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Archiv "Zusammenarbeit der niedergelassenen Ärzte mit einem Großcomputer" (09.05.1974)

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Spektrum der Woche Aufsätze - Notizen THEMEN DER ZEIT

Wie auf anderen Gebieten, so nimmt auch in der Medizin die Zahl und der Komplexitätsgrad der Lei- stungen ständig zu. Die Zahl der Ärzte und ihrer Mitarbeiter konnte bisher mit dieser Entwicklung nicht Schritt halten. Das führte zu den bekannten Erscheinungen der Ar- beitsüberlastung und zum Auftre- ten von Engpässen. Bisher war die Bewältigung der Aufgaben zwar noch möglich, doch sind die dabei auftretenden Schwierigkeiten eine der Ursachen der zunehmenden Kritik an der Medizin. Da die medi- zinische Personalsituation sicher keine plötzliche Besserung erwar- ten läßt, muß nach anderen Auswe- gen gesucht werden. Hier bietet sich vor allem für sogenannte Rou- tineaufgaben der Computer an. In der Verwaltung der Kassenärztli- chen Vereinigungen wird er schon seit Jahren mit Erfolg eingesetzt.

Dies hat jedoch durch die Anforde- rungen an die Eingabe und die kur- zen Termine zur Ablieferung der Unterlagen für die Abrechnung eher zu einer weiteren Belastung der Einzelpraxen geführt. Der nächste Schritt muß daher eine Entlastung auf der Ebene der ein- zelnen Praxis sein.

Unter den jetzt schon greifbaren Möglichkeiten steht an erster Stelle die Hilfe bei der Gewinnung, der Übermittlung und der Auswertung von Befunden. Durch die Hilfe des Computerzentrums der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden (DKD), dessen Leiter Dr. Giere in jahrelanger Vorarbeit ein Pro- grammsystem „Decodierungs- und Textausgabeprogramm" (DUTAP) erarbeitet hat, war es möglich, praktische Lösungen zu finden.

Seit Januar 1973 werden täglich

Befunde zum Computer übermittelt und sofort anschließend in ein- wandfreier Form in der eigenen Praxis ausgedruckt, so daß sie we- nige Minuten später zum Versand an die überweisenden Ärzte zur Verfügung stehen.

Es ist zwar auch mit modernen Schreibautomaten möglich, Stan- dardsätze und Adressen durch Co- dezahlen aufzurufen und rasch und sauber zu schreiben. Diese Verfah- ren sind jedoch der Zusammenar- beit mit einem Großcomputer nur äußerlich ähnlich. Die Erstellung des Befundes ist im Schreibauto- maten der letzte Schritt, während sie in der Zusammenarbeit mit dem Computer nur die praktisch nützli- che Ausgangsbasis für die weitere Arbeit ist.

Der derzeitige Entwicklungsstand wurde in drei Schritten erreicht:

Entwicklung eines geeigneten Codierungssystems für das Diktat von Befunden. Aus der Vielfalt der im System DUTAP zur Verfügung stehenden Möglichkeiten soll hier das für den Röntgenbefund primär entwickelte Verfahren IKS be- schrieben werden. Es eignet sich selbstverständlich auch für das Diktat von Befunden aus allen an- deren Fachgebieten. Auf jedem Ge- biet gibt es eine große Anzahl von immer wiederkehrenden Sätzen und Begriffen. Formal gesehen, handelt es sich dabei um Satzrah- men, in denen Schlüsselpositionen durch verschiedene Modifikatoren variiert werden. Diese Tatsache wurde zur Vereinfachung der Co- dierung verwendet. Die häufigsten Sätze jedes Organgebietes erhal- ten dekadische oder halbdekadi-

Mit Hilfe eines Forschungs- auftrages des Bundesmini- sters für Forschung und Tech- nologie (DVM 014) haben Mit- arbeiter der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden seit längerem ein Befundspei- cherungsprogramm mit Hilfe eines zentralen Computers entwickelt; er läuft seit mehr als einem Jahr. Vorbereitet wird ein Ausbau des Systems, der auch strengen Anforde- rungen an den Datenschutz Rechnung tragen soll.

sche (10 20 30; 15 25 35) Codes. Die selteneren Ausdrücke, die meist Zustände an der Grenze des patho- logischen oder häufigere Varianten beschreiben, erhalten die dazwi- schen liegenden Codes. Die Modifi- kation bezüglich der Lokalisation, Quantität und Qualität erfolgt durch ein für alle Organgebiete gleiches System von Modifikatoren.

