Prof. Dr. H. J. Pesch
Lehrstuhl f¨ur Ingenieurmathematik Universit¨at Bayreuth
Optimale Steuerung partieller Differentialgleichungen Optimal Control of Partial Differential Equations
(Teil 1: SS 2008) 4. ¨Ubung Vorbemerkung:
Eine etwas versteckte Schwierigkeit besteht in der Definition von Randwerten f¨ur Funktionen aus Sobolewr¨aumen. Was soll z. B. bei einer Funktion y ∈ Wk,p(Ω) die Aussage y = 0 auf Γ = ∂Ω bedeuten? Ist n¨amlich y ∈Lp(Ω), so kann man die Randwerte von y auf Γ beliebig ab¨andern, ohne dass sich y im Sinne des Raumes Lp(Ω) ¨andert, denn Γ ist als Teilmenge des IRN vom Maße Null. Funktionen, die sich nur auf Mengen vom Maß Null unterscheiden, sind aber gleich im Sinne von Lp(Ω), d. h. geh¨oren der gleichen ¨Aquivalenzklasse an. Dieses Problem wird in der ersten Aufgabe n¨aher untersucht und f¨uhrt auf den Spuroperator und den Spursatz, zu dem wir schrittweise einen Beweis f¨ur einen Spezialfall erbringen werden.
Mithilfe des Spursatzes und den nachfolgenden Aufgaben kann man dann die Resultate aus der Vorlesung hinsichtlich Existenz und Eindeutigkeit schwacher L¨osungen auf allgemeinere elliptische Randwertaufgaben erweitern.
Der Spursatz hat ¨ubrigens Auswirkungen bei der Konstruktion von Zelten. An- statt an der Spitze eines Mastes h¨angt man das Zelt am Rande eines ”Tellers“
auf, zum Beispiel bei der Jurte. Eine andere M¨oglichkeit besteht darin, das Zelt zur Vermeidung extremer Spannungen an der Spitze mit einer Leine in Form einer Schlaufe zu versehen. Dadurch wird vermieden, dass die Aufh¨angung nicht an einem Punkt, sondern an der vom
”Tellerrand“ oder von der Schlaufe gebildeten Linie wirksam wird. Dass dies sinnvoll ist, liegt letzten Endes am Spursatz (Theorem 2.1 in § 2.2.3): Die Auswertung einer H1-Funktion an ei- nem Punkt macht keinen Sinn, die Auswertung im L2-Sinne l¨angs einer Linie wird jedoch fast ¨uberall respektiert.
1) Spursatz (Spezialfall) a) (Vor¨uberlegungen)
Es sei Ω∈IRN ein beschr¨anktes Lipschitzgebiet.
Man zeige: Die Aussage, es gibt eine Konstante cτ(Ω)>0 derart, dass kukLp(Γ) ≤cτkukLp(Ω) f¨ur alle u∈C0( ¯Ω).
ist falsch.
Hinweis: Man konstruiere ein Gegenbeispiel f¨ur Ω ∈IR2, indem man eine auf ¯Ω stetige Funktion angebe, die auf Γ konstant, aber ungleich null ist, und im Innern gr¨oßtenteils null ist. Die Flanken zum Rand des Gebietes sollen dabei wie 1ε, ε >0, ansteigen.
b) (Spursatz, Spezialfall)
Es sei Ω⊂IR2 ein beschr¨anktes Lipschitzgebiet.
Man zeige: Dann gibt es eine beschr¨ankte, lineare und damit stetige Abbildung
τ: H1(Ω) →L2(Γ) mit τ(u) = u|Γ
und kτ(u)kL2(Γ)≤cτkukH1(Ω) ∀u∈C1( ¯Ω). Hinweise: Den nicht einfachen Beweis wollen wir uns schrittweise erar- beiten:
1. Schritt: Da Ω ein Lipschitzgebiet im IR2 ist, gibt es gem¨aß Definition endlich viele Randst¨ucke Γ1,Γ2,. . .,ΓM mit geeigneten Parametrisierun- gen hi ∈ C0,1 sowie positiven Konstanten a, b, so dass nach geeigneten lokalen Koordinatentransformationen die Gebiete
Ωi ={(x, y)∈IR2: hi(y)< x < hi(y) +b , |y|< a}
in Ω enthalten sind und mit Ω in Γiein gemeinsames Randst¨uck haben — das sind die Teilgebiete Ωi von Ω, die an Γi angrenzen; vgl. Definition
”Lipschitzgebiet“ bzw.
