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Archiv "Dr. Karsten Vilmar: Keine Wende ohne geistige Neuorientierung" (27.05.1983)

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Bericht und Meinung Eröffnungsveranstaltung

Dr. Karsten Vilmar

Keine Wende

ohne geistige Neuorientierung

Der Präsident der Bundesärzte- kammer und des Deutschen Ärzte- tages, Dr. Karsten Vilmar, hatte seinem Referat für die Eröffnungs- veranstaltung des 86. Deutschen Ärztetages den Titel „1983 — Wen- de auch in der Gesundheitspoli- tik" gegeben. Damit knüpfte Vil- mar bewußt an die politische Wen- de in Bonn an. Vilmar hält eine Neuorientierung auch der Ge- sundheitspolitik jetzt grundsätz- lich für möglich, nachdem durch den Wählerentscheid die „läh- mende hektische Betriebsamkeit"

ein Ende finden kann; er warnt aber vor der Hoffnung, mit dem Wahlausgang allein seien schon die Probleme gelöst. Ein Neube- ginn setze vielmehr eine geistige Neuorientierung voraus. Vilmar:

„Man muß sich von der Vorstel- lung der Allmacht dirigistischer staatlicher Fürsorge und Versor- gung trennen, ausladenden So- zialbarock und schwülstige Ver- sorgungsüberhänge entfernen, um die akute Einsturzgefahr für die tragenden Elemente unserer sozialen Sicherung zu bannen."

Einsturzgefahr drohe vor allem durch die Schuldenlast der öffent- lichen Hand, die noch nicht über- wundene wirtschaftliche Rezes- sion, den hohen Arbeitslosenan- teil und schließlich durch Ver- schlechterung der demographi- schen Bevölkerungsstruktur. Dar- aus folgten steigende Sozialla- sten, andererseits verminderte Steuereinnahmen und weniger Einnahmen einiger Sozialversi- cherungsträger. Vor allem eine Neuordnung der Altersversorgung werde unumgänglich. Vilmar wies in diesem Zusammenhang — beru- higend — darauf hin, daß in der Neuordnung der Rentenversiche- rung die berufsständischen Alters- versorgungswerke nicht einbezo- gen werden sollen, zumindest nicht nach dem gegenwärtigen

Stand der Erkenntnis (wenn auch Bundesarbeitsminister Blüm in der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung einen Tag vor Beginn des Ärztetages sich in dieser Frage nicht eindeutig geäußert hat).

Dr. Vilmar setzte sich vor dem Ärz- tetag und vor den prominenten Politikern, die bei der Eröffnungs- veranstaltung anwesend waren, mit den Voraussetzungen für eine Neuorientierung der Gesundheits- und Sozialpolitik eingehend aus- einander. „Das breitgefächerte und alle Bürger und Lebensberei- che oft genug unabhängig von der eigenen Leistungsfähigkeit erfas- sende Angebot an Sozialleistun- gen muß wieder auf das Wesentli- che begrenzt werden", betonte er.

„Übertriebene oder sogar miß- bräuchliche Ausschöpfung weit- gefaßter Rechtsansprüche muß im Interesse der wirklich Hilfsbedürf- tigen unterbunden werden.

Schmerzhafte Kürzungen sind nicht zu vermeiden." Zu den not- wendigen Einsichten gehören die Erkenntnis, daß jeder Mensch für seine und seiner Familie Gesund- heit, Sicherheit und Wohlergehen zunächst selbst verantwortlich ist, fuhr Vilmar fort und wörtlich: „An Stelle öffentlichen Anreizes zu un- begrenzter Begehrlichkeit, allge- meiner Anspruchshaltung und umfassender Vollversorgungs- nnentalität durch Gesetzgebung, Rechtsprechung und Sozialpubli- zistik müssen Eigeninitiative und Eigenverantwortung freigesetzt und gefordert werden. Erst wenn die Kräfte des Einzelnen durch Krankheit oder unverschuldete Not überfordert sind, tritt nach dem Subsidiaritätsprinzip die Ge- meinschaft ein." Diese Gemein- schaft sei nicht unbedingt gleich dem Staat, vieles lasse sich in klei- nerem Kreise lösen. Die Bereit- schaft dazu, Einfallsreichtum, Ein-

satzbereitschaft und Hilfsbereit- schaft müßten freilich gefördert werden. Vilmar wandte sich unter dem Beifall der Versammlung ge- gen den Vorwurf, solche Forde- rungen bedeuteten Abbau des Sozialstaates: „Diese Grundsätze haben nichts mit rücksichtsloser Ellenbogengesellschaft zu tun. Es geht vielmehr um den in einer frei- heitlichen demokratischen Gesell- schaft selbstverständlichen indivi- duellen Gestaltungsfreiraum, um Selbstverwirklichung im besten Sinne, die in den vergangenen Jahren allzu häufig zu gemein- schaftsfeindlichem, egozentri- schem Sozial-Parasitismus perver- tiert wurde."