Durch diese, begrifflich gesehen, mehrdimensionale Codierung ist der Umgang mit dem Code sehr er- leichtert. Nach kurzer Zeit prägt sich das System ein und wird für die häufigeren Befunde auswendig diktiert. Es wird dadurch das Pro- blem der meisten Codes vermie- den, daß sie entweder leicht im Umgang, aber dann zu allgemein, oder genügend differenziert, aber dann im Umgang zu unpraktisch sind.

O Die Gewinnung eines geeigne- ten Zugangs zum Computer: Hier stehen prinzipiell alle Möglichkei- ten vom Übermitteln eines Loch- streifens per Post, über verschie- den schnelle Fernschreiber bis zur noch rascheren Übertragung durch Modulation auf Telefonleitungen zur Verfügung. Beim jetzigen Stand wird ein schneller Fernschreiber verwendet, der etwa 20 Zeichen pro Sekunde überträgt.

Die Erlernung des praktischen Umgangs mit dem .Computer: Das Verfahren unterscheidet sich in

Zusammenarbeit der

niedergelassenen Ärzte mit einem Großcomputer

H. P. Gockel, W. Giere, J. Krause, W. Nagel, U. Traunecker

1412 Heft 19 vom 9. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Niedergelassene Ärzte und Großcomputer

den ersten Schritten nicht von dem gewohnten Ablauf des Diktats. Der Arzt diktiert wie bisher den Befund auf Tonband. Statt der langen Wie- derholung von immer wiederkeh- renden Normalsätzen werden le- diglich die Codezahlen diktiert.

Hierbei sind nur relativ wenige Ver- einbarungen einzuhalten, die dem Computerprogramm die Identifizie- rung ermöglichen. Zum Beispiel müssen numerische Angaben durch ein vorgesetztes = von Co- dezahlen unterschieden werden.

Der große Vorzug des Systems DU- TAP ist, daß in dem hier beschrie- benen Codierungstyp IKS alle sel- teneren Befunde im Klartext dik- tiert werden können und genauso in den Befund zwischen die codier- ten Sätze eingefügt werden. Am fertigen Befund läßt sich nicht mehr unterscheiden, was codiert und was in Klartext diktiert wurde.

Dadurch wird die Gefahr vermie- den, daß um der Vereinfachung wil- len die genauere Beschreibung aufgegeben wird.

Auch der zweite Schritt unterschei- det sich nur unwesentlich vom bis- herigen Ablauf. Die Sekretärin schreibt den Befund vom Tonband lediglich statt auf der gewohnten Schreibmaschine auf dem Fern- schreiber. Dieser hat die gleiche Tastatur mit einigen zusätzlichen Sonderzeichen. Beim Schreiben wird gleichzeitig ein Lochstreifen gestanzt. Nach Beendigung des ganzen Diktats wird der Computer angewählt. Er gibt das Zeichen

„Eingabe starten", und dann wird der Lochstreifen von einer Abtast- einrichtung gelesen und dabei dem Computer übermittelt. In der gleichen Verbindung werden nach Durchgabe des ganzen Lochstrei- fens die einzelnen Befunde mit An- schrift der überweisenden Ärzte in der üblichen Form und einer wähl- baren Zahl von Durchschlägen ausgeschrieben. Sie brauchen dann nur noch unterschrieben zu werden. Danach werden sie in Fen- sterumschlägen wie üblich per Post versandt.

Zunächst noch einige Bemerkun- gen zur Praxis. Bei der Sekretärin

tritt sofort durch die Reduktion des Datenvolumens eine erhebliche Zeitersparnis ein, die nach vorläufi- gen Messungen in der Größenord- nung von 50 Prozent liegt. Beim Arzt ist die Zeitersparnis zwar ebenfalls nachweisbar, doch tritt sie nicht so schlagartig, sondern erst nach der Eingewöhnung in das Codierungssystem in zunehmen- dem Maße auf. Es kann jedoch mit Sicherheit gesagt werden, daß nach der allerersten Eingewöh- nungsphase auf keinen Fall eine Verlängerung, sondern im Gegen- teil mit Sicherheit eine erhebliche Verkürzung der Diktatzeit eintritt.