”Regul¨ares Gebiet“ in Kapitel 2.2.2.
2. Schritt: Man w¨ahle u ∈ C1( ¯Ω) und (x, y) ∈ Γ beliebig. Dann gilt mit 0≤t ≤b:
u(x, y) = u(hi(y), y) =u(hi(y) +t, y)−
t
Z
0
ux(hi(y) +s, y) ds , wobei ux die partielle Ableitung von u nach der ersten Komponente be- zeichnet. Man zeige durch Integration ¨uber t, 0< t < b:
b u(hi(y), y) =
b
Z
u(hi(y) +t, y) dt−
b
Z
ux(hi(y) +s, y) (b−s) ds .
3. Schritt: Man quadriere diese Gleichung und zeige durch Absch¨atzun- gen mit der Youngschen Ungleichung, d. i. (a+b)2 ≤ 2a2 + 2b2, sowie der Ungleichung von Cauchy-Schwarz, dass
b2u2(hi(y), y)≤2·b
b
Z
0
u2(hi(y) +t, y) dt
+2 3·b3
Zb
0
u2x(hi(y) +s, y) ds
gilt.
4. Schritt: Division durchb2, anschließende Integration ¨ubery,−a ≤y≤ +a, und Variablensubstitutionenx=hi(y) +tbzw.x=hi(y) +s) liefert:
+a
Z
−a
u2(hi(y), y) dy≤ 2 b
Z
Ωi
u2(x, y) dxdy+2 3b
Z
Ωi
u2x(x, y) dsdy .
5. Schritt: Man forme die linke Seite in ein Kurvenintegral l¨angs Γi um und sch¨atze dieses nach unten ab. Insgesamt erh¨alt man damit
Z
Γi
u2(hi(y), y) ds≤ci 2
b ku2kL2(Ωi)+2
3bku2xkL2(Ωi)
mit
ci := max
−a≤y≤a{p
1 +h′i(y)}.
6. Schritt: Summation ¨uber alle Kurvenst¨ucke Γi mit ∪Mi=1Γi = Γ und den zugeh¨origen Gebieten Ωi mit ∪Mi=1Ωi ⊂Ω liefert:
ku2k2L2(Γ) ≤c2kuk2H1(Ω) mit
c2 := max{
M
X
i=1
ci2 b ,
M
X
i=1
ci 2 3b}.
7. Schritt: Damit ist die Restriktion τ: H1(Ω) ∩ C1( ¯Ω) → L2(Γ) mit τ(u) =u|Γ auf einer dichten Menge von H1(Ω) eine beschr¨ankte, lineare Abbildung. Wie folgt daraus nun die Behauptung?
Bemerkungen:
1. Hinweise zum Beweis des allgemeinen Spursatzes werden bei der Aufga- benbesprechung gegeben.
2. F¨ur beschr¨ankte Lipschitzgebiete Ω folgt daher H01(Ω) ={y∈H1(Ω) : y|Γ = 0}.
Man kann in H01(Ω) durch kykH01(Ω) :=
Z
Ω
|∇y|2dx
eine Norm einf¨uhren, die zur k · kH1(Ω) ¨aquivalent ist:
c1kykH01(Ω)≤ kykH1(Ω) ≤c2kykH01(Ω) mit c1 >0 undc2 >0. Dies kann mit der Friedrichs-Ungleichung — ¨Ubung 2, Aufgabe 1c — bewiesen werden.
