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Die vorliegende Untersuchung nutzte einen milieuspezifischen Forschungsansatz. Für die-sen mussten die zu untersuchenden Milieus zunächst bestimmt und definiert werden (Grundmann, 2006). Die Notwendigkeit hierfür liegt in der schwammigen Beschaffenheit von Milieus. Nach Ueltzhöffer (1999) bezieht sich der Begriff Milieu und speziell soziale Milieus auf Gruppen von Individuen mit ähnlichen Lebenszielen und Lebensstilen (Lebens-führung) und umfasst Mentalität (Wertorientierungen) und Gesinnung von Personen ebenso wie Handlungsmuster. Die Abgrenzung von Milieus ist daher nicht einfach, da Grenzen ähnlicher Lebensführung, Mentalitäten und Gesinnungen, etc. nicht eindeutig sind, sondern fließend ineinander übergehen. Die unterschiedlichen und vielseitigen Ausprägungsmög-lichkeiten alltäglicher Lebensführung, Alltagspraxen, Präferenz- und Einstellungsmustern, Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata eines Milieus verschmelzen und über-schneiden sich an zahlreichen Schnittpunkten mit denen anderer (Bremer, 2007, S. 199ff;

Flaig; u.a., 2005). Dadurch entstehen verschiedene Berührungspunkte und verschwommene Übergänge zwischen einzelnen Milieus. Die unklare Eingrenzung von Milieus wird so der Unschärferelation der Alltagswirklichkeiten in Rechnung gestellt (vgl. Flaig; u.a., 2005, S.

9). Milieus unterliegen zudem durch ihre Konstellation aus einzelnen Subjekten einem pro-zesshaften Wandel (Bittlingmayer; u.a., 2006, S. 227). Das heißt, ein individueller Wandel der Subjekte kann langsam über neue Milieuvarianten vonstatten gehen, wie vice versa und neue Milieuprägungen begünstigen (Bremer, 2007, S. 137). Veränderung des so genannten Zeitgeistes durch Fortschritt und steigende gesellschaftliche Ansprüche begünstigen dabei den ständigen Wandel und eine Anpassung der Milieus wie des Habitus einzelner Subjekte.

Besonders bei jüngeren Generationen der einzelnen Milieus lässt sich so ein Wandel erken-nen. Schließlich sind besonders sie gefordert ihre Handlungsstrategien und Habitusmustern von denen ihrer Elterngenerationen abzuändern und anzupassen, um auf diese Weise den Herausforderungen ihrer Zeit gewachsen zu sein und sie zu bewältigen (Vester; u.a., 2007, S. 38). Der Habituswandel stellt somit im Verlauf der Zeit sogar einen Normalfall dar (Bremer, 2007, S.137).So ist die gesellschaftliche Reproduktion niemals eine Replikation der Gesellschaft, sondern beinhaltet immer sozial evolutionär transformierte Elemente (Kaufmann; u.a. 2010, S. 15).

Milieus bedürfen in einem Forschungskontext somit einer forschungsrelevanten Kon-struktion, die das Umfeld eines Individuums nach wichtigen Merkmalen ausdifferenziert und durch die forschende Person bestimmt und ausdifferenziert wird(Grundmann 2006, S.

50). Die Milieudifferenzierung ist dabei vom Forschungsinteresse und der Fragestellung abhängig (Köhler; u.a, 2008, S. IV-5). Auf diese Weise kann der Blick auf für die Untersu-chung relevante milieuspezifische Faktoren gerichtet werden (Choi, 2009; Bittlingmayer;

u.a., 2006). Milieus können daher als Forschungskonstrukte definiert werden, die das Um-feld eines Individuums nach wichtigen Merkmalen ausdifferenziert (Grundmann 2006, S.

50). Ein milieuspezifischer Forschungsansatz ermöglichte demnach die

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gruppe junger Erwachsener aus Arbeitermilieus diese in unterschiedliche bildungsspezifi-sche Arbeitermilieus aufzuteilen und die Bildungswege junger Erwachsener aus (bildungs-fernen) Arbeitermilieus genauer zu untersuchen und in den Blick zu nehmen.

