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Der Netzwerkansatz in stadtsoziologischen Studien

Im Dokument The Strength of Very Weak Ties (Seite 24-28)

Ab Mitte des 20. Jahrhunderts wurden stadtsoziologische Studien explizit mit dem Netzwerkansatz verknüpft. Die Netzwerkmetapher wurde durchaus schon früher benutzt (z.B. bei Radcliffe-Brown 1940, vgl. Mitchell 1969, S.1 f.) aber als wissenschaftliches Konzept wurde die Analyse lokaler sozialer Netze erstmals von Barnes (1954) in seiner Studie der sozialen Beziehungen in der norwegischen Gemeinde Bremnes angewandt.

Obwohl er sich auf eine kleine Gemeinde konzentrierte, wurde schon hier deutlich, dass sich die sozialen Beziehungen in Form verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Beziehungen nicht auf die Gemeinde beschränkten. Barnes stellte fest, dass das gesamte soziale Leben („the whole of social life“) als ein Set von Punkten beschrieben werden kann, die insgesamt das komplette Beziehungsnetzwerk darstellen (Barnes 1954, S. 43). Die informelle Sphäre interpersoneller Beziehungen ist also als persönliches Teilnetzwerk des gesamten Netzwerks zu sehen. Nachbarschaftliche Beziehungen sind dabei im Gegensatz zu verwandtschaftlichen oder freundschaftlichen, per se lokal verankert.

Elizabeth Bott (1957) entwickelt Barnes Ansatz weiter, indem sie familiäre Beziehungen in London untersuchte, die allerdings auch über den unmittelbaren Wohnort hinweg bestanden.

Ihre Studie ebnete den Weg für weitere Netzwerkanalysen, bei denen ebenfalls die sozialen Beziehungen und nicht die räumliche Bindung im Mittelpunkt stehen: „Damit war die Umkehrung der Fragestellung der Nachbarschaftsforschung vollzogen“ (Häußermann/ Siebel 2004, S. 113). Dies bedeutet, dass nun nicht mehr die Frage gestellt wird, welche Beziehungen in bestimmten Räumen bestehen, sondern vielmehr wie sich Beziehungen räumlich abbilden.

Mitchell (1969) nahm die Ansätze von Barnes und Bott bei seiner Analyse von Beziehungsstrukturen in zentralafrikanischen Städten auf und entwickelt ein grundlegendes Konzept zur sozialen Netzwerkanalyse, auf das sich auch heute noch viele Netzwerkforscher beziehen. Er unterscheidet drei verschiedene Ordnungen sozialer Beziehungen, „which are characteristic of large-scale societies – possible of all societies – but particularly of urban social systems (Mitchell 1969, S.9 f.):

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 die strukturelle Ordnung, auf die sich das Verhalten der jeweils betrachteten Netzwerkmitglieder bezieht;

 die kategorische Ordnung über die das Verhalten von Personen als soziale Stereotype interpretiert werden kann (wie Klasse, Rasse o. Ä.);

 die persönliche Ordnung über die das Verhalten von Personen als Beziehung zu anderen Netzwerkmitgliedern interpretiert werden kann.

Für eine Netzwerkanalyse ist demnach grundlegend, dass geklärt wird, auf welche dieser drei Ordnungen man sich bezieht, da ein Beziehungsnetzwerk aus allen drei Blickwinkeln beleuchtet werden kann. Am Beispiel des Stadtquartiers kann sich die Perspektive der strukturellen Ordnung beispielsweise auf die Partizipationsbereitschaft der Bewohnerschaft, die der kategorischen Ordnung auf altersabhängige gemeinschaftliche Freizeitformen und die der persönlichen Ordnung auf freundschaftliche Beziehungen vor Ort beziehen.

Eine der umfassendsten Studien zu lokalen sozialen Netzwerken ist Fischers (1982) Studie

