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Bericht und Meinung DIE GLOSSE
Die „Gaiche"
Wissen Sie, lieber Leser, was auf der Rückseite eines bundesdeut- schen Zwanzig-Mark-Scheines abgebildet ist? Sie wissen es nicht? — Sie brauchen sich dessen auch nicht zu schämen. Ein Bank- prokurist, ein Bankdirektor und ein Sparkassenkassierer wußten es ebenfalls nicht. Nur die Lands- leute aus dem „anderen Deutsch- land" haben sich diesen Geld- schein offenbar genauer angese- hen. Das auf der Kehrseite dieser Banknote abgebildete Streichin- strument ist für sie zur Wunder- geige geworden, und so heißt die- ser begehrte Schein kurz: die Gei- ge.
Auf gut sächsisch: 'ne „Gaiche".
Zutage trat dies auf einem Dresde- ner Klassentreffen des Jahrganges 1910, das seine besondere Note durch die Anwesenheit der Kame- raden aus der DDR erhielt.
Eine gewisse Peinlichkeit haf- tet einem solchen Treffen nach na- hezu einem halben Jahrhundert an.
Im Wiedererkennen und der Er- kenntnis, wie entsetzlich alt doch die einstigen Mitschüler geworden sind, sieht man gleichsam in den Spiegel und bemerkt schmerzlich den eigenen Altersverfall. Um dies und das ewige, nostalgische
„weißt Du noch" zu überbrücken, kam man sich im Erzählen von Witzen näher. Witze sagen oft mehr aus über die Lage der beiden Deutschlands als langatmige Er- zählungen.
Also: kennt Ihr den?
Eine ostdeutsche Delegation des Kraftwerkes „Rote Pumpe" hat ihr Soll übererfüllt und darf Moskau besuchen. Auf dem Roten Platz ist wie üblich großes Gedränge vor dem Leninmausoleum. Man reiht sich hinten ein. Nur Paul Kluge überrundet die Schlange, geht zum Wachtposten und kommt
schon nach relativ kurzer Zeit zu seinen Genossen zurück. „Hast Du Lenin schon gesehen? Wie hast Du das gemacht?" — „Ganz ein- fach", erwidert er. „Ich hab' ne Gaiche hochgehalten, daraufhin haben sie mir Lenin gleich heraus- gebracht!"
Sicher grenzt dieser Witz für einen reliquiengläubigen Kommunisten an Blasphemie. Man lacht halt gern dort, wo es nichts zu lachen gibt nicht nur in Sachsen!
In der Tat vermag eine Gaiche vieles. Sie zaubert den Handwer- ker nach wochenlangem Warten blitzartig herbei. Mit der freundli- chen Bemerkung „Frau Doktor, wir haben Sie schon nicht verges- sen", repariert er die Wasserlei- tung.
Auch längst vergriffene Waren kann so eine Geige herbeizau- bern:
„Ach ja, da hatten wir noch ein tadelloses Gerät zur Prüfung zu- rückhalten müssen." Ersatzteile für den Trabant oder den Lada, so man hat, sind beim Anblick einer Geige plötzlich wieder auf Lager, natürlich ganz hinten, fast hätte man sie vergessen!
Auch als „Sesam, öffne dich!" be- währt sich die Geige im „anderen Land". In der Poliklinik verkürzt sie die Wartezeiten eventuell um Monate. Beim Zahnarzt wirkt sie sehr schnell schmerzstillend. Im guten HO-Restaurant macht eine Geige, ja, schon der Verdacht ei- ner solchen im Westhabit, einen reservierten Sitzplatz vor allen an- deren in der wartenden Schlange frei. Alle Menschen sind gleich, nur der Besitzer einer Gaiche ist gleicher und kommt deshalb auch gleich dran.
Also, mehr Respekt vor unserem Zwanziger, den wir doch so oft umgedreht haben, ohne um des- sen Zauberkraft für die zu wissen, denen der Himmel weiß Gott nicht voller Geigen hängt.
Dr. med. E. Spengler
Wartezeiten
In den letzten 20 Jahren hat man in Schweden bis zu Kleinstädten hin Krankenhaus-„Kathedralen" oft enormen Ausmaßes gebaut, die die gesamte staatliche Kranken- versorgung übernehmen sollten.
Die Behandlungsmöglichkeiten durch niedergelassene Ärzte wur- den radikal gedrosselt. Es gibt heute im ganzen Lande nur noch etwa tausend; die Zahl sinkt we- gen allgemeiner Erschwerungen ständig. Gleichzeitig gelang es aber nicht, für die alltäglichen Er- krankungen ein funktionierendes Poliklinikwesen an den Kranken- häusern aufzubauen. Was Wun- der, daß heute auch für banale Be- handlungsfälle die Wartezeiten bis zu einem Besuchstermin für den Patienten oft Wochen und Jahre betragen, so bei HNO, Augen, Orthopädie usw. Folgend ein
„Prachtbeispiel" von einem Stockholmer Praktiker, der im Ja- nuar 1979 eine Patientin mit einem
„schnellenden Finger" in die chir- urgische Poliklinik des Karolinska Universitäts-Krankenhauses zur ambulanten Behandlung überwies und den nachstehenden vorge- druckten Bescheid bekam:
„Wir haben Deine Überweisung für die Patientin XY bekommen.
Unsere Möglichkeiten, Patienten anzunehmen, sind jedoch sehr be- grenzt, und in diesem Fall rechnen wir damit, daß es mindestens 6 Jahre dauert, bis wir den Patienten zur Untersuchung bestellen kön- nen. Die Überweisung wird da- nach in der üblichen Weise beant- wortet.
Mit freundlichen Grüssen
Bengt N Lars Ö . .
Oberarzt Oberarzt
Plastikchir. Klin. Handchir. Klin."
Eigene Schlußfolgerungen über zu viele Krankenhaus-Großbauten, über die Automatisierung, die Planwirtschaft und die Sozialisie- rung sind zugelassen.
G. H. Fischer, Stockholm
DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 29 vom 19. Juli 1979 1897