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REGIONALKOMITEE FÜR EUROPA Fünfundvierzigste Tagung, Jerusalem, Septem ber 1995

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W E L T G E SU N D H E IT SO R G A N ISA T IO N R e g i o n a l b ü r o f ü r E u r o p a

K o p e n h a g e n

REGIONALKOMITEE FÜR EUROPA

Fünfundvierzigste Tagung, Jerusalem, 18. - 22. Septem ber 1995

Punkt 3(e) der vorläufigen Tagesordnung EUR/RC45/9

3. Juli 1995 07435 ORIGINAL: ENGLISCH

D

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R

ü c k w ir k u n g e n d es

U

n fa l l s v o n

T

sc h e r n o b y l a u f DIE ÖFFENTLICHE GESUNDHEIT

Nach dem Kemkraftunfall von Tschernobyl im Jahre 1986 berichtete der Regionaldirektor auf der 36. und 37. Tagung des Regionalbüros über die Fortschritte, die bei Tätigkeiten im Zusam­

menhang mit Public-Health-Aspekten von Kemkraftunfällen erreicht worden waren. Das Komitee stellte sich hinter die unternommenen Schritte und hieß weitere Aktivitäten in Gestalt eines Sonderprojekts gut, das darauf abzielte, die gesundheitspolitische Reaktion auf solche Ereignisse zu harmonisieren.

1991 reagierte das Regionalbüro für Europa auf Berichte aus Belarus über einen Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern und schickte eine Expertengruppe nach Minsk. Die Experten bestätigten die Berichte, und das Ergebnis war das internationale Schilddrüsenprojekt, das mittlerweile von der römischen Zweigstelle des Europäischen Zentrums für Umwelt und Gesundheit gemeinsam mit dem Internationalen Krebsforschungsinstitut (IARC) unter dem Dach des Internationalen Programms für die gesundheitlichen Auswirkungen des Unfalls von Tschernobyl (IPHECA) geleitet wird.

In der Erklärung von Helsinki aus dem Jahre 1994 wird auf Tod und Schädigungen aufgrund von Kemkraftunfällen als eine Hauptaufgabe des Bereichs Umwelt und Gesundheit verwiesen, und dieser Interessenschwerpunkt spiegelt sich im Aktionsplan Umwelt und Gesundheit für Europa wider.

Störfälle in Kernkraftanlagen stellen besondere volksgesundheitliche Probleme dar, und zwar nicht nur aufgrund der durch die direkten physiopathologischen Effekte der Strahlenexposition bewirkten Morbidität, sondern auch, weil diese Risiken in der Öffentlichkeit Furcht und Angst und damit Streß verursachen. Es könnten Schritte unternommen werden, um dieses gesund­

heitsschädliche Phänomen, soweit es heute existiert, erheblich zu reduzieren und außerdem die Gesundheit der Bevölkerung für den Fall eines zukünftigen Unfalls zu schützen. Wesentlich ist, daß die aus Tschernobyl gezogenen Lehren in die Notfallplanung auf internationaler, nationaler und örtlicher Ebene einfließen, um die direkten und indirekten volksgesundheitlichen Auswirkungen eventueller künftiger Kemkraftnotfälle zu lindem. Bei diesen notwendigen Initiativen kommt der WHO eine Schlüsselrolle zu.

Das Papier wird durch ein ausführlicheres Informationsdokument (EUR/RC45/Inf.Doc./4) abgestützt.