3. Die Spurabbildung τ generiert mit Hilfe der zugrundgelegten Funktio- nenr¨aume ¨uber der Menge Ω neue Funktionenr¨aume ¨uber dem Rand Γ =
∂Ω:
H1/2(Γ) :={w∈L2(Γ) : es existert einv ∈H1(Ω) mit w=τ v}. Als Norm eignet sich dabei
kwkH1/2(Γ) = inf{kvkH1(Ω): v ∈H1(Ω) mit w=τ v}.
4. Der Spursatz impliziert mit der Definition der R¨aumeW0k,p(Ω) =C0∞(Ω) auch
τ u= 0 f¨ur alle u∈W01,p(Ω),
τ Dαu= 0 f¨ur alle u∈W0k,p(Ω), |α| ≤k−1.
5. Ist Ω ein beschr¨anktes Gebiet, dann gibt es eine Konstantec=c(Ω)>0 derart, dass
kvkL2(Ω) ≤c|v|W1,2(Ω)=c|v|H1(Ω) f¨ur alle v ∈H01(Ω).
Diese Gleichung ist im wesentlichen der zweite Teil der Ungleichung von Friedrichs; vgl. ¨Ubung 2, Aufgabe 1; die linke Seite dieser Ungleichung ist offensichtlich kleiner als die linke Seite der rechten Ungleichung der Friedrichsschen Ungleichung.
2) Verallgemeinerte Poincar´e-Friedrichs’sche Ungleichungen
Von den verschiedenen Varianten der Poincar´e-Friedrichs-Ungleichung soll hier eine bewiesen werden.
Man zeige: Ist Ω ⊂ IRN ein beschr¨anktes Lipschitzgebiet und Γ1 ⊂ Γ eine messbare Menge mit |Γ1| > 0, so existiert eine von y ∈ H1(Ω) unabh¨angige Konstante c(Γ1), so dass f¨ur alle y∈H1(Ω) gilt:
||y||2H1(Ω) ≤c(Γ1)
Z
Ω
|∇y|2dx+ Z
Γ1
y2ds
.
Erl¨auterungen:Zum Beweis ben¨otigt man die fundamentalen Einbet- tungss¨atze von Sobolewr¨aumen, speziell den Satz:
H1 ֒→H0, lies: H1 ist stetig und kompakt eingebettet in H0, siehe z. B. Alt, H. W.: Lineare Funktionalanalysis, 4. Auflage, Berlin:
Springer, 2002, S. 312ff.
Einbettungss¨atze dieser Art werden im ersten Vortrag des Begleitsemi- nars n¨aher erl¨autert. Die Sobolewr¨aume bilden n¨amlich eine Inklusions- skala:
L2(Ω) = H0(Ω) ⊃ H1(Ω) ⊃ H2(Ω) ⊃ . . .
k ∪ ∪
H00(Ω) ⊃ H01Ω) ⊃ H02(Ω) ⊃ . . . Zur Erl¨auterung der obigen Begriffe zun¨achst drei Definitionen:
Definition 1: Es seienXundY Banachr¨aume mitX ⊂Y. Offenbar ist die mit I bezeichnete Inkusion I: x ∈ X → x ∈ Y eine lineare Abbildung.
Wenn sie beschr¨ankt (¨aquivalent mit stetig bei linearen Abbildungen) ist, d. h. wenn
I ∈ L(X, Y) oder kxkY ≤CkxkX f¨ur alle x∈X ,
nennt man X stetig eingebettet in Y. Offensichtlich ist wegen der ¨Aqui- valenz der Normen H1(Ω) stetig inH0(Ω) eingebettet.
Definition 2: Eine Teilmenge K eines Banachraumes heißt pr¨akompakt (bzw. kompakt), wenn jede Folge {xi}i∈IN eine konvergente Teilfolge {xik}k∈IN enth¨alt (und limk→∞xik ∈K).
