche (vgl. Kapitel 3.1) und dann die distalen Einflussbereiche (vgl. Kapitel 3.2) näher erläutert.

3.1 Proximale Einflussbereiche