Statusorientierte Milieudifferenzierungen stellten im milieuorientierten Eingrenzungs-prozess der Untersuchung eine hilfreiche Orientierungshilfe dar, da sie sich in vielen Punk-ten mit der weiteren Milieueingrenzung der Untersuchung decken und auf soziale Differen-zierungen aufmerksam machen (Vester, 2006; Vester; u.a., 2007). In der Untersuchung wur-de daher die Untersuchungsgruppe zunächst hinsichtlich wur-des beruflichen Status wur-der Eltern ausgewählt und vorsortiert. Bedeutend dabei war, dass sich die Eltern der an der Untersu-chung Teilnehmenden, ihrer beruflichen Positionierung nach dem Arbeitermilieu zuordnen lassen. Die berufliche Positionierung spielte insbesondere im Hinblick auf die Schulzeit der Untersuchungsgruppe eine Rolle. Das Einkommen wurde bezüglich einer höheren Kauf- und Wirtschaftskraft marginal mitberücksichtigt. Schließlich kann ein höheres Einkommen trotz einer bestehenden Bildungsferne innerhalb des Herkunftsmilieus einen enormen Ein-fluss auf den Bildungsweg junger Erwachsener aus bildungsfernen Arbeitermilieus haben (Hradil, 2001, S. 426ff). Beispielsweisen lassen sich durch ein höheres Einkommen Bildung unterstützende Maßnahmen wahrnehmen, die von Haus aus nicht zur Verfügung stehen. So auch Nachhilfestunden oder auch kulturelle Aktivitäten, die in informeller Weise zu einem Anstieg kulturellen Kapitals führen und dadurch den Bildungserfolg begünstigen (Bourdieu, 1983). Nichtsdestotrotz ist eine Orientierung am Habitus zuverlässiger, da die Milieuzuge-hörigkeit nur zu einem gewissen Grad am statusorientiert und somit an der beruflichen Stel-lung bestimmt werden kann (Vester; u.a., 2007, S. 38).

Das Arbeitermilieu wurde demnach zunächst vertikal mit Bezug zur beruflichen und wirtschaftliche Lage und horizontal nach Komponenten der Lebensführung vom so genann-ten bürgerlichen Milieu abgegrenzt. Durch die Abgrenzung des Arbeitermilieus durch ver-tikale (wirtschaftliche Lage) und horizontale (Lebensführung) Maßstäbe ließen sich so auch unterschiedliche Bildungseinstellungen und Differenzierungen im Lernhabitus erkennen (Bremer, 2007, S.15; Herzberger, 2002). Nach Vester lässt sich das Arbeitermilieu davon ausgehend in zwei Sparten aufteilen: in respektable und unterprivilegierte Arbeitermilieus (Vester, 2006; Vester; u.a., 2007). Dabei zeigt sich nach Vester auch eine grobe Differenzie-rung des Habitus in einen der Notwendigkeit und einen des Strebens (Vester, 2006). Der Habitus der Notwendigkeit umfasst Arbeitermilieus, welche Bildung nicht als Zugangsmög-lichkeit zu einer höheren sozialen Lage ansehen und daher nicht nach höherer Bildung stre-ben. Vester ordnet diesen Habitus so genannten traditionslosen Arbeitermilieus bzw. unter-privilegierten Arbeitermilieus zu, da diese für gewöhnlich nur eine geringe bildungsspezifi-sche Qualifizierung aufweisen. Für gewöhnlich zählen hierzu - nach Kriterien des berufli-chen Status - insbesondere angelernte Arbeiter. Den Habitus des Strebens ordnet Vester jenen Arbeitermilieus zu, die Aufstiegschancen durch Bildung nutzen. Dies sind jene, die von ihm unter den Begriffen modernes, traditionelles und leistungsorientiertes

Arbeitermi-4. BILDUNGSFERNES ARBEITERMILIEU

lieu zusammengefasst werden und in seiner Definition nach zu den respektablen Arbeiter-milieus zählen (Vester, 2006; Vester; u.a., 2007). Zu diesen zählen vorzugsweise ausgebil-dete Arbeiter.