„To Dwell Among Friends“. Er hat über 1000 Haushalte in der nordkalifornischen Region rund um und in San Francisco befragt, um den Einfluss der Größe des Wohnorts auf die persönlichen Netzwerke zu analysieren und dabei heraus zu arbeiten, ob in Großstädten tatsächlich die „Community lost-These“ aufrechterhalten werden kann. Anhand von qualitativen Interviews in ländlichen, kleinstädtischen und großstädtischen Umgebungen hat er ein differenziertes Bild zu Beziehungsnetzwerken und deren Variationen nach Lebensphase und Wohnstandort geschaffen. Die Daten aus der Studie wurden jeweils an die Tatsache angepasst, dass in städtischen Quartieren die Bewohnerschaft tendenziell besser ausgebildet, wohlhabender und jünger ist als in ländlichen Gegenden. So stellt sich heraus, dass nach der Pubertät mit dem Alter die Netzwerkgröße generell abnimmt und Freundschaften eine größere Bedeutung als verwandtschaftliche Beziehungen erhalten (Fischer 1982, S. 39). Hierbei ist hervorzuheben, dass nur bei höheren Einkommensgruppen die Anzahl von „Nur-Freundschaften“ (d.h. keine Nachbarn, Kollegen oder Mitglieder in Organisationen) in Städten deutlich höher als auf dem Land sind (ebd., S. 116). Dies kann so interpretiert werden, dass nur diejenigen, die auch die entsprechenden Mittel besitzen, von der großen Auswahl an Kontaktmöglichkeiten in Städten Gebrauch machen, weil sie beispielsweise mobiler sind oder bestimmte Mitgliedschaften mit dem Beruf bzw.

Mitgliedsbeiträgen verbunden sind.

In Bezug auf die Art des Wohnortes (halb-ländlich, Kleinstadt, Stadtregion, Innenstadt) gibt es keine großen Unterschiede hinsichtlich der sozialen Einbindung, obgleich in Großstädten und vor allem in den Innenstädten weitaus weniger verwandtschaftliche Beziehungen zum eigenen sozialen Netzwerk gehören (ebd., S. 54 ff.) Auch hinsichtlich des Wohlbefindens können keine Unterschiede festgestellt werden (ebd., S. 45 ff.). Allerdings besteht durchaus ein deutlicher Zusammenhang in Bezug auf traditionelle Lebensanschauungen hinsichtlich Ehe, Religion oder Homosexualität, die mit der Größe des Wohnortes abnehmen (ebd., S. 63 ff.)

Hinsichtlich der nachbarschaftlichen Netzwerke stellt Fischer fest, dass verheiratete Paare, Senioren und Eigenheimbesitzer tendenziell mehr Kontakte zu Nachbarn haben. Außerdem sind Nachbarschaften mit engeren Kontaktnetzen homogen, weniger dicht und kinderreich und nehmen eher an Bevölkerung zu als solche mit einer weniger dichten Beziehungsdichte (ebd., S. 97 ff.). Zudem nehmen die nachbarschaftlichen Kontakte vom halb-ländlichen zum

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innenstädtischen Raum ab (ebd., S. 100). Dies liegt neben der höheren Heterogenität der urbanen Bewohnerschaft auch daran, dass die Zunahme der Bevölkerung ein wichtiger Faktor für die Größe des nachbarschaftlichen Netzwerks ist und Stadtkerne kaum noch wachsen.

Fischers Studie deutet daraufhin, dass in Großstädten die selbst gewählten Kontakte zu Nachbarn intensiver sind als die durch den räumlichen Rahmen gegebenen Kontakte in suburbanen oder ländlichen Kontexten (ebd. S. 102). Der Aspekt der größeren Auswahl an sozialen Kontakten in Großstädten und der Tendenz zu selbst „zusammengestellten“

persönlichen Netzwerken wird auch in der Analyse der Kontakte zu Mitgliedern lokaler Organisationen („Co-Members“) deutlich. So finden sich in Organisationen (hier jegliche Art der Mitgliedschaft in Gruppen, von lokalen Vereinen über Religionsgemeinschaften bis hin zu Freizeitclubs) deutlich mehr engere Kontakte als in der Nachbarschaft oder unter Kollegen, die größtenteils nicht selbst gewählt werden können (ebd., S. 109). Auch wenn Städter mehr Organisationen (hier v.a. politische, nachbarschaftliche, ethnische, genossenschaftliche und professionelle Organisationen) als Landbewohner (hier v.a. kirchliche, sportliche und landwirtschaftliche Organisationen) angehören, unterscheidet sich die Anzahl der engeren Kontakte innerhalb dieser Organisationen nicht (ebd., S. 111). Insgesamt ist hier schon eine deutliche Tendenz erkennbar, dass lokale soziale Netzwerke in Städten viel mehr auf frei gewählten Kontakten beruhen als solche in ländlichen oder suburbanen Gebieten.

In den 1980er und 1990er Jahren haben sich auch in Deutschland verschiedene Soziologen mit sozialen Netzwerken in Städten befasst (u.a. Strohmeier 1983, Keupp/ Röhrle 1987, Pappi/ Melbeck 1988, Bertram 1994, Friedrichs 1995). Diese Studien belegen ebenfalls, dass Städter vielfältige soziale Netzwerke besitzen sowie die räumliche Nähe zwar vorhandene Kontakte verstärkt, aber nicht allein ausschlaggebend für die Bildung sozialer Beziehungen ist (vgl. Häußermann/ Siebel 2004, S. 112 ff.).