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IN H A LT

Seite

Einleitung... 1

Der Unfall von T schernobyl... 2

Die Lehren von Tschernobyl... 3

Das Potential künftiger U n fä lle ... 3

Die Rolle der W H O ... 4

Die internationale R eak tio n ... 6

Schlußfolgerungen... 7

Em pfehlungen... 8

Anhang 1: Ausgewählte W HO/EURO-Dokumentation über die Public-Health- Aspekte von Kemkraftunfällen und Strahlennotfällen... 10

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E U R /R C 45/9 Seite 1

Ein l e it u n g

1. Vor dem Unfall von Tschernobyl im Jahre 1986 hatten sich nur wenige Länder gründlich überlegt, welche Konsequenzen die Freisetzung von radioaktivem M ate­

rial in anderen Ländern haben könnte, ausgenommen waren die Fälle, in denen A n­

lagen nahe bei internationalen Grenzen lagen. Die Internationale Atomenergiebe­

hörde (IAEA) hatte sehr allgemeine Leitlinien für die integrierte Warnung und den Informationsaustausch im Fall einer grenzüberschreitenden Freisetzung von radio­

aktivem Material veröffentlicht sowie Leitlinien für gegenseitige Beistandsverein­

barungen im Zusammenhang mit einem Strahlennotfall herausgegeben, und die In­

ternationale Kommission für Strahlenschutz (ICRP) hatte sich mit Planungsprinzi­

pien für den Schutz der Öffentlichkeit befaßt. In der durch den Unfall von Tscher­

nobyl verursachten Situation unterschieden sich jedoch die Interventionsebenen für Gegenmaßnahmen und die als akzeptabel geltende radioaktive Belastung von Lebensmitteln in der Region von Land zu Land, was in der Öffentlichkeit starke Besorgnis verursachte und dazu führte, daß man den Behörden mißtraute.

2. Ionisierende Strahlung ist zytotoxisch und zugleich schwach mutagen und somit imstande, die Gesundheit auf verschiedene Weise zu schädigen. Die qualitativen und quantitativen Beziehungen zwischen Exposition und Effekt sind mit einiger­

maßen sicherer Konfidenz für die akute Ganzkörperbelastung durch penetrierende Strahlung aus Studien über Überlebende der Atombomben in Japan bekannt. Die Konfidenz fehlt jedoch in der Interpretation dieser Beziehungen zu (i) Teilkörperbe- lastungen, (ii) prolongierten niedrigen Dosisratenexpositionen und (iii) Expositio­

nen, die stark uneinheitlich sind. Meist fällt die Teilbelastung durch radioaktiven Fallout in eine dieser drei Kategorien, weshalb unter den Wissenschaftlern kein Konsens über die mit einer solchen Exposition assoziierten Gesundheitsrisiken besteht.

3. Die subjektive Auffassung der Strahlenbelastung ruft in der Bevölkerung seit lan­

gem Furcht hervor, vielleicht aufgrund der Assoziation von zivilen Kernkraftpro- grammen mit der geheimnisumwitterten militärischen Anwendung der Kernkraft- technologie, aber auch mit dem Atomkrieg selbst. Der Unfall von Tschernobyl zeigt sehr deutlich, daß solche Furcht und Besorgnis ganz entschiedene Auswirkungen auf die Gesundheit einer Bevölkerung haben wird, die sich selbst als belastet emp­

findet. Dieser sogenannte psychosoziale Effekt, dem z. Z. über 10 Millionen M en­

schen in der Nähe von Tschernobyl unterworfen sind, stellt, vom Umfang der be­

troffenen Bevölkerung her, die bisher wichtigste gesundheitliche Konsequenz des Unfalls dar.

4. Da über die gesundheitlichen Auswirkungen einer Exposition gegenüber Umwelt­

strahlung weder in qualitativer noch in quantitativer Hinsicht ein Konsens besteht, hat die in der Öffentlichkeit herrschende subjektive Auffassung von dem Unfall von Tschernobyl als gesundheitlicher Bedrohung ein Niveau erreicht, das in einigen Fällen ziemlich unrealistisch ist und somit den Streß und die damit verbundenen

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gesundheitlichen Effekte verstärkt. Das gilt sowohl für die Art der der Exposition zugeschriebenen gesundheitlichen Effekte als auch dafür, inwieweit man meint, daß bestehende Phänomene durch die Exposition verstärkt wurden. Man muß deshalb die langfristigen gesundheitlichen Risiken einer Umweltexposition besser verstehen lernen und die Kommunikation mit der Öffentlichkeit verbessern, die dann bei eventuellen künftigen Kernkraftnotfällen größeres Vertrauen zu den von offizieller Seite abgegebenen Ratschlägen haben wird.