4.1. Von Arbeitermilieus zu Bildungsmilieus – bildungsferne Arbeitermilieus

In der Untersuchung wurde einer bildungsspezifischen Differenzierung des Arbeitermilieus eine große Bedeutung zugesprochen. Studien belegen, dass der Bildungsabschluss eines Kindes wesentlich mit dem Bildungsstand der Eltern zusammenhängt, so dass dieser von besonderer Bedeutung für die Differenzierung war (Autorengruppe Bildungsbericht 2010, 2008, S. 211). Zudem fokussierte die Untersuchung die erfolgreichen Bildungswege speziell junge Erwachsener aus bildungsfernen Arbeitermilieus und nicht generell jene aus Arbei-termilieus. Eine bildungsspezifische Unterscheidung stellte demnach eine entscheidende Voraussetzung für die Untersuchung dar. Die Untersuchung orientierte sich daher neben Vesters Milieueingrenzungen insbesondere an Grundmanns (2006) bildungsspezifischer Milieuunterscheidung. In dieser unterscheidet er Bildungsmilieus über den Bildungsstand der Eltern und berücksichtigt zusätzlich die Lebenswelt und das darin erkennbare Handeln in dieser (Grundmann, 2006, S. 20). Durch die Orientierung am Bildungsstand der Eltern konnten prekär beschäftigte Akademiker mit nur geringem Einkommen aus den Arbeitermi-lieus leichter herausgefiltert werden. Besonders die erfolgreichen Bildungswege junger Er-wachsener aus bildungsfernen Arbeitermilieus, deren Eltern im Ausland einen höheren Bil-dungsstand erworben haben, konnten herausgefiltert werden. Die Nicht-Anerkennung eines ausländischen Bildungsgrades kann nicht mit einer Bildungsferne gleichgesetzt werden, auch wenn diese eine geringere berufliche Positionierung wie Erwerbsmöglichkeit zur Folge hat und somit eine Zuordnung sogar im traditionslosen und unterprivilegierten Arbeitermi-lieus möglich ist. So verweist auch Vester darauf, dass sich innerhalb des so genannten tra-ditionslosen Arbeitermilieus Akademiker finden lassen (vgl. Vester, 2006). Diese Gruppe innerhalb des Arbeitermilieus kann theoretisch nicht zum bildungsfernen Arbeitermilieu gezählt werden. Für die vorliegende Untersuchung wurde daher eine Unterscheidung bezüg-lich der unterschiedbezüg-lichen Bildungsferne innerhalb der Untersuchungsgruppe mitberücksich-tigt, um auf diese Weise die Privilegierten unter den Nichtprivilegierten (vgl. Maaz, 2006, S. 148, 157) herauszufiltern und Vesters These weiter zu untermauern, dass nur Kinder aus bestimmten Klassenfraktionen der Arbeitermilieus mit einem bestimmten familiären und milieuspezifischen Habitus bildungserfolgreich sind (vgl. Vester 2006, S. 27).

Die qualitative Zuordnung einer bestimmten Bildungsferne des Elternhauses orientierte sich demnach an Grundmann und seiner Differenzierung der Bildungsmilieus. Grundmann differenziert Bildungsmilieus anhand des Bildungsstandes der Eltern in vier Gruppen: bil-dungsferne, bildungspragmatische, technisch und bildungsmotivierte, wie akademisches Milieus (Grundmann, 2006). Für die zugrunde liegende Untersuchung war vor allem seine Unterscheidungen des bildungsfernen und bildungspragmatischen Milieus von Bedeutung,

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Bildungsmilieus

bildungsfern bildungsfern- bildungspragmatisch

bildungspragmatisch

da sich diese auf Vesters traditionslose, traditionelle, leistungsorientierte und moderne Ar-beitermilieu übertragen lassen (Vester, 2006; Vester, u.a., 2007).

Zum bildungsfernen Milieu zählt Grundmann ungelernte/einfache Arbeiter (z.B. LKW-Fahrer), die nur eine geringe Bildung vorweisen können, abhängig und in unsicheren Ar-beitsverhältnissen beschäftigt sind, wie nur ein geringes Einkommen vorweisen. Nach Vester lässt sich größtenteils das unterprivilegierte Arbeitermilieu hier zuordnen. Für die vorliegende Untersuchung wurde die Unterscheidung einer geringen Bildung für die Ein-grenzung eines bildungsfernen Milieus mit einem Schulbesuch von höchsten neun Jahren im In- oder Ausland und einem ersten Schulabschluss im In- oder Ausland bestimmt. Dem zur Folge wurden Befragte einem bildungsfernen Arbeitermilieu zugeordnet, wenn beide El-ternteile nicht länger als neun Jahre die Schule im In- oder im Ausland besucht haben und höchsten einen Hauptschulabschluss oder einen gleichwertigen Abschluss erreicht haben.