Innerhalb der Nachbarschaftsforschung wurde der Netzwerkansatz weiterhin von Wellman genutzt (Wellman 1979, Wellmann 1988, Wellman/ Wellman 1992, Wellman/ Wortley 1990).

Wellman (v.a. 2001 und 2003) hat dabei aus verschiedenen Blickwinkeln Veränderungen von urbanen Beziehungen untersucht, die sich aus einem gelockerten Raumbezug ergeben.

In Wellmans Arbeiten können dabei zwei Tendenzen des Wandels sozialer Netzwerke unterschieden werden: Zum einen die raumbezogene Perspektive zum Wandel von nachbarschaftsbasierten zu ortsbasierten Netzwerken und zum anderen die soziale Perspektive zum Wandel von ortsbasierten über personenbasierten zu rollenbasierten Netzwerken.

Wellman (2001) beschreibt über den Wandel von „door-to-door“ (nachbarschaftsbasierten) zu „place-to-place“ (ortsbasierten) sozialen Netzwerken einen gelockerten, aber dennoch deutlichen Raumbezug sozialer Beziehungen. Dieser gelockerte Raumbezug resultiert dabei in erster Linie aus zwei gesellschaftlichen Trends: Einer höheren täglichen Mobilität sowie aus der vermehrten Nutzung von Telekommunikation. Beide Trends fördern grundsätzlich, dass soziale Beziehungen sich immer weniger auf die unmittelbare Wohnumgebung beschränken müssen.

Nach Wellman sind im Vergleich zu nachbarschaftsbasierten Netzwerken ortsbasierte Netzwerke durch die freiwillige Teilnahme sowie der Sympathie zwischen den Mitgliedern gekennzeichnet und bilden sich somit auch zwischen Haushalten, die sich nicht in derselben Nachbarschaft befinden. Auch Häußermann & Siebel (2004, S. 112 ff.) beschreiben den

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Wandel des städtischen Zusammenlebens in ähnlicher Weise. Im Gegensatz zu

„Nachbarschaften, bei denen die möglichen Partner quasi vorgegebenen sind“

(Häußermann/ & Siebel 2002, S. 113) beruhen städtische soziale Netzwerke vielmehr auf

„Wahlfreiheit und erlauben den Abbruch einengender Kontakte“ (ebd.). Bei ortsbasierten Gemeinschaften besteht dabei zwar durchaus ein lokaler Bezug, allerdings werden die Beziehungen domestiziert, d.h. der Ort der Beziehungspflege ist nicht wie bei den nachbarschaftsbasierten Gemeinschaften die unmittelbare Wohnumgebung, sondern vielmehr die private Wohnung oder bestimmte Treffpunkte, die sich häufig auch außerhalb der Nachbarschaft befinden. Nach Wellman unterscheiden sich ortsbasierte städtische soziale Netzwerke in wesentlichen Aspekten von der bisher in der Stadtsoziologie vorwiegend untersuchten nachbarschaftsbasierten Netzwerken (vgl. Wellman 2001):

Milieugebundenheit: Während Nachbarschaften häufig anhand der lokal vorhandenen Milieus definiert werden, sind ortsbasierte Netzwerke weitaus unabhängiger von Milieus.

Das heißt, dass der Zusammenhalt innerhalb dieser sozialen Netzwerke weniger auf bestimmten demographischen Merkmalen wie Geschlecht, kulturelle Herkunft, soziale Klasse oder Alter beruht als auf angeeigneten Merkmalen wie Lebensstil, gemeinsame Normen oder gemeinsamen Interessen. Somit können innerhalb ortsbasierter Netzwerke mehrere Milieus verbunden werden, was deren Abgeschlossenheit oder gar Isolation entgegenwirken kann.

Rollenbezug: In ortsbasierten Netzwerken steht vor allem die Rolle des Mitglieds für die Gemeinschaft im Vordergrund: Demnach ist für den Zusammenhalt und die Dauerhaftigkeit des Netzwerks weniger relevant, welche persönlichen Merkmale eine Person aufweist, sich die jeweilige Person für das Netzwerk engagiert. Dies bringt auch eine prinzipiell höhere Offenheit in Bezug auf soziale Merkmale der Mitglieder mit sich.

Somit können ortsbasierte Netzwerke eher Verbindungen zwischen sozial konstruierten Gruppen (wie „Ältere“, „Behinderte“, „Migranten“) herstellen, die in nachbarschaftsbasierten Netzwerken isolierend und segregierend wirken können.