De r Un f a l l v o n Ts c h e r n o b y l

5. Nach dem Unfall von Tschernobyl wurden aus der 30-km-Ausschlußzone um den Reaktor etwa 115 000 Einwohner evakuiert. Ausgedehnte Gebiete der ehemaligen Sowjetunion und über ihre Grenzen hinaus waren durch den radioaktiven Fallout betroffen. Die an der Sanierung der Reaktorstelle und der 30-km-Zone beteiligten etwa 650 000 Menschen waren ebenfalls exponiert.

6. Zur Zeit, neun Jahre später, sind viele der erwarteten potentiellen gesundheitlichen Auswirkungen der Strahlenbelastung aufgrund der langen Latenzzeit einiger strah­

leninduzierter Krebsformen noch nicht offensichtlich geworden. Das volle Ausmaß des Unfalls wird sich erst nach mehreren Jahrzehnten eröffnen. Bis jetzt hat man es mit den folgenden gesundheitlichen Konsequenzen zu tun:

• akuter Strahlenkrankheit und Hautverbrennungen aufgrund von Betastrahlung bei etwa 200 Menschen, die aufgrund des akuten Strahlungssyndroms 28 Todesfälle verursacht hat;

• Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Belarus, in den nördlichen Distrikten der Ukraine und in Gebieten an der Ostgrenze der Russischen Föderation zu Belarus und zur Ukraine mit bisher fast 500 Fällen von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in einer Population von etwa 3 Millionen besonders gefährdeten Kindern;

• psychosozialen Auswirkungen von streßrelatierten Bedingungen, die von Verän­

derungen der Lebensweise bis zu einer nahezu vollständigen sozialen Desinte­

gration von Gemeinschaften reichen und Populationen bis zu mehreren hundert Kilometern vom Unfallort betreffen;

• einigen überhöhten Krankheitsraten, z. B. für Leukämie, die zu erwarten gewe­

sen wären, bisher jedoch noch nicht offenkundig geworden sind.

7. Ausgehend von bisherigen Erfahrungen mit Strahlenbelastungen sind u. U. weitere W irkungen vorherzusehen. Die erhöhte Inzidenz von Schilddrüsenkrebs kann vor­

aussichtlich mehrere Jahrzehnte lang anhalten. Das gegenüber Strahlenexposition sensibelste Gewebe ist außer der Schilddrüse und dem Knochenmark die Brust ju n ­ ger Frauen. Exponierte Populationen in einem Umkreis von 100 km sind wahr­

scheinlich besonders gefährdet. Die Jodisotope könnten in bestimmten Entwick­

lungsphasen oder während und nach der Schwangerschaft zur Brustdosis beitragen.

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8. Besorgnis erregen auch die Auswirkungen von radioaktiven Luftpartikeln im H in­

blick auf die Induktion von Haut- und Lungenkrebs. Solche Partikel wurden in weiter Entfernung beobachtet; Tierversuche haben gezeigt, daß sie imstande sind, Lungentumoren zu induzieren.

9. Aufgrund der Größe der exponierten Bevölkerung könnten sich im Laufe der Zeit durchaus bisher unerkannte Auswirkungen der Strahlung zeigen, die aus der Auf­

nahme von Spaltungsprodukten in den Körper resultieren.

Die Le h r e n v o n Ts c h e r n o b y l

10. Aus Tschernobyl waren viele gesundheitspolitische Lehren zu ziehen, die wichtig­

ste ist jedoch vielleicht, daß man die Bedeutung psychosozialer Effekte anerkennen muß. Von Anfang an waren die psychosozialen Auswirkungen des Unfalls von Tschernobyl offensichtlich. 1990 führte die WHO in Kiew eine Arbeitsgruppenta­

gung über psychologische Auswirkungen von Kemkraftunfällen durch. Die Gruppe ermittelte die vielen Aspekte dieses Problems sowie einige der es auslösenden Faktoren.