Handwerker und einfache Angestellte lassen sich nach Grundmann bereits zu einem ambitionierten Arbeitermilieu hinzuzählen, das sich durch mittlere Bildungsabschlüsse, eine Berufsausbildung mit sicheren Arbeitsverhältnissen und mittleren Einkommen vom bil-dungsfernen Milieu abgrenzen lässt. Er benennt dieses Milieu als ein bildungspragmatisches Milieu. Nach Vester lässt sich dieses dem traditionellen, leistungsorientierten, wie moder-nen Arbeitermilieu (respektables Arbeitermilieu) zuordmoder-nen. Ausgehend davon, dass die Bil-dungsferne unabhängig von der deutschen Anerkennungspraxis ausländischer Bildungsab-schlüsse zu werten ist, wurden Eltern mit einer im Ausland absolvierten Ausbildung eben-falls einem bildungspragmatischen Milieu zugeordnet. Innerhalb der Untersuchung wurde ein Herkunftsmilieu als bildungspragmatisches Bildungsmilieu bezeichnet, wenn beide El-ternteile neben einem ersten Schulabschluss eine Ausbildung im In- oder Ausland absolviert haben. Herkunftsfamilien, in denen nur ein Elternteil eine Ausbildung neben einem ersten Schulabschluss vorweisen kann, wurden als bildungsfern-bildungspragmatisch eingestuft (siehe Abb. Nr.). Diese weitere Unterscheidung ermöglichte einen differenzierteren Blick auf den Zusammenhang des elterlichen Bildungsniveaus und den erfolgreichen Bildungs-wegen der Untersuchungsgruppe.

Abb. 2

Der Migrationsstatus wurde insbesondere im Hinblick auf die elterlichen Sprachfertigkeiten im Deutschen beim Bildungsstand mitberücksichtigt. Der Bildungsstand von Geschwistern

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wurde als wichtiger Schutzfaktor eines erfolgreichen Bildungsweges nur marginal mitbe-rücksichtigt, da nicht alle Einzelfälle der Untersuchungsgruppe Geschwister haben, bzw.

diese jünger sind und demnach anzunehmen war, dass ihr Bildungsstand weniger von Be-deutung für die erfolgreichen Bildungswege der Untersuchungsgruppe war. Die Berücksich-tigung bestimmter Denk- und Wahrnehmungsmuster, der Lebenswelten und dem darin er-kennbaren Handeln, etc. wurden im Hinblick auf die Differenzierung der Bildungsmilieus zunächst ausgeblendet. Sie wurden erst mit Bezug zu den erfolgreichen Bildungswegen, beispielsweise in Form elterlicher Bildungsaspirationen und bildungsspezifischen Unterstüt-zungsleistungen durch das Elternhaus, mitberücksichtigt.

4.2 Bildungsfern vs. schulbildungsfern

Für eine weitere Differenzierung der so genannten ‚Bildungsferne’ wurde in der Untersu-chung der Aspekt der ‚Schulbildungsferne’ mitberücksichtigt. Dies war insbesondere wich-tig, da der Begriff ‚Bildungsfern’ schnell gleichgesetzt wird mit einer so genannten ‚Schul-bildungsferne’. Bei der Bildungsferne ist für gewöhnlich von institutionell anerkannter Bil-dung und somit Abschlüssen auszugehen. Für die Untersuchung wurde dies auf der Ebene der Einteilung der Untersuchungsgruppe in Bildungsmilieus vorgenommen. In der Unter-scheidung schulbezogener Wahrnehmung wird Bildungsferne von einer Schulbildungsferne anders unterschieden. Grundmann (2006) bietet hierzu eine mögliche Differenzierung. Er unterscheidet ‚Schulbildungsferne’ von der ‚Bildungsferne’, indem er einmal festhält, dass Kinder aus so genannten bildungsfernen Milieus während ihrer Sozialisation nichtsdesto-trotz Wissen und so Bildung erwerben.12 Die von ihnen erworbene Bildung entspricht mehr ihrer Lebenswelt und den dortigen Anorderungen als der im schulischen Umfeld geforderten (Heidenreich, 2009, S. 29.). Sie spiegelt ihre milieuspezifische Handlungsbefähigung wider.