Entlastung der Kranken- versicherung von sachfremden Aufgaben

Speziell zur „Wende" in der ge- setzlichen Krankenversicherung:

Vilmar forderte den Staat auf, sich künftig aller Versuche zu enthal- ten, der Krankenversicherung und ihren Beitragszahlern eine Viel- zahl von sach- und versicherungs- fremden Lasten aufzubürden.

„Wenn die gesetzgebenden Kör- perschaften", erklärte er, „eine Absicherung derartiger Fälle aus politischen Gründen für notwen- dig erachten, müssen die dafür an- fallenden Kosten aus staatlichen Finanzmitteln gedeckt werden, der Politiker hat dann diese Aus- gaben zu vertreten." Beifall des Deutschen Ärztetages.

Der Präsident der Bundesärzte- kammer ging auch auf die von der neuen Bundesregierung angekün- digte Neuordnung der Kranken- hausfinanzierung ein. Nach An- sicht der Bundesärztekammer sollten dabei statt der bisherigen planwirtschaftlichen Finanzie- rungskonzeption mit bloßer Ko- stenerstattung nach dem Selbst- kostendeckungsprinzip eine ange- messene Vergütung wirtschaftlich erbrachter Leistungen angestrebt werden. Wenn das bisherige Sy- stem der Misch- und Dualfinanzie- rung verändert würde, dann dürfe Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 21 vom 27. Mai 1983 87

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Die Information:

Bericht und Meinung

Eröffnungsveranstaltung: Vilmar

das freilich nicht bedeuten, „daß sich staatliche Instanzen wegen des Geldmangels in den öffentli- chen Kassen jetzt nicht plötzlich ihren gesetzlichen Finanzierungs- pflichten entziehen dürfen". Das müßte nämlich zwangsläufig zu erneuten Belastungen aller Berei- che des Gesundheitswesens füh- ren. Denkbar wäre allenfalls ein allmählicher und teilweiser Rück- zug des Staates aus seiner Finan- zierungsverantwortung, damit die daraus resultierenden Belastun- gen der Krankenversicherungen durch verbesserte Wirtschaftlich- keit aufgefangen werden könnten.

Vilmar weiter: „Es bleibt jedoch Sache des Staates, Grundkosten für die Vorhaltung von Betten, Ma- terial und Gerät für Notfälle und Katastrophenfälle, wie dies vor- bildlich zum Beispiel in der Schweiz geschieht, zu tragen."

Für eine gesundheitspolitische Wende sei eine intensive Zusam- menarbeit zwischen medizinisch- wissenschaftlichen Fachgesell- schaften, Berufsverbänden und ärztlichen Selbstverwaltungskör- perschaften unumgänglich, um so eine den wissenschaftlichen Er- kenntnissen entsprechende Ver- sorgung aller Patienten unter Be- achtung aller humanitären und ethischen Grundsätze zu sichern.

Als Beispiel einer solchen erfolg- reichen Zusammenarbeit nannte Vilmar die Erarbeitung medizini- scher Orientierungsdaten für die Konzertierte Aktion sowie Bemü- hungen zur Qualitätssicherung in der ärztlichen Berufsausübung.

Alle Bemühungen, die Qualität der Berufsausübung zu sichern, müß- ten allerdings scheitern, wenn es nicht endlich gelinge, die Qualität der Ausbildung zum Arzt zu si- chern. An den Hochschulen fehl- ten häufig die Voraussetzungen für eine sinnvolle Gestaltung der Ausbildung. Vilmar: „In der Medi- zin kann auf die Ausbildung der Ärzte am Patienten nicht verzich- tet werden. Die Zahl der lehrgeeig- neten Patienten, ebenso wie die Zahl berufs- und lebenserfahrener Hochschullehrer, steht jedoch oft

in krassem Mißverhältnis zur riesi- gen Zahl der Lernenden." Vorran- gig sei daher eine Novellierung der Kapazitätsverordnungen der Länder. Vilmar: „Die Zahl der Stu- denten ist nicht mehr nach dem letzten freien Hörsaalplatz in vor- klinischen Semestern zu bemes- sen. Sie muß sich vielmehr an den tatsächlichen vorhandenen Aus- bildungskapazitäten im klinischen Bereich und damit an der Zahl der für die Ausbildung zur Verfügung stehenden Patienten und deren Belastbarkeit orientieren."