11. Die anfängliche Reaktion auf den Unfall machte deutlich, daß man ein die gesamte Region umfassendes System der Notfallplanung und Beratung für den Fall künftiger Kernkraftnotsituationen braucht. Ein Großteil der Besorgnis in der Öffentlichkeit und der damit verbundenen Gesundheitsschädigungen läßt sich auf die Tatsache zurückführen, daß zur Zeit des Unfalls zwischen den Äußerungen und Maßnahmen verschiedener Behörden weitgehende und verwirrende Unterschiede zu bestehen schienen. Das WHO-Regionalbüro für Europa arbeitet zusammen mit der IAEA und anderen internationalen Organen und in enger Zusammenarbeit mit den M it­

gliedstaaten an einer Harmonisierung der Notfallplanung.

Da s Po t e n t i a l k ü n f t i g e r Un f ä l l e

12. Kurz nach dem Unfall von Tschernobyl versuchte man auf der Grundlage vergan­

gener Erfahrungen, d. h. der Störfälle von Tschernobyl und Three Mile Island, die W ahrscheinlichkeit eines künftigen schweren Störfalls in einem zivilen Kernkraft- reaktor abzuschätzen. Man gelangte für die nächsten 20 Jahre ab 1986 zu einer Wahrscheinlichkeit von 95%. Die Zahl ist sehr viel höher als die Schätzungen, die sich auf ein Versagen von Reaktorteilen und Sicherheitssystemen gründen. Da letztere jedoch das menschliche Versagen nicht berücksichtigen, das beim Unfall von Tschernobyl ein signifikanter ursächlicher Faktor war, sind die beiden Schätz­

werte vielleicht nicht so unvereinbar, wie es scheinen könnte.

E U R /R C 45/9 S eite 3

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13. Die Reaktorsicherheit ist also nicht nur eine Sache der Technik und des Reaktor­

baus. In einem neueren Bericht des W HO-Regionalbüros für Europa1 wurde darauf verwiesen, daß eine „Sicherheitskultur” mindestens ebenso wichtig ist wie tech­

nische Aspekte. Bei den in der Umstellungsphase begriffenen Ländern können wirt­

schaftliche Umstände gegen eine solche Sicherheitskultur sprechen, da Wartung, vorsorgliches Abschalten und sachgerechte Schulung knappe Ressourcen verschlin­

gen.

14. Die Verteilungsmuster der nach dem Unfall von Tschernobyl abgelagerten Radio­

nuklide haben deutlich gemacht, daß u. a. die W etterverhältnisse einen starken Ein­

fluß darauf haben werden, wie stark bei einer bestimmten Strahlenfreisetzung die Bevölkerung exponiert ist. Unterschiedliche W etterverhältnisse könnten die Aus­

wirkungen von Tschernobyl auf exponierte Bevölkerungen reduziert, sie aber glei­

chermaßen auch mehrfach verstärkt haben. Angesichts des chaotischen Charakters des Wetters ist klar, daß die gesundheitlichen Auswirkungen künftiger Unfälle weitgehend unvorhersagbar bleiben.

D i e R o l l e d e r

WHO

15. Daß in Tschernobyl ein Unfall passiert war, erfuhr der Rest von Europa am zweiten Tag danach, als in Finnland und Schweden eine erhöhte Radioaktivität gemessen wurde. Obgleich es für diesen Fall keinen regionalen Notplan gab, reagierte das W HO-Regionalbüro für Europa schnell. An den Tagen nach dem Unfall gingen aus den Mitgliedstaaten mehrere Bitten um Information und Rat ein. Ein Expertenteam wurde geholt und soviel Information wie möglich über die Strahlenbelastung in der gesamten Region zusammengestellt.

