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Archiv "4 Fragen an… Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer" (12.12.2008)

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 105⏐⏐Heft 50⏐⏐12. Dezember 2008 A2699

T H E M E N D E R Z E I T

nämlich nachweisen können, be- richtete von Bueltzingsloewen in Gießen, dass die 45 000 Hungerto- ten, die die Anstaltsstatistiken aus- wiesen, nicht Opfer von „Euthana- sie“ gewesen seien. Der steile An- stieg der Todeszahlen ab Mitte 1940 sei vielmehr auf die allgemeine Nahrungsknappheit im Vichy-Frank- reich zurückzuführen. Im normalen Alltag habe man sich gegenseitig helfen können, doch die von ihren Familien vielfach abgeschobenen Psychiatriepatienten hätten solche zusätzlichen Versorgungsmöglich- keiten nicht gehabt. Immerhin hätte die Vichy-Regierung auf Drängen der Anstaltspsychiater 1942 die Ra- tionen erhöht.

Der Ordre tat sich schwer Die Anklagen und Urteile des Nürn- berger Ärzteprozesses wegen „Eu- thanasie“ und Experimenten an Men- schen (1947) wurden in Frankreich zwiespältig aufgenommen. Darauf deutet ein Vergleich der Bericht- erstattung zweier führender ärztlicher Zeitschriften, „La Presse Médicale“

und „Le Concours Médical“, hin, über die der Medizinhistoriker Etienne Lepicard (Gießen/Jerusalem) berich- tete. Während „La Presse“, die sich vorwiegend an Ärzte in Universitäts- kliniken richtet, 1946/47 häufig und ausführlich berichtete (und über die Motive rätselte, die Ärzte zu Helfers- helfern der Vernichtung machten), schwieg sich „Le Concours“, bis auf eine Ausnahme, aus. Zielgruppe des

„Concours“ waren die niedergelasse- nen (Haus-)Ärzte. Lepicard vermu- tete, die unterschiedliche Behand- lung des Themas habe an den Ziel- gruppen gelegen.

1950 sprach sich die Académie Nationale de Médecine, eine re- nommierte wissenschaftliche Verei- nigung, gegen Ethikkurse in der Medizinerausbildung aus – mit der verblüffenden Begründung, die Leute könnten sonst denken, man habe etwas aus der Naziperiode zu verbergen. Die Académie plädierte stattdessen dafür, die Frage zu- nächst auf internationaler Ebene zu behandeln.

Die Ärzteschaft tat sich mit der Vergangenheit schwer, so auch die Ärztekammer (L´Ordre des Méde-

cins) mit ihrer Rolle bei der Aus- schaltung jüdischer Ärzte. Diesen Ordre hatte die Vichy-Regierung 1940 als Standesorganisation der Ärzte gegründet. Der Ordre habe zwar die anitisemitische Politik nicht selbst gemacht, in Einzelfällen auch Ärzte im Beruf zu halten ver- sucht, die Vichy-Politik aber umge- setzt und damit die Berufsethik „un- heilbar kopromittiert“, resümierte in Gießen Donna Evleth (Paris). Die Erinnerung daran wurde lange ver- drängt. Als der Ordre 1995 sein 50- jähriges Jubiläum beging, rekurrier- te er auf die Wiedergründung 1945 und ließ Vichy außen vor. Noch 1997 erlebte der Präsident des Ordre, Bernard Glorion, einen „Feuer- sturm der Kritik“ (Evleth), weil er die Rolle der Ärzteschaft bei der Ausschaltung jüdischer Ärzte be- dauerte. Erst 2007 nahm der neue Präsident des Ordre, Michel Leg- mann, die Entschuldigung wieder auf. Legmann ist Jude und sieht sei- ne Wahl an die Spitze des Ordre als Beginn einer neuen Ära, die mit Glorions Entschuldigung 1997 be- gonnen habe.

Während in Deutschland die be- schämende Haltung der Ärzteschaft gegenüber ihren jüdischen Kollegen inzwischen auch offiziell eingestan-

den wird, fehlen bislang vergleich- bare Entschuldigungen gegenüber den Opfern von Euthanasie und Menschenversuchen. Anlässlich des Gießener Kongresses wies der Prä- sident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, darauf hin, dass die deutsche Ärzteschaft (erst) seit Mitte der 90er-Jahre öffentlich bekannt habe, dass Ärzte national- sozialistische Verbrechen aktiv un- terstützt hätten. Die übergroße Mehrheit der Ärzte habe geschwie- gen oder sei einverstanden gewesen.

Die Erkenntnis, dass Ärzte sich ak- tiv am systematischen Kranken- mord beteiligt hätten, sei nicht er- träglich. Die Ärzteschaft habe sich jedoch in den vergangenen Jahren intensiv mit den Verbrechen, die von Ärzten verübt worden seien, auseinandergesetzt. Gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt erklärte Hop- pe zudem, weitere Schritte seien an- gezeigt(siehe Interview).

Am Beispiel der Deutschen Ge- sellschaft für Kinderheilkunde und dem „Fall Catel“ zeichnete der Medizinhistoriker Sascha Topp (Gießen) das Auf und Ab der Aufar- beitung einer belastetenVergangen- heit nach. Werner Catel war als Gut- achter des „Reichsausschusses“ mit- verantwortlich für die „Kindereu-

Hat die Ärzteschaft über die Mitwirkung von Ärzten an Medizinverbrechen wie

„Euthanasie“ oder Experi- menten an KZ-Gefangenen zu lange geschwiegen?

Hoppe:Abgesehen von einer kurzen Periode während und nach dem Nürnberger Ärzte- prozess, der von der Ärzte- kommission unter Mitscherlich beobachtet wurde, ist lange nichts geschehen. Aber auch schon damals kam es nicht zu einer wirklichen Auseinander- setzung, geschweige denn zu einem Schuldeingeständnis.

Eine gewisse Wende kam dann mit dem Ärztetag 1987.

Ihr Vorgänger Karsten Vilmar sprach damals von „Scham“

und „Gnade des Verzeihens“.

Dies setzt eine Bitte an die Opfer um Verzeihung voraus.

Hat es die je gegeben?

Hoppe:Meines Wissens nicht.

Ich denke aber, es wäre wirklich an der Zeit, auf die Opfer oder deren Angehörige zuzugehen.

Wie stellen Sie sich das vor?

Hoppe:Eine kleine Kommission bei der Bundesärztekammer könnte zunächst den Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse zu „Euthanasie“ und Menschen- versuchen zusammenfassen.

Darauf folgt eine öffentliche Bitte um Verzeihung, verbunden zum Beispiel mit einem symbo- lischen Akt gegenüber einem Opfer.

Das dauert noch lange?

Hoppe:Nein. Was den Stand der Wissenschaft angeht, so geht es im wesentlichen um eine Literaturstudie. Der Schritt auf die Opfer zu schließt sich unmittelbar an. Das kann noch in dieser Wahlperiode des Vorstands der Bundesärzte- kammer sein. Und die endet mit dem Deutschen Ärztetag 2011.

Die Fragen stellte Norbert Jachertz.

4 FRAGEN AN…

Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe,

Präsident der Bundesärztekammer

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