Dies unterscheidet unser Verfahren vorteilhaft von der direkten Arbeit des Arztes am Computerterminal (MEDELA, Orvid und dem Verfah- ren der TH München). Die Kosten liegen derzeit in der Größenord- nung von 1000 DM pro Monat. Sie können zumindest teilweise durch Einsparung von Schreibkräften be- glichen werden.

Selbstverständlich ist das Verfah- ren trotz der bewiesenen Praxisrei- fe noch nicht so problemlos wie etwa der Übergang von der mecha- nischen zur elektrischen Schreib- maschine. Vorläufig erfordert es noch eine gewisse Freude an der Lösung von Problemen und den Willen zu ihrer Überwindung. Die Zusammenarbeit mit dem Compu- terzentrum kann in unserem Falle nur als hervorragend bezeichnet werden. Dies geht sicher zum Teil auf den ausgezeichneten persönli- chen Kontakt mit allen Mitarbeitern des Zentrums zurück. Während ei- ner Vorbereitungs- und Einarbei- tungszeit wurden die Befunde zu- nächst doppelt diktiert, das heißt sowohl im gewohnten Verfahren in Klarschrift wie gleichzeitig codiert und über den Computer verarbei- tet. Nachdem sich die Sicherheit des Umgangs mit der Fernübertra- gung und dem Computer einge- stellt hatte, wird wie oben erwähnt seit Anfang Januar 1973 ohne Dop- pelbefundung gearbeitet. Seit die- ser Zeit ist keine Störung aufgetre- ten, die die Übermittlung der Be- funde bis 12 Uhr des gleichen Ta- ges verhindert hätte.

Die praktische Erprobung wurde sehr erleichtert durch einen For- schungsauftrag des Bundeswis- senschaftsministeriums. In diesem Rahmen wird intensiv an der weite- ren technischen Verbesserung ge- arbeitet. In dem genannten Umfang ist das Verfahren jedoch bereits jetzt praktisch anwendbar.

NIC und DOC

Vor einer weiteren Ausbreitung sol- cher computerunterstützter Verfah- ren muß eine entscheidende Vor- aussetzung erfüllt werden: Die ab- solute Sicherung der Geheimhal- tung der Patientenidentifikation. — Während der derzeitig laufenden Phase der praktischen Erprobung ist die Forderung der Geheimhal- tung dadurch gesichert, daß es sich um das Rechenzentrum einer privaten Klinik handelt, deren sämt- liche Angestellte ebenso wie die Helferinnen des niedergelassenen Arztes auf die Schweigepflicht ver- pflichtet sind. Im Gegensatz zu den üblichen für jedermann lesbaren Krankengeschichten ist es in die- sem Falle sogar nur Computerfach- leuten möglich, die Daten lesbar zu machen. Trotzdem handelt es sich bei dieser Lösung nur um einen vorübergehend zulässigen Notbe- helf. Die jetzt bereits angeschafften Geräte der Weiterentwicklungspha- se sehen folgende Lösung vor:

In der Praxis eines niedergelasse- nen Arztes und unter seiner direk- ten Aufsicht wird ein kleinerer Re- gionalcomputer aufgestellt. Von diesem führen feste Leitungen zu allen an das System angeschlosse- nen Ärzten. In den Einzelpraxen stehen sogenannte Terminals, die aus einem Bildschirmgerät mit Ta- statur sowie einem angeschlosse- nen Schreibautomaten bestehen.

Der im Augenblick noch verwende- te direkte Zugang zum größeren Rechner erfolgt nach Fertigstellung der Programmierung über die Zwi- schenstufe des Regionalrechners.

Er wird als DOC-Rechner (Docters- Office-Computer) bezeichnet. Die Daten werden im DOC aufgeteilt in die ldentifikationsdaten des Patien- ten, die hier gespeichert werden,

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 19 vom 9. Mai 1974 1413

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Spektrum der Woche Aufsätze -Notizen

Niedergelassene Ärzte und Großcomputer

und die allgemeine Information über den Befund, die im bisherigen Verfahren im größeren Rechner in Klartext umgesetzt wird. Der größe- re Rechner wird als NIC (Network- /nterchange-Computer) bezeichnet.