Mitgliedschaft: In ortsbasierten Netzwerken wird die Zugehörigkeit mit einem ständigem Engagement für das Netzwerk bestätigt. Anders als in engen sozialen Beziehungen wie Freundschaften oder Verwandtschaften bzw. in den durch den gemeinsamen Wohnort konstruierten nachbarschaftlichen Netzwerken müssen daher die lockeren und verstreuten Bindungen zu den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft stetig aufrechterhalten werden. Ein aktives Networking ist somit wichtiger als das „Mitlaufen“ in der Gruppe.

Zugehörigkeit: Tendenzen der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen führen dazu, dass Individuen mehreren ortsbasierten Netzwerken angehören können, denen sie sich je nach Anlass zuordnen, denen sie allerdings auch nur ein begrenztes Engagement entgegenbringen. Die gelockerte Zugehörigkeit bringt dabei zwar im Vergleich zu nachbarschaftsbasierten Netzwerken eine geringere Kontrolle durch die Gemeinschaft, aber auch eine geringere Solidarität und Fürsorgeverpflichtung für den Einzelnen mit sich. Da allerdings auch weniger normative Ansprüche an die einzelne Person gestellt werden, ist auch die Wiederaufnahme der Kontakte innerhalb der ortsbasierten Netzwerke bzw. die Reintegration nach längerer Abwesenheit problemloser als in engeren Kollektiven.

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Wellmans Aussagen lassen darauf schließen, dass nachbarschaftsbasierte Netzwerke eine höhere Kohäsion besitzen als ortsbasierte, die Integration in diese Netzwerke aber voraussetzungsvoller ist, da sie zum einen von dem Wohnort und zum anderen oft von unveränderbaren persönlichen Merkmalen abhängt. Wellman (2001) geht dabei davon aus, dass der Wandel vom nachbarschaftsbasierten zur ortsbasierten Netzwerk weitgehend vollendet ist, während der Wandel zu individualisierten personenbasierten (person-to-person) und zu spezialisierten rollenbasierten (role-to-role) Netzwerken sich derzeit noch vollzieht.

Dieses letzte Stadium des Wandels, das er als Wandel zum „Vernetzten Individualismus“

(Networked Individualism) bezeichnet, geht von einer komplette Loslösung sozialer Beziehungen vom Raum aus, die einerseits durch mobile und andererseits durch elektronische Kommunikation ermöglicht wird. Mobile Endgeräte wie Mobiltelefone oder Smartphones führen dazu, dass man jederzeit erreichbar ist und es dabei egal ist, an welchem Ort man sich gerade befindet. Die Kommunikation ist damit nicht mehr an den Ort gebunden, an dem sich der Computer oder das Telefon befindet, sondern ausschließlich an die Person selbst. Damit lockert sich im Vergleich zum ortsbasierten Netzwerk auch der soziale Kontext der jeweiligen Kommunikation, denn die Gesprächspartner wissen nicht, in welcher Situation sich der andere gerade befindet, d.h. ob zuhause, bei der Arbeit oder unterwegs.5 Der Raumbezug wird durch die mobile Kommunikation somit vollkommen aufgehoben.

Da der soziale Kontext also noch weiter als bei sprachlicher Telekommunikation in den Hintergrund tritt, geht Wellman davon aus, dass elektronische Kommunikation rollenbasierte Beziehungen fördert. Wellman beschreibt diesen Wandel damit, dass nicht mehr eine gesamte Person für ein Beziehungssystem relevant ist, sondern vielmehr die jeweilige Rolle, die diese Person für das System innehat. Beziehungen bilden sich also vielmehr zwischen Fragmenten von Identitäten als zwischen den gesamten Identitäten (Wellman 2001). Dieser Ansatz hat dabei einen entscheidenden Einfluss auf die Betrachtung von Prozessen der sozialen Integration in lokale soziale Netzwerke, denn im Fall von rollenbasierten Beziehungen bezieht sich die Integration immer nur auf die Rolle, d.h. ein Fragment des Individuums, und nicht auf seine gesamte Persönlichkeit.

Was die soziale Integration betrifft, kann aus Wellmans Aussagen abgeleitet werden, dass die offeneren rollenbasierten Netzwerke eine soziale Integration erleichtern, da die jeweiligen Personen eher wegen ihrer Interessen, Normen und Lebensstile, sowie wegen ihrer Rolle und ihres aktiven Engagement für das Netzwerk eingebunden werden, während in nachbarschaftsbasierten Netzwerken für eine Selektion die gesamte Person sowie äußerliche Merkmale herangezogen werden. Was soziale Integration für den Einzelnen bedeutet und in welchem Zusammenhang sie mit dem „Gemeinschaftlichen“ in lokalen sozialen Netzen steht, wird im folgenden Abschnitt erläutert.

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