Dementsprechend ist Bildung nicht ‚defizitärer’, sondern nur anders ausgeprägt. Kinder aus unterschiedlichen Milieus erwerben in ihrer Sozialisation zunächst ‚differente’ und nicht zwingend ‚defizitäre’ Wissensformen. (vgl. Grundmann, 2006, S. 43). Eine andere Form von Wissen und Bildung kann nur als defizitär betrachtet werden, wenn sie von einem anderen Standpunkt betrachtet anders ist. Dies verdeutlicht, dass Bildung unterschiedlich in ihrer Qualität anerkannt ist. Kinder aus bildungsfernen Arbeitermilieus weisen in unterschiedli-cher Weise Bildungsqualitäten auf, die der bürgerlich geprägten Schule näher oder ferner sind und bislang kaum Anerkennung und Aufmerksamkeit im schulischen Kontext erhalten haben (Bittlingmayer; u.a., 2007, S. 7). Diese Kinder sind dementsprechend nicht bildungs-fern in dem Sinne, dass sie kein Wissen und keine Bildung vorzuweisen haben, sondern sie inkorporieren eine andere Bildungsausprägung als jene schulischen Anspruchs. Folglich ist die von ihnen erworbene Handlungsbefähigung nicht als defizitär, sondern nur als anders zu betrachten, im Sinne einer geringeren Befähigung im schulischen Kontext ohne Weiteres agieren zu können.

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Das Gleiche gilt für die Eltern. Sie besitzen zusätzlich zu ihrem institutionell erworbe-nen Bildungsgrad ein an ihrer Lebenswelt und somit an ihrem Milieu ausgerichtetes Wissen, das ihnen Handlungsfähigkeit in ihrem alltäglichen Leben ermöglicht (Heidenreich, 2009, S.

29). Im Gegensatz zu Kindern ist bei Erwachsenen die Schulbildungsferne allerdings anders zu begründen und zu unterscheiden. Bei Erwachsenen spielt das institutionell erworbene Wissen und die Bildung ebenfalls eine Rolle in der Differenzierung von Schulbildungsferne.

So ergibt sich unweigerlich ein Zusammenhang zwischen institutionell geprägter Bildungs-ferne und SchulbildungsBildungs-ferne. Dieser Zusammenhang lässt sich mit Bezug auf Erfahrungs-werte und kulturelle Aspekte erklären. ErfahrungsErfahrungs-werte über mögliche Schulbildungsmög-lichkeiten hängen einerseits mit der eigenen Erfahrung und anderseits mit Fremderfahrun-gen bzw. SekundärerfahrunFremderfahrun-gen zusammen. Erfahrungswerte können auch mit Informationen gleichgesetzt werden, da diese eine Form übertragenen Wissens darstellen. Bildungsfernen Eltern fehlen eigene Erfahrungswerte eines erfolgreich beschrittenen Bildungsweges und dadurch oftmals allgemeine Informationen über gegebene Bildungsmöglichkeiten. Dies be-deutet, dass sie schulbildungsfern im Sinne mangelnder eigener Bildungserfahrung sind.

Dies kann sich auf unterschiedliche Weise eingestellt haben. So ist es möglich, dass sie nicht am Schulbildungssystem teilgenommen haben und nur verkürzte Wege gegangen sind.

Ihnen daher weitere Bildungsmöglichkeiten nicht wirklich bewusst werden konnten. Ande-rerseits kann es auch sein, dass sie trotz geringer Eigenerfahrung in der Beschreitung eines höheren Bildungsweges bestehende Möglichkeiten kennen und ein Interesse an höherer Bil-dung besitzen. Sie besitzen Fremderfahrungen (Informationen), die im Gegensatz zu ihren eigenen Erfahrungen stehen. Sie waren in der Lage, diese gegensätzlichen Erfahrungen zu reflektieren und sie den Anforderungen des Alltags entsprechend als wichtig oder weniger wichtig zu erfassen und die Erfahrungswerte unterschiedlichen Interessen zuzuordnen. In Bezug auf mögliche Bildungswege lässt sich dies wie folgt übertragen: Die Eltern kennen die Möglichkeiten unterschiedlicher Bildungserfahrungen und können diese den Anforde-rungen der unterschiedlichen Lebenswelt zuordnen, obwohl sie selbst nur einen geringen Teil dieses Erfahrungsschatzes selbst erfahren haben. Eine Bildungsferne schließt dement-sprechend nicht automatisch eine schulbildungsferne mit ein. So kann Schulbildungsferne die Bildungsferne integrieren wie auch mit Bildungsnähe einhergehen. Dabei kann insbe-sondere von kulturellen Aspekten ausgegangen werden. Beispielsweise im Falle einer Mig-ration ist zu bedenken, dass Eltern, die selbst einen hohen Bildungsgrad im Ausland erwor-ben haerwor-ben, trotzdem schulbildungsfern sein können. Folglich besitzen sie aufgrund kulturel-ler und systembedingter Differenzen von Bildungssystemen weniger Erfahrungswerte be-züglich des deutschen Schul-/Bildungssystems. Demnach können Migranteneltern in ihrem Herkunftsland über höhere Bildungsmöglichkeiten informiert sein, da sie selbst einen höhe-ren Bildungsweg dort beschritten haben und sich auf höhehöhe-ren Bildungswegen in Deutsch-land nicht auskennen. Schulsysteme und deren Anforderungen unterscheiden sich auf inter-nationaler Ebene oft sehr stark voneinander, besonders das deutsche Bildungssystem mit