Die weitere Sicherung der Daten auch gegen den Zugriff aus einer an den DOC angeschlossenen Pra- xis wird gewährleistet durch eine interne, nur dem direkt verantwort- lichen Arzt bekannte Verschlüsse- lung. Durch dieses zunächst kom- pliziert anmutende Verfahren wird ein Grad der Sicherheit erreicht, der wesentlich über die bisheri- ge Geheimhaltungsmöglichkeit hin- ausgeht. Auch jetzt ist es ja durch Einbruch in die Praxisräume eines Arztes möglich, sich Unterlagen zu beschaffen, wie nicht zuletzt eine hochpolitische Angelegenheit ge- zeigt hat. Nach endgültiger Einfüh- rung des DOC-Systems müßte ein solcher Datendieb mehrere Perso- nen entführen und sie zur Preisga- be der Kenntnisse über das Verfah- ren und zur Bedienung der Geräte bewegen.

Die Anschaffung der Geräte und die Programmierung wurde durch den Forschungsauftrag des Bun- desministers für Forschung und Technologie „Einführung der Da- tenverarbeitung in die ärztliche Praxis" (DV 5.314/DVM 0 14) er- möglicht.

Zur Theorie ist folgendes wichtig:

Wenn es nur um die schnellere Er- stellung von Befunden ginge, wäre das Verfahren zwar dem Schreib- automaten durch die elegantere Codierung und den praktisch unbe- grenzten Umfang der Wahlmöglich- keiten sowie die unvergleichlich größere Verarbeitungsgeschwin- digkeit weit überlegen und auch in den Kosten vergleichbar, aber man könnte doch die Vorteile der Sta- tionierung des Schreibautomaten in der Einzelpraxis als gewichtiges Argument anführen. Im Gegensatz zum Schreibautomaten ist die Er- stellung des schriftlichen Befundes nur der erste, mit angenehmen praktischen Vorteilen verbundene Schritt. Alle Befunde werden im Computerzentrum in Form einer

Datenbank gespeichert. Bereits jetzt steht ein weiteres Programm- system zur Verfügung, das die Aus- wertung nach den verschiedensten Gesichtspunkten ermöglicht. Über die tägliche Liste der Patientenna- men und Namen der überweisen- den Ärzte zur Kontrolle des Post- ausgangs hinaus sind Statistiken nach den verschiedensten Ge- sichtspunkten automatisch zu er- stellen. Es kann nach dem Zusam- mentreffen von Befunden mit allen registrierten Faktoren gefragt wer- den. In weiteren Schritten ist die Verarbeitung der Klartexte zur Ver- besserung des Codesystems vorge- sehen, zu einem späteren Zeitpunkt ein Vergleich der Terminologien mit einem Lexikon der Synonyme sowie eine langsame Vereinheitli- chung der Ausdrucksweise. An die- ser Stelle muß einem möglichen Mißverständnis vorgebeugt werden.

Die persönliche Ausdrucksweise des einzelnen Arztes wird durch die Zusammenarbeit mit dem Com- puter in keiner Weise einge- schränkt. Jeder Kollege, der sich die Mühe macht, seine persönli- chen Ausdrücke in das Codesy- stem einzuordnen, erhält vom Com- puter den Ausdruck der ihm ad- äquat erscheinenden Wortwahl. Die Vereinheitlichung der Terminologie erfolgt erst auf der Ebene der Da- tenbank. Um die Auswertung der Befunde verschiedener Untersu- cher zu ermöglichen, muß ein Lexi- kon der Synonyme erstellt werden.

Dieses zunächst nur für die prakti- schen Zwecke der Datenbank ent- wickelte Lexikon sollte dann später die Diskussion über die einzelnen Begriffe anregen. Es wird hier- durch die Schwierigkeit vermieden, die sonst bei der Vereinheitlichung von Terminologien auftritt: jeder verlangt vom anderen, daß er die jeweils eigene Terminologie über- nehmen soll. Auf der Ebene der Datenbank dient das Lexikon zur Übersetzung der Begriffe ineinan- der. Die Vereinheitlichung kann nur von einem längeren Prozeß der An- passung und Zusammenarbeit er- wartet werden. In der Auswertung des Materials wird sich dann schließlich die zweckmäßigste Ter- minologie durchsetzen.