16. Am 6. Mai 1986 (etwa 10 Tage nach dem Unfall) fand in Kopenhagen eine Expertentagung statt, deren Teilnehmer sich mit dem Verlauf der Ereignisse und ihren wahrscheinlichen volksgesundheitlichen Auswirkungen befaßten. Am Ende des Tages war ein Kurzbericht über die Tagung in einen breiten Verteiler gegangen.

Die Übereinstimmung der in verschiedenen Ländern ergriffenen Gegenmaßnahmen w ar ein wichtiger Punkt; der von der WHO erteilte Rat wurde stark respektiert.

17. Ende Juni 1986 wurde eine Tagung durchgeführt, bei der eine vorläufige Beurtei­

lung der Unfallauswirkungen auf die Gesundheit der Bevölkerung durchgeführt wurde, die die Grundlage für eine langfristige Strategie, vor allem in bezug auf die Lebensmittelversorgung, bildete.

18. Unmittelbar nach dem Unfall hat das W HO-Regionalbüro für Europa mit Tagungen und Berichten zahlreiche Initiativen ergriffen, die weitgehend durch die großzügige

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1 Sorge um E u ropas Z ukunft: Z usam m enfassung. K openhagen, W H O-Regionalbüro für Europa, 1994 (R egionale Veröffentlichungen der WHO, Europäische Schriftenreihe Nr. 53).

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EU R /R C 45/9 S eite 5

Finanzierung von seiten der Schweiz ermöglicht wurde. Ein Großteil der Tätigkei­

ten galt der Entwicklung von Leitlinien für einen die gesamte Region umfassenden Notfallplan. 1991 vereinbarte man im Anschluß an eine Tagung in Solothurn, Schweiz, einen Leitfaden für gesundheitspolitische M aßnahmen bei Strahlennot­

fällen auszuarbeiten. Die in Belarus gewonnenen Erfahrungen im Hinblick auf die erhöhte Inzidenz von Schilddrüsenkrebs bei Kindern nach dem Unfall führten dazu, daß eine Arbeitsgruppe (Rom, Mai 1995) den Vorschlag machte, den Rat für eine konstante Jodprophylaxe zu revidieren. Die WHO-Leitlinien zur Jodprophylaxe werden, wie von dieser Arbeitsgruppe empfohlen, geändert. Das Thema Informa­

tion der Öffentlichkeit im Fall von Strahlennotfällen wurde ebenfalls von einer Arbeitsgruppe erörtert (Rom, April 1994).

19. Die Implementation eines Katastropheneinsatzsystems bei die Region betreffenden Strahlenunfällen hat die W HO zwar erheblich vorangetrieben, doch bei eventuellen künftigen Kernkraftunfällen wird vom Augenblick des Unfalls an der dringende Bedarf bestehen, umfassend über die Art des Austritts, das W etter in der Nähe des Unfallorts und die Wettervorhersage für die folgenden Stunden und Tage informiert zu werden, damit ein Expertenteam Ratschläge dazu erteilen kann, wie die Bevöl­

kerungen, soweit das praktikabel ist, vor der Exposition geschützt werden können.

In einigen Fällen könnte man diese Informationen über das nukleare Notfalleinsatz- system der IAEA erhalten (s. unten), es besteht jedoch die Auffassung, daß man einen direkteren Zugang zu solchen Informationen braucht. Am besten ließe sich das durch enge Zusammenarbeit zwischen bestehenden einzelstaatlichen Katastro­

phenschutzeinrichtungen erreichen. Außerdem muß dieser Aspekt der WHO- Aktivitäten, der von freiwilligen Beiträgen abhängt, gestärkt werden.

20. Ebenfalls mit Schweizer Finanzierung untersuchte das W HO-Regionalbüro für Europa die ersten Berichte über einen Anstieg des Schilddrüsenkrebses in Belarus.

