DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Aktuelle Politik Im Schatten von Tschernobyl
die "normale" Gefährdung der Umwelt
W
er redet eigentlich noch von den Weinskandalen oder vom sauren Regen?Tschernobyl hat das alles zuge- deckt. Doch die — vergleichswei- se — „normale" Gefährdung der Umwelt besteht nach wie vor.
Sie stand auch auf der Tagesord- nung des 89. Deutschen Ärzteta- ges, die lange vor der Reaktor- Katastrophe festgelegt worden war: Umwelt und Gesundheit hieß das Generalthema, und be- raten wurde in Hannover über Luft, Wasser, Boden und Lärm.
Doch die Katastrophe in Tscher- nobyl hinterließ selbstverständ- lich ihren Eindruck. Als der Ärz- tetag über „Umwelt" beriet, wa- ren freilich die Informationen mager. Spekulationen und Be- fürchtungen schossen dafür um so mehr hoch. Professor Dr.
Heyo Eckel, der erste Referent zu dem Umweltthema des Ärzte- tages, konnte denn auch nur we- nige Ratschläge vermitteln. Im- merhin warnte er — als einer der ersten überhaupt — vor dem be- denkenlosen Konsum von Jod- tabletten. Ecket beklagte, daß die Informationen über das Un- glück so spärlich und so spät ka- men. Auch in einer Entschlie- ßung des Ärztetages wird die In- formationspolitik der Sowjet- union bemängelt. Im übrigen blieb der Ärztetag bei den ur- sprünglich gewählten Themen.
Inzwischen ist die Informations- lage in Sachen Tschernobyl bes- ser, wenn auch gewiß noch nicht befriedigend. Beklagenswert sind nach wie vor unterschied- liche Empfehlungen seitens der Verantwortlichen des Bundes und einzelner Länder (dazu auch
111.1 ■ 111111MIP
Über Umweltschutz hat der 89.
Deutsche Ärztetag in Hannover beraten. Die Themen:
O Arzt und Umwelt
• Luftverunreinigung
• Trinkwasserprobleme
• Bodenverunreinigung
• Lärm und Umwelt
• Die Aufgaben des Arztes im Umweltschutz
(und dazu — unprogrammge- mäß — Tschernobyl)
die „Seite eins" des Heftes 20:
„Mairegen ohne Segen - ). Wenn freilich ausgerechnet der hessi- sche Sozialminister jetzt solche Differenzen beklagt, so erstaunt das, denn gerade Hessen hat mit seinen abweichenden Empfeh- lungen nach Kräften zu der Ver- unsicherung beigetragen.
Aus aktuellem Anlaß hat der Prä- sident der Bundesärztekammer, Dr. Karsten Vilmar, klargestellt, daß die hierzulande bisher ge- messene erhöhte radioaktive Strahlung für das ungeborene Kind nach dem Stand der Wis- senschaft unschädlich ist und daher der Abbruch einer Schwangerschaft aus Furcht vor eventuellen Strahlenschäden nicht gerechtfertigt ist.
Nach wie vor bleibt freilich die grundlegende Ungewißheit, wie sich relativ geringe Strahlenbe-
lastungen im Laufe von Jahren und Jahrzehnten gesundheitlich auswirken, vor allem, ob da- durch das Risiko, an Krebs zu erkranken, zunimmt. Dazu hat die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlich-Medizinischen Fachgesellschaften soeben vor- sichtig Stellung genommen:
„Bösartige Tumoren sind mit ei- ner zeitlichen Verzögerung von bis zu mehr als 30 Jahren nach ei- ner kurzzeitigen Strahlenabsorp- tion von etwa 50 rem in etwa fünf Prozent der strahlenbelasteten Menschen zusätzlich zur sponta- nen Krebshäufigkeit beobachtet worden. Bei steigender Bestrah- lung steigt der Prozentsatz derer- krankten Menschen in der bela- steten Bevölkerung. Es ist nicht bekannt, ob bösartige Tumoren auch nach kurz-oder langfristiger Absorption von weniger als 50 rem auftreten. Für den Strahlen- schutz wird aber angenommen, daß eine lineare Beziehung be- steht zwischen der absorbierten Strahlenmenge und der Wahr- scheinlichkeit einer Krebserkran- kung im betroffenen Organis- mus. Alle bisherigen Beobach- tungen und experimentellen Er- fahrungen lassen es möglich er- scheinen, daß das spontane Risi- ko, an einem bösartigen Tumorzu sterben, in den westlichen Indu- strieländern um etwa 0,1 Prozent pro ein rem absorbierter Strah- lenmenge angehoben wird."
Im übrigen sei auf das Editorial im medizinisch-wissenschaft- lichen Teil dieses Heftes hinge- wiesen sowie, was die „norma- le" Umweltgefährdung angeht, auf die nun folgende Berichter-
stattung. NJ
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 21 vom 21. Mai 1986 (21) 1505