Definition 3: Es seien X und Y Banachr¨aume. Die Abbildung T ∈ L(X, Y) heißt kompakt, wenn {T x: x ∈ X , kxkX ≤ 1} (Bild der Ein- heitskugel in X) pr¨akompakt in Y ist.
Hinweise: Man beweist die Ungleichung am besten indirekt. Nehmen Sie dazu eine Folge {yn}n∈IN,yn∈H1(Ω), mit kynkH1(Ω) = 1 an, so dass die Ungleichung verletzt ist, also z. B.
1 = kynk2H1(Ω) > n
Z
Ω
|∇y|2dx+ Z
Γ1
y2ds
.
Zeigen Sie dann, dass
∇yn→0 in L2(Ω),
∃{ynk}k∈IN →y in H0(Ω),
∃{ynk}k∈IN →y in H1(Ω),
∇y≡0 und y≡const,
y≡0 (Spursatz verwenden!).
Bemerkung: Die Friedrichs-Ungleichung ( ¨Ubung 2, Aufgabe 1c) ergibt sich als Spezialfall mit Γ1 := Γ und Funktionen y∈H01(Ω).
Eine ¨ahnliche Beziehung gilt in Teilmengen von Ω: IstE ⊂Ω eine Menge von positivem Maß, dann existiert eine von y ∈ H1(Ω) unabh¨angige Konstante cE, so dass die Ungleichung
||y||2H1(Ω) ≤cE
Z
Ω
|∇y|2dx+ Z
E
y2dx
f¨ur alle y ∈ H1(Ω) erf¨ullt ist; siehe Gajewski, H., Gr¨oger, K., Zacha- rias, K.: Nichtlineare Operatorgleichungen und Operatordifferentialglei- chungen, Berlin: Akademie-Verlag, 1974. Dort findet man allerdings kei- nen Beweis. Die Gleichung l¨asst sich auch auf allgemeinere Sobolew- r¨aume Hm(Ω) verallgemeinern; siehe Wloka, J.: Partielle Differential- gleichungen, Stuttgart: Teubner, 1982, Satz 7.7, S. 121. Einen direkten Beweis findet man bei Weiying Zheng und He Qi: On Friedrichs-Poincar´e- type inequalities, J. of Math. Anal. Appl. 304 (2005) 542–551.
3) Schwache Formulierungen bei elliptischen Randwertproblemen mit Randbedingungen dritter Art
Wir betrachten die Randwertaufgabe
−∆y+c0y=f in Ω,
∂νy+α y=g auf Γ
mit gegebenen Funktionen f ∈ L2(Ω) und g ∈L2(Γ) sowie nichtnegati- ven Koeffizientenfunktionen c0 ∈L∞(Ω) und α∈L∞(Γ).
Man leite eine Variationsformulierung f¨ur diese Aufgabe her.
Bemerkung:Randbedingungen 3. Art werden auch Robin- oder Cauchy- Bedingungen genannt.
4) Existenz und Eindeutigkeit schwacher L¨osungen f¨ur ellipitische Randwertaufgaben dritter Art
a) Es seien ein beschr¨anktes Lipschitzgebiet Ω sowie fast ¨uberall nichtnega- tive Funktionen c0 ∈L∞(Ω) und α ∈L∞(Γ) vorgegeben mit
Z
Ω
c0(x)2dx+ Z
Γ
α(x)2ds >0.
Dann besitzt die Randwertaufgabe dritter Art f¨ur jedes Paar f ∈L2(Ω), g ∈L2(Γ) genau eine schwache L¨osung y∈H1(Ω).
b) Ferner existiert eine von f und g unabh¨angige KonstantecR, so dass die folgende Ungleichung gilt:
||y||H1(Ω) ≤cR ||f||L2(Ω)+||g||L2(Γ) .
Hinweis: Man verwende Aufgabe 3, das Lemma von Lax-Milgram, der Spursatz und die verallgemeinerten Poincar´e-Friedrichs-Ungleichungen.
Abgabe: L¨osungsvorschl¨age zu den Aufgaben werden vorgerechnet oder aus- geteilt.