Die daraus folgenden Briefe an die internationale W issenschaftszeitschrift Nature trugen wesentlich dazu bei, die W issenschaftlergemeinschaft auf die mittlerweile in breiten Kreisen anerkannte Sensitivität von Kindern gegenüber Jodisotopenstrah- lung aufmerksam zu machen. Aus dieser frühen Initiative entwickelte sich das internationale Schilddrüsenprojekt (ITP), in dessen Rahmen Belarus Beratung, Schulungsmöglichkeiten und Unterstützung für die Diagnose und Behandlung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern erhält und das die Kapazitäten besitzt, die volksge­

sundheitlichen Auswirkungen begleitend zu beobachten und abzuschätzen. Zur Zeit bemüht man sich im Rahmen dieses wichtigen Projekts um die Finanzierung von Aktivitäten, die für alle drei berührten Länder von Nutzen wären.

21. Im Mai 1991 verabschiedete die Weltgesundheitsversammlung das Internationale Programm für die gesundheitlichen Auswirkungen des Unfalls von Tschernobyl (IPHECA), das hauptsächlich von Japan Finanziert wird. Im Rahmen dieses drei Jahre laufenden Programms wurden an die betroffenen Länder 15 Millionen US- Dollar für medizinische Heil- und Hilfsmittel ausgezahlt. Darüber hinaus wurden vier Pilotprojekte angeregt, die sich mit der Schilddrüse, mit blutbildenden

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Organen, mit der Exposition in utero und mit der Epidemiologie beschäftigen. Das Internationale Schilddrüsenprojekt baut auf den Leistungen des IPHECA- Schilddrüsenpilotprojekts auf und wird gemeinsam von WHO/EURO und IARC im Rahmen des IPHECA geleitet. Ein Bericht über das IPHECA ist in Vorbereitung, und für November 1995 ist eine internationale Konferenz über die Auswirkungen von Umweltstrahlung angesetzt. Die wichtigsten Ergebnisse dieser Konferenz werden auf einer für den April 1996 in Wien anberaumten internationalen Tagung vorgelegt, die gemeinsam von der IAEA, der Europäischen Union und der WHO getragen wird.

DIE INTERNATIONALE REAKTION

22. Im Rahmen der 1986 getroffenen Übereinkommen über die Frühwarnung und den Beistand im Fall von nuklearen Unfällen sind die Signatarstaaten angehalten, die IAEA von allen Störfällen innerhalb ihres Territoriums in Kenntnis zu setzen und, falls die radioaktive Strahlung die nationalen Grenzen überschreitet, übernimmt es die IAEA, andere, eventuell davon betroffene Staaten zu unterrichten. Dafür hat die IAEA ein Notfalleinsatzsystem geschaffen, das so lange läuft, wie das Risiko eines Fallouts besteht. Sollte ein solcher Notfall Konsequenzen für die Gesundheit der Bevölkerung haben, würde sich die IAEA mit der Bitte um Rat an die W HO wen­

den.

23. Die betroffenen Gebiete haben durch internationale Organisationen und durch bila­

terale Abmachungen sowie private W ohlfahrtsinitiativen erheblichen humanitären Beistand erhalten. Dazu gehörten Schulung, die Bereitstellung von medizinischer Ausrüstung, Hilfe zur Behandlung von Kindern mit Schilddrüsenkrebs, die Reha­

bilitation von Kindern aus betroffenen Gebieten in anderen Ländern usw. Im Zusammenhang mit dieser Hilfe wurde eine Reihe von Forschungsinitiativen vorge­

schlagen, von denen einige bereits laufen.

24. In dieser Hinsicht droht die fehlende wirksame Koordinierung der verschiedenen Hilfsprogramme und der unterschiedlichen Forschungsinitiativen kontraproduktiv zu sein, und zwar sowohl in bezug auf die Erreichung der abgesteckten Ziele und Vorgaben als auch hinsichtlich der Effektivität der geleisteten Hilfe.

