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Archiv "USA: Notfall „Notfallmedizin“" (13.10.2006)

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m Fernsehen ist Amerikas Not- fallmedizin sehr beeindruckend:

Serien wie der weltweit erfolgreiche TV-Export „ER“ lassen einen Blick in den Arbeitsalltag dynamischer, gut aussehender Ärzte und stets profes- sionell und „cool“ agierender Schwes- tern erhaschen. Was immer den Pati- enten in den Emergency Room führt, ob Schussverletzung, Verkehrstrau- ma oder multiple Explosionstraumen – „Bagdad ER“ ist die gerade ange- laufene und im nahöstlichen Krisen- gebiet spielende Steigerung des Gen- res –, die Rettung ist mit Betreten der Notambulanz nahe. Doch in der Rea- lität sieht es anders aus.

Nach Einschätzung amerikani- scher Gesundheitsexperten steht das System der „Emergency Care“ kurz vor dem Kollaps. Lediglich der heroische Einsatz von Ärzten, Pfle- gern und anderen Angehörigen der im Emergency Room vertretenen Berufsgruppen, ihre schier endlosen Dienstzeiten und unzählige Über- stunden haben den Zusammenbruch bislang verhindert.

Bei einer Tagung der National Academies of Science (NAS) in Wa- shington DC wurde jetzt der Bericht einer 25-köpfigen Expertenkommis- sion vorgestellt, die den Zustand der amerikanischen Notfallmedizin un-

tersucht hat. Deren Resultate zeich- nen ein Bild, das keine Ähnlichkeit mit dem Geschehen auf den Bild- schirmen hat. „Es klafft eine große Lücke zwischen dem, was die Öffent- lichkeit weiß oder zu wissen glaubt, und der Realität. Und es wird konti- nuierlich schlechter“, sagte einer der Autoren. Brent Eastman, Chirurg und Chef des Scripps Health Hospitals im kalifornischen San Diego, sprach da- von, dass die Krise jeden der Anwe- senden bedrohen könne.

Unvorstellbare Enge

Einer der Gründe ist das zunehmen- de Auseinanderklaffen der Schere zwischen Bedarf und Angebot. Von 1993 bis 2003 stieg die Bevölke- rungszahl in den USA um zwölf Pro- zent, die Zahl der Patienten in den Emergency Rooms nahm um 27 Pro- zent zu. Doch im selben Zeitraum wurden 425 notfallmedizinische Ein- richtungen sowie 70 Krankenhäuser mit fast 200 000 Betten geschlossen.

In den vorhandenen Notfallambulan- zen herrscht eine oft geradezu unvor- stellbare Enge. Patienten stauen sich regelrecht im und vor dem ER, weil keine Betten auf regulären Stationen für sie zur Verfügung stehen.

Dazu kommt das alte Problem, dass nicht alle Patienten, die in die

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USA

Notfall „Notfallmedizin“

Allein der selbstlose Einsatz der Mitarbeiter in den „Emergency Rooms“ bewahrt das System noch vor dem Kollaps.

Notambulanz kommen, auch wirk- lich Notfälle sind. Der „Notfall- raum“ ist jene Einrichtung des ame- rikanischen Gesundheitswesens, in der jeder Patient Anspruch auf Be- handlung hat, ohne dass es ihm zum Nachteil gereicht, dass er keine Kre- ditkarte und auch keine Kranken- versicherung hat. 46 Millionen Amerikaner sind nicht krankenver- sichert – der „ER“ ist ihre natürliche und meist auch einzige Anlaufstelle.

Entsprechend fällt die wirtschaftli- che Bilanz der meisten notfallmedi- zinischen Einrichtungen tiefrot aus.

Bei einem Anteil von 14 Prozent nicht versicherter Patienten, 16 Pro- zent Empfängern von Medicaid (staatliches Programm für Arme) und 21 Prozent Empfängern von Me- dicare (für ältere Mitbürger) machen die Notfallzentren kaum Gewinn.

Die Überfüllung der Zentren hat zu einer zunehmenden Ratlosigkeit bei der Distribution geführt. Im Jahr 2003 sind insgesamt 501 000 Am- bulanzen von den ursprünglich an- gefahrenen Kliniken und Notfall- einrichtungen abgewiesen worden, weil diese überfüllt waren. Die län- geren Transportzeiten und die Verle- gung in weniger spezialisierte Kli- niken haben einen nicht genau veri- fizierbaren menschlichen Preis.

Eine Untersuchung in San Diego, so Brent Eastman vom Scripps Health Hospital, lässt vermuten, dass 22 Prozent der Todesfälle beim oder nach dem Notfalltransport hätten ver- hindert werden können. Das Gefälle innerhalb des Landes zwischen gut funktionierenden Einrichtungen und dekompensierter Notfallmedizin ist groß. Die Postleitzahl, und damit der Ort des Notfalls, kann nach Eastmans Einschätzung über Leben und Tod entscheiden. In einer County (Land- kreis) mag die Überlebensrate nach einem Herzstillstand bei 50 Prozent liegen, in der benachbarten County vielleicht nur bei fünf Prozent.