Vor einem grundlegenden Mißver- ständnis muß gewarnt werden. Der Computer selbst leistet keinerlei geistige Arbeit. Er ist lediglich ein Hilfsmittel zur Durchführung sol- cher „Sklavenarbeit", die man frü- her Doktoranden aufzugeben pfleg- te und für die sich heute niemand mehr findet. Der Engpaß ist ebenso wie früher die Gewinnung des pri- mären Datenmaterials und seine Ein- gabe. Das obenbeschriebene Ver- fahren ist eine Möglichkeit, solches Material als Nebenprodukt einer nützlichen Hilfsarbeit des Compu- ters zu gewinnen. Die geistige Ar- beit muß dann von Medizinern, Sy- stemanalytikern und Programmie- rern geleistet werden. Schon in der Zusammenarbeit und noch mehr bei der praktischen Erprobung der Programme stellt sich die begriff- liche Unklarheit heraus. Dieser Zwang zur praktischen Logik ist ein segensreicher Ordnungsfaktor.

Zum Abschluß dieser Arbeit sollte noch auf die Bedeutung für die Zu- kunft der freien Praxis hingewiesen werden. Aus der Kritik an der prak- tischen Medizin schält sich zuneh- mend der harte Kern heraus, daß die Tage der Praxis auf dem bishe- rigen Niveau der relativen Isolie- rung des einzelnen Arztes, oder po- sitiv ausgedrückt, auf dem bisheri- gen Niveau seiner Kommunikation gezählt sind. Als ein Ausweg wird die Gemeinschaftspraxis angese- hen. Sie hat sicher ihre großen Vorzüge durch die enge persönli- che Verbindung, aber gerade dar- um auch ihre Nachteile. Auch das Problem der Nachrichtenverbin- dungen zwischen den verschiede- nen Gemeinschaftspraxen ist zu- nächst nicht gelöst. Die andere Möglichkeit, die vom Verfasser schon in früheren Aufsätzen vorge- schlagen und in den praktischen Bemühungen angestrebt wird, ist der Einsatz aller technischen Mittel zur Erreichung eines optimalen In- formationsstandes der Beteiligten.

Die technischen Möglichkeiten ma- chen bereits heute ein Niveau der wechselseitigen Information er- reichbar, wie es auch durch Verei- nigung vieler Ärzte in einem ge- meinsamen Zentrum nicht übertrof-

1414 Heft 19 vom 9. Mai 1974 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze •Notizen THEMEN DER ZEIT

Das Buch des amerikanischen Psychiaters Szasz „Geisteskrankheit

— ein moderner Mythos?" schließt in seiner deutschen Ausgabe mit der Feststellung: „Es gibt keine medizinische, moralische oder juri- stische Rechtfertigung für ungebe- tene psychiatrische Eingriffe wie ,Diagnose`, Hospitalisierung` oder

‚Behandlung'. Sie sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit." Dieser Satz ist, in mancherlei Variationen, zum Schlachtruf einer ganzen Ge- neration junger Psychiater, Psycho- logen und aufgeklärter engagierter Laien geworden. Er wird vertreten von denselben Streitern, die in zu- rückliegenden Jahren eine erlebte Entfremdung mit psychotropen Drogen zu behandeln empfahlen und die nach ihrem Einrücken in das Establishment Überdruß und Alltagsfrustration mit einem unkon- trollierten Valium- und Libriumge- nuß zu steuern suchen. Die Flut der Neuerscheinungen, die die herr- schende Psychiatrie als willfährige Helferin einer repressiven spätka- pitalistischen Gesellschaft entlar- ven, ist kaum noch zu übersehen.

Daß sich die neue Linke mit so viel Eifer gerade der Psychiatrie ange- nommen hat, hat mancherlei gute Gründe, von denen nur einer in der engagierten Suche nach unterpri-

vilegierten Randgruppen liegt. Weit mehr noch wurde die „antipsychia- trische" Kritik legitimiert durch die Anfälligkeit, die die Psychiatrie und manche ihrer prominentesten Ver- treter in der jüngsten Vergangen- heit für mörderische totalitäre Ideologien bewiesen haben.