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Sc h l u s s f o l g e r u n g e n

25. Der Unfall von Tschernobyl stellt in zweierlei Hinsicht ein schwerwiegendes volksgesundheitliches Problem dar, nämlich psychosozial und physiopathologisch, wobei sich die gesundheitlichen Auswirkungen z. Z. in beiden Bereichen manife­

stieren. Die vollen physiopathologischen Auswirkungen werden zwar erst in mehre­

ren Jahrzehnten deutlich werden, doch bereits jetzt hat der Unfall deutlich gemacht, in welcher Größenordnung junge Menschen der G efahr einer Jodisotopenexposition ausgesetzt sind und in welchem Umfang sich solche Auswirkungen vielleicht beob­

achten lassen.

26. Andererseits hat sich aufgrund des Unfalls von Tschernobyl das volle Ausmaß der psychosozialen Auswirkungen von Nuklearunfällen herausgeschält. Der Öffentlich­

keit fehlt das Vertrauen in die Behörden, die W issenschaftlergemeinschaft kämpft mit Unsicherheiten und ist bisher noch nicht zu einem Konsens über die quantita­

tive Voraussagbarkeit gesundheitlicher Konsequenzen gelangt2, was wichtige Fak­

toren für die anhaltende psychosoziale Reaktion sind. Das unterstreicht, wie wichtig es ist, daß man für die Gesundheitsschutzaspekte der Umwelt-Strahlenbelastung ein integriertes Konzept bereithält, das sowohl physiopathologische als auch psycho­

soziale Effekte berücksichtigt.

27. Einschlägige Informationen werden sowohl von den mit einem Strahlennotfall befaßten Behörden als auch von Experten angeboten, die die Auswirkungen einer Strahlenexposition Vorhersagen. Im allgemeinen genießen Behörden und Experten mit einem - insbesondere wirtschaftlichen - Eigeninteresse an der Kernkraft nicht gerade das Vertrauen der Öffentlichkeit, weshalb man für den Schutz des gesund­

heitlichen Interesses der Öffentlichkeit ein unabhängiges, autoritatives und interna­

tionales Organ braucht.

28. Ein Großteil der durch psychosoziale Auswirkungen verursachten gesundheitlichen Schäden (die potentiell über 10 Millionen Einwohner des Gebiets von Tschernobyl und erhebliche Bevölkerungsteile in anderen Teilen der Region umfassen) würden gemildert durch:

• die objektive Klärung des Expositionsumfangs für Bevölkerungen, die sich als exponiert empfinden;

• die Beschaffung zielgerichteter Informationen über die gesundheitlichen Aus­

wirkungen einer Exposition gegenüber Umweltstrahlung, durch die Erleichte­

rung und Harmonisierung der Forschungsarbeiten, die zu in der Region beste­

henden Situationen laufen;

2 D ieses fehlende Vertrauen zeigte sich beispielsw eise in der anfänglichen Skepsis gegenüber dem mittlerweile nachgew iesenen A nstieg des Schilddrüsenkrebses bei Kindern.

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• die Beratung zu den Public-Health-Aspekten der Strahlenexposition durch ein eindeutig bestimmtes und vertrauenswürdiges Organ, das unabhängig von ein­

zelstaatlichen Behörden und Interessengruppen arbeitet;

• auf allen Ebenen die Einführung einer gutorganisierten Notfallplanung in bezug auf die gesundheitspolitischen Konsequenzen eventueller künftiger Kem- kraftnotfälle; und

• die Aufklärung von Schlüsselsektoren der Public-Health-Gemeinschaft über Fra­

gen der Strahlenwirkungen.

29. Angesichts der gemachten Erfahrungen läßt sich die W ahrscheinlichkeit weiterer Unfälle in zivilen Kernkraftanlagen nicht ignorieren. Außerdem gibt es, wenn im allgemeinen auch kleiner, mindestens ebenso viele militärische Einrichtungen, viele von ihnen mobil - beispielsweise auf Schiffen. Das macht sehr deutlich, wie wich­

tig es ist, daß das WHO-Regionalbüro für Europa eine die ganze Region umfas­

sende, gut mit der IAEA und der EU koordinierte Katastrophenbereitschaft für Strahlenunfälle aufrechterhält, die imstande ist, flexibel auf die unterschiedlichen Umstände eines Unfalls zu reagieren.