Problematisch ist auch die Un- attraktivität des Systems für Ärzte.

48 Stunden oder mehr unter enor- mem Stress zu arbeiten und stets das Damoklesschwert über sich zu wis- sen, im Falle eines tatsächlichen oder vermeintlichen Fehlers auf eine astronomische Summe verklagt zu werden, die ein normaler Arzt im Auf dem Bild-

schirm ist die Welt noch in Ordnung:

Serien wie „Emer- gency Room“ ideali- sieren die Arbeit in

der Notaufnahme. Foto:Warner Bros.Television

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Laufe seines Berufslebens kaum auf ehrliche Art verdienen kann – dies lässt viele Ärzte nach einer anderen Form der Berufsausübung Ausschau halten. Vor allem Spezialisten fehlen dem Notfallsystem – die Zahl der Neurochirurgen beispielsweise hat im Laufe der letzten zehn Jahre bei steigender Nachfrage abgenommen.

Das Komitee kam zu einer Reihe von Empfehlungen, die angesichts begrenzter Mittel wohl eher Wunsch- denken bleiben dürften. Zum einen soll durch erhöhte, vom Kongress zu beschließende Mittelbewilligung die Personalsituation in den ERs verbes- sert werden. Das Management der Einrichtungen soll verbessert wer- den, unter anderen sollen sogenann- te Clinical Decision Units eingerich- tet werden, in denen Patienten bis zu 23 Stunden beobachtet werden kön- nen, bevor über eine stationäre Auf- nahme entschieden wird. Auch soll das bislang fraktionierte Notrufsys- tem 9-1-1 landesweit vereinheitlicht werden. In der amerikanischen Me- dizin gebe es „Inseln der Exzellenz“, einzelne Zentren mit erstklassiger Versorgung. Es sei die Aufgabe der Entscheidungsträger im amerikani- schen Gesundheitssystem, dafür zu sorgen, dass diese Inseln zu einem flächendeckenden Ozean guter me- dizinischer Notfallversorgung zu- sammenwachsen. Wann – und ob – dieser paradiesische Zustand erreicht werden kann, darüber schwiegen sich die Experten aus.

Drohender Offenbarungseid Mit der Tatsache, dass es um die amerikanische Notfallmedizin nicht zum Besten steht, wurde die Öffent- lichkeit zuletzt vor fünf Jahren kon- frontiert. Damals brachte das Nach- richtenmagazin U.S. News and World Report die Titelgeschichte

„Crisis in the ER“. Erscheinungsda- tum war der 10. September 2001.

Einen Tag später zeigten sich die Grenzen der notfallmedizinischen Versorgung. Bei einer vergleichba- ren Katastrophe, ob terroristischen Ursprungs oder auf Naturgewalten wie den Hurrikan „Katrina“ zurück- gehend, steht nach Einschätzung der NAS-Experten der Offenbarungseid

des Systems bevor. n

Dr. med. Ronald D. Gerste

bau des dreistöckigen dunkelroten Backsteinhauses, das ihr das Be- zirksamt Mitte in der Pflugstraße für zehn Jahre mietfrei zur Verfügung gestellt hat.

Unter einem Dach vereint finden die Obdachlosen in diesem geräu- migen Bau nicht nur eine medizini- sche Praxis mit eigenem Labor, son- dern auch sozialpädagogischen, ju- AMBULANTE HILFE FÜR OBDACHLOSE

Wenn Socken in die Haut wachsen

Für Jenny de la Torre hat sich ein Traum erfüllt:

In Berlin-Mitte gibt es seit Kurzem das erste Gesundheitszentrum für kranke Obdachlose.

S

ie hat so gar nichts Engelhaf- tes. „Ich bin nicht die ,Gute vom Dienst‘, ich bin nur Ärztin“, sagt sie und wehrt lächelnd alle selbstlosen Vergleiche ab, die Jour- nalisten ihr in diesen Tagen zu- schreiben. Dann schweigt Jenny de la Torre. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.

Die 52-jährige Fachärztin für Kinderchirurgie kümmert sich be- reits seit 1994 um kranke Obdachlo- se in Berlin. Zuerst viele Jahre am Ostbahnhof und jetzt, endlich, in ihrem eigenen Gesundheitszentrum.

Anderthalb Jahre dauerte der Um-

Foto:epd

Das Gesundheits- zentrum in der Berliner Pflugstraße beherbergt neben einer Allgemeinarzt- praxis Räume für Rechtsberatung und psychologische Be- treuung sowie eine Kleiderkammer und eine Suppenküche.

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den vergangenen Jahren umzugehen gelernt. „Ich weiß, dass sie nicht mich meinen. Wenn sie alles rausge- brüllt haben, werden sie meist ganz ruhig.“ Freimütig gesteht sie, dass auch sie am Anfang daran zweifelte, ob sie die Richtige für diesen Job ist.

Zumindest diese Frage ist mittler- weile klar beantwortet.

In ihrer täglichen Praxis sieht Jenny de la Torre Hauterkrankungen wie die Schleppe oder Krätze, offe- ne Beine, Parasiten, Lungenproble- me, Pilze und infizierte Wunden.