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seinen stark stratifizierten Bildungswegen. Im deutschen Kontext ist daher anzunehmen, dass Unterschiede bezüglich der schulischen Anforderungen bestehen, welche sich von den bisherigen Bildungserfahrungen von Migranteneltern unterscheiden. Dies bedeutet, dass die Eltern trotz eines hohen Bildungsstands nichtsdestotrotz schulbildungsfern sein können, da ihnen Erfahrungswerte und Informationen über lokale Anforderungen fehlen. So verweist die PISA-Studie 2003 darauf, dass ein hoher Bildungsgrad besonders bei Migranteneltern, die ihre Schulbildung im Ausland erworben haben, nicht gleichbedeutend mit einer Nähe zur Schulbildung und den schulischen Anforderungen in Deutschland ist (Prenzel; u.a., 2004). Diese Eltern können trotz einer Bildungsnähe das deutsche Bildungssystem nicht ganz durchschauen und so ihren Kindern nicht oder nur kaum helfen. Folglich ist Schulbil-dungsferne kulturell und systemgeprägt. Ein hoher Bildungsgrad schließt nicht automatisch eine Nähe zur Schulbildung mit ein. Ausgehend von der Differenzierung der Bildungsferne wurde in der Untersuchung somit teilweise die kulturelle Herkunft der Untersuchungsgrup-pe mitberücksichtigt. Allerdings nur marginal, da dies ansonsten den Rahmen der vorlie-genden Untersuchung gesprengt hätte. Es besteht daher weiterer Untersuchungsbedarf hin-sichtlich kultureller Aspekte. Vorstellbar wäre eine detaillierte Analyse der Arbeitermilieus verschiedener Kulturen in ihren Herkunftsländern und im Zuwanderungsland. Auf diese Weise könnten sich auch Unterschiede und Integrationsmaßnahmen der einzelnen Kulturen erkennen lassen.

Für die Untersuchung wurde der herkunftsspezifische Aspekt nur durch einen Blick auf die gängige Bildungskultur in den Herkunftsländern der Eltern (z.B. Schulpflicht) mitbe-rücksichtigt. Dadurch konnten weitere Rückschlüsse auf das Bildungsniveau und das Bil-dungsverständnis der Eltern geschlossen werden. Ein weiterer kultureller Aspekt, der in die Untersuchung einfloss, war die Unterscheidung des Migrationsstatus (z.B. Arbeitsmigran-ten, Flüchtlinge), besonders der Aspekt der freiwilligen und unfreiwilligen Migration. Mit Rückbezug dazu wurden familiäre Rückkehrwünsche ins Herkunftsland mitberücksichtigt.

Zusätzlich wurde der Aspekt der Staatsbürgerschaft berücksichtigt. Laut der von Simi-novskaia (2008) zitierten BIB-Studie von Haug (2002) zum Familienstand, der Schulbil-dung und Erwerbstätigkeit junger Erwachsener mit Migrationshintergrund hat das Einwan-derungsalter keinen entscheidenden Effekt auf die Schulbildung und spätere berufliche Posi-tion. Der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit allerdings schon (Siminovskaia, 2008, S.

41). Die Einbürgerung von Migranten wird allgemein als identifikationsspezifisches Integ-rationsmerkmal angesehen. Bei einer Einbürgerung sinkt die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehrorientierung ins Heimatland. Studien belegen, dass die Erwartungen an einen Bil-dungsaufstieg, besonders den der eigenen Kinder, an Bedeutung gewinnen je unwahrschein-licher Rückkehrabsichten sind (Raiser, 2007, S. 76ff.). Dabei wird vorausgesetzt, dass Migranten ein Migrationsprojekt verfolgen. Dies wird zur erfolgreichen Vollendung in die Hände der Kinder gegeben. Sie sollen den ganzen Mühen der Migration einen weiteren Sinn verleihen.