Den Staat nicht aus seiner Verantwortung für die Ärzte-Ausbildung entlassen!

Genauso nötig sei allerdings eine Novellierung der Approbations- ordnung. Vilmar erinnerte an die entsprechenden Forderungen Deutscher Ärztetage und vor allem an die Beschlüsse des Nürnberger Ärztetages 1979, die darauf abziel- ten, innerhalb der Ausbildung mehr praktische Kenntnisse und Erfahrungen zu vermitteln. Praxis lasse sich auch durch eine acht- zehnmonatige Vorbereitungszeit als Zulassungsvoraussetzung für die kassenärztliche Tätigkeit ver- mitteln. Vilmar bezeichnete eine solche Vorbereitungszeit aller- dings als eine vorübergehende Notlösung, „bis der Staat endlich den ihm obliegenden Ausbil- dungsverpflichtungen gerecht wird." Die sogenannte Pflichtwei- terbildung — Hauptthema dann des auf die Eröffnungsveranstaltung folgenden Ärztetages — wies Vil- mar zurück: „Eine von manchen geforderte Pflichtweiterbildung, um nicht zu sagen ‚Zwangsweiter- bildung' ist keine Alternative. Der Staat darf nicht aus seiner Verant- wortung für die Ausbildung — auch im berufspraktischen Teil — entlas- sen werden. Er sollte auch nicht versuchen, über die von ihm zu vertretenen Ausbildungsversäum- nisse hinwegzutäuschen."

Schließlich zwei Monita des Präsi- denten der Bundesärztekammer gerichtet an die nach der Wende gebildete Bundesregierung: sie

betreffen die Gebührenordnung für Ärzte und die Gesundheitsfor- schung. Vilmar sieht mit der GOÄ

„eine Bürokratisierung früher un- bekannten Ausmaßes" in die ärzt- liche Praxis einziehen. Die Einfüh- rung von Schwellenwerten müßte darüber hinaus als Weichenstel- lung zur Einheitsversicherung an- gesehen werden. Der Bundesärz- tekammer-Präsident setzte sich auch mit Vorwürfen auseinander, die Ärzte unterliefen die neue GOÄ. „Für diese verallgemeinern- den Feststellungen fehlen jegliche Beweise", erklärte Vilmar. Solche öffentlichen Polemiken schädig- ten das Vertrauensverhältnis zwi- schen Patient und Arzt und nutzen der Sache nicht. Am Programm

„Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit", das die Bundesregierung noch im Februar 1983 beschlossen hat, kritisierte Vilmar, daß damit die neue Regie- rung Vorhaben ihrer Vorgängerin

„nahezu detailgetreu" fortschrei- be. Die neue Bundesregierung wä- re hingegen gut beraten, „die ein- zelnen Vorhaben und deren Pro- jektträger daraufhin zu überprü- fen, ob nicht wissenschaftlich be- mäntelte politische Willensbil- dung geeignet ist, die von ihr be- absichtigte Wende zu verhin- dern".

Zum Schluß seiner Rede vor den Delegierten des Deutschen Ärzte- tages, vor namhafen Politikern der Koalition wie der Opposition und vor vielen Gästen aus dem In- und Ausland, sicherte der Präsident der Bundesärztekammer noch- mals die Bereitschaft der Ärzte- schaft zu sachverständiger Bera- tung zu. Die Politiker sollten die ärztliche Argumentation ernst nehmen und nicht als vordergrün- dige Interessenpolitik zurückwei- sen. Denn „Ziel der Ärzteschaft ist es auch, in Zukunft eine möglichst gute individuelle ärztliche Versor- gung aller Patienten zu sichern.

Dabei muß jedoch Raum bleiben für die Erfüllung individueller Wünsche und Bedürfnisse kranker Menschen, die angesichts von Krankheit, Leiden und Tod nicht entmündigt werden dürfen." NJ 88 Heft 21 vom 27. Mai 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A

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