Die Liste der häufigen Erkrankun- gen ist lang. „Die Behandlung ist nicht jedermanns Sache“, sagt sie lakonisch und erklärt auf Nachfra- ge, dass Famulanten oder Pflege- kräften schon mal übel wird, wenn sie eine madige Wunde säubern müssen. Schlimm seien auch die festgewachsenen Socken. „Wie hält ein Mensch so etwas aus? Wie kann ich so jemanden trösten? Ein Ver- band ist schnell gemacht, aber was kommt dann?“, fragt sie, ohne eine Antwort zu erwarten.

Besonders angespannt ist die Ärztin, wenn ein Patient so schwer krank ist, dass er ins Krankenhaus eingewiesen werden muss. Ohne Versicherungskarte ist das nicht so einfach, von belegten Betten und nicht verfügbaren Ambulanzen ganz zu schweigen. „Alle Seiten auf ei- nen Punkt zu kriegen ist manchmal mühsam.“ „Aber“, sagt sie und strahlt dabei, „es gelingt öfter, als man denkt.“

ristischen und psychologischen Rat.

Sie können hier duschen, die Klei- dung wechseln und zu Mittag essen.

Nur Schlafstätten gibt es nicht. Dass sich alles an einem Ort befindet, ist für Jenny de la Torre ganz wich- tig. „Unser Angebot muss niedrig- schwellig sein, wenn wir die Ob- dachlosen reintegrieren wollen“, sagt die gebürtige Peruanerin. Wenn irgend möglich, will sie ihre Patien- ten von der Straße wegkriegen. Al- les andere sei nur ein Herumdoktern an Symptomen.

Allerdings weiß die Ärztin, dass die Wiedereingliederung ein langer Weg ist. Bei neuen Patienten be- ginnt sie meist ganz vorsichtig:

„Manchmal höre ich beim ersten Kontakt nur zu, stelle Fragen, inte- ressiere mich für ihr bisheriges Le- ben. Ich behandele sie wie andere Menschen auch. Das sind sie oft nicht mehr gewöhnt.“ Denn ihr ver- wahrlostes Aussehen, der beißende Geruch, die oft starke Alkoholfahne wirken auf viele Menschen ab- schreckend. Nicht selten schlägt ih- nen Verachtung entgegen. Kommen die Obdachlosen in die Praxis, toben sie manchmal oder schreien herum, vor allem, wenn sie betrunken sind.

Doch mit all dem hat die Ärztin in

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www.delatorre-stiftung.de

In der täglichen Arbeit kann Jenny de la Torre auch nicht auf die therapeutische Wirkung von Wärm- flaschen oder gemütlichen Sofas vertrauen. Die Therapie findet in der Praxis statt und nur da. Der Verband muss einwandfrei sitzen und mindestens eine Woche halten.

Bei der Salbe greift sie schon mal zu einer teuren, die bereits bei einmaliger Anwendung wirkt und kaum Nebenwirkungen hat. Medi- kamente sind auch so eine Sache:

Einige schlucken sie nach Vor- schrift, andere teilen sie mit der besten Freundin oder verkaufen sie an einen Kumpel. Für jeden ihrer Patienten sucht die Medizinerin da- her eine praktische Lösung.

Für die meisten Krankheiten fin- den sich in der hauseigenen Apo- theke die richtigen Tabletten oder Tropfen. Doch hin und wieder feh- len bestimmte Arzneimittel. Denn das Gesundheitszentrum ist abhän- gig von Medikamentenspenden. Je- de Woche trudeln per Post Päckchen aus Krankenhäusern oder Praxen ein. Allerdings müssen die Mitar- beiter teilweise bis zu 90 Prozent der Spenden wieder in Apotheken entsorgen: „Ich kann nicht 40 Kisten Paracetamol gebrauchen, wenn die Schmerzmittel nur einen Monat haltbar sind, oder zehn Kartons eines speziellen Cortisonmittels.

Das brauchen wir hier nicht“, klagt die Ärztin. Besser wäre es, wenn die Spender vorher fragten, wel- che Arzneimittel wirklich gebraucht werden.

Jenny de la Torre hat lange für dieses Gesundheitszentrum ge- kämpft. „Endlich gibt es einen Ort, an dem Obdachlose behandelt und so angenommen werden, wie sie sind“, sagt sie. Eine Rückkehr nach Peru kann sie sich im Moment nicht vorstellen. Aber was sollte sie dort auch? Zweimal bereits hat sie es versucht, doch in der Hei- mat waren die bürokratischen Hür- den für die Fachärztin so hoch, dass sie kapitulieren musste. Welch ein Glück für die Obdachlosen von

Berlin! n

Petra Meyer

Unser Angebot muss niedrigschwellig sein, wenn wir die Obdachlosen

reintegrieren wollen.

Die Richtige für ihren Job:Seit Jahren kämpft Jenny de la Torre für eine bessere medizinische Ver- sorgung der Beliner Obdachlosen.

Foto:ddp

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