Auf einen an sich reizvollen ge- schichtlichen Rückblick auf Bewe- gungen ähnlicher Intention in ver- gangenen Epochen — meines Wis- sens ist von „Anti.psychiatrie" erst- mals in einer Monographie des Ir- renarztes Beyer aus dem Jahre 1912 die Rede — wird man verzich- ten dürfen, nicht zuletzt deswegen, weil die Vertreter jener modernen Antipsychiatrie die Wissenschafts- geschichte mit dem eigenen Eintritt in das lesefähige Alter beginnen lassen.

Es geht der Antipsychiatrie darum, die wissenschaftliche und morali- sche Unhaltbarkeit derjenigen Po- sitionen aufzuweisen, auf die sich nach ihrer Ansicht das Gebäude der klassischen oder herrschenden Psychiatrie gründet. Dabei richtet sie ihre Aufmerksamkeit nahezu ausschließlich auf die schizophre- nen Erkrankungen und erweckt bei dem nichtinformierten Laien den ir- fen werden kann. Für die theoreti-

schen Grundlagen und die Ent- wicklung von Programmsystemen wurde von unserer Gruppe eben- falls bereits Vorarbeit geleistet. Die Größe der Aufgabe läßt jedoch nur stufenweise Verwirklichung erwar- ten.

Auf die bisherige Arbeit zurückblik- kend, kann gesagt werden, daß die Arbeit von der Basis der prakti- schen Medizin her in Zusammenar- beit mit aufgeschlossenen größe- ren Zentren und unter Unterstüt- zung durch das Forschungsmini- sterium praktische Ergebnisse ge- bracht hat, wie sie von zentralen Institutionen aus den verschie- densten Gründen bisher nicht ge- zeigt werden konnten. Wenn dieser Weg durch Zusammenarbeit aufge- schlossener Kollegen weiter be- schritten wird, ist in absehbarer Zeit die Verwirklichung eines brauchbaren Modells zu erwarten.

Hierbei würde es gelingen, die Vor- züge der jetzigen freien Praxis, die große Leistungs- und Anpassungs- fähigkeit unter der ständigen direk- ten Aufsicht eines erfahrenen pra- xisnahen Arztes, mit dem letzten Stand der technischen und wissen- schaftlichen Kenntnisse zu verbin- den. Eine solche Lösung könnte die Grundlage für den Fortbestand des bisherigen Systems der bevöl- kerungsnahen medizinischen Ver- sorgung in unserem Lande bilden.

Die weidlich bekannte, zwar viel- fach bestrittene, aber in der Praxis leicht beweisbare große Verzöge- rung der Nachrichtenübermittlung von den bisherigen zentralen Insti- tutionen (Kliniken und Polikliniken) in die Praxis läßt für Pläne zur wei- teren Zentralisierung nur einen als

„Informationsnot" zu bezeichnen- den Zustand in der Betreuung des einzelnen Kranken befürchten.

Anschrift der Verfasser:

Dr. H. P. Gockel, Mainz, Kaiserstraße 82

Dr. W. Giere, J. Krause, W. Nagel, Dr. W. Traunecker,

Rechenzentrum der Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD), 62 Wiesbaden, Aukammallee 33

Psychiatrie und Antipsychiatrie — eine Wissenschaft

kommt ins Gerede

Johann Glatzel

Medizinische, ideologische und auch politische Momente treffen in der Kritik zusammen, die die Vertreter der „Antipsychiatrie" an der heutigen Psychiatrie üben. Die nicht mehr ganz so neue Linke wirft der Psychiatrie vor, sich zur Disziplinierung von Patienten zugun- sten der kapitalistischen Gesellschaft mißbrauchen zu lassen. Dabei finden nahezu ausschließlich die schizophrenen Erkrankungen Be- rücksichtigung. Der folgende Beitrag setzt sich sehr kritisch und en- gagiert mit der Argumentation der „Antipsychiatrie" auseinander:

„Kritik der Kritik".

DEUTSCHES .ÄRZTEBLATT Heft 19 vom 9. Mai 1974 1415

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