30. Außerhalb der ehemaligen Sowjetunion hat der Unfall von Tschernobyl eine erheb­

liche Reaktion in Form von humanitärer Hilfe und Forschungsprojekten ausgelöst.

Trotz der Koordinierungsbemühungen bleibt die Arbeit allerdings weiterhin bruch­

stückhaft.

31. Das WHO-Regionalbüro für Europa hat beträchtlich dazu beigetragen, die gesund­

heitlichen Konsequenzen des Unfalls zu klären und für den Fall künftiger Unfälle ein Reaktionssystem zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung zu planen. Viel bleibt jedoch noch zu tun, um die gesundheitlichen Auswirkungen unter den betrof­

fenen Bevölkerungen zu lindem und Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Em p f e h l u n g e n

32. Das Strahlenprogramm des WHO-Regionalbüros für Europa sollte weiterlaufen und ausgebaut werden, um die Lösung folgender Aufgaben zu ermöglichen:

• A uf Ersuchen der Ukraine und der Russischen Föderation sollten die Tätigkei­

ten des Internationalen Schilddrüsenprojekts auf diese Staaten ausgedehnt wer­

den;

• neuen Berichten über die gesundheitlichen Auswirkungen des Unfalls von Tschernobyl sollte nachgegangen werden;

• die Aktivitäten sollten auf die gesundheitlichen Konsequenzen in anderen geographischen, von Strahlenkontamination betroffenen Gebieten ausgedehnt werden, und man sollte den Bitten um objektive Auskunft über das Ausmaß der

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Exposition und die Linderung von physiopathologischen und psychosozialen Auswirkungen nachkoinmen können;

• die mit anderen Aspekten von Strahlung und öffentlicher Gesundheit befaßten Aktivitäten sollten weiterlaufen;

• es sollte ein Programm angeregt werden, in dessen Rahmen gesellschaftliche Schlüsselsektoren über die gesundheitlichen Auswirkungen von Strahlung auf­

geklärt werden.

33. Das W HO-Regionalbüro für Europa sollte in enger Zusammenarbeit m it anderen interessierten internationalen Organen seine Tätigkeiten weiterführen, durch die bei Strahlenkatastrophen ein harmonisierter, die gesamte Region umfassender Notein­

satzplan gewährleistet ist.

34. Das Notfalleinsatzprogramm für Strahlenunfälle, das zur Zeit im Rahmen des Strahlenprogramms des W HO-Regionalbüros für Europa aufgebaut wird, sollte gestärkt und ausgebaut werden.

35. Das W HO-Regionalbüro für Europa sollte unter Ausnutzung der in den kontam i­

nierten Gebieten der Region gewonnenen Erfahrungen seine Tätigkeiten als Ver­

mittler internationaler Ringforschungsprojekte über die gesundheitlichen Auswir­

kungen einer Exposition gegenüber Umweltstrahlung ausbauen.

36. Die internationale Gemeinschaft sollte sich darum bemühen, die Koordinierung der humanitären Hilfe und von Ringforschungsaktivitäten mit den betroffenen Ländern weiter zu verbessern.

E U R /R C 4 5 /9 S eite 9

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Anhang 1

Au s g e w ä h l t e W H O /E U R O - Do k u m e n t a t io n ü b e r d ie

Pu b l ic-He a l t h- As p e k t e v o n Ke r n k r a f t u n f ä l l e n u n d

St r a h l e n n o t f ä l l e n

Berichte von Arbeitsgruppentagungen:

1. Harmonisierung des öffentlichen Gesundheitsschutzes b ei Nuklear Unfällen: Bericht über eine WHO-Tagung. Kopenhagen, WHO-Regionalbüro für Europa (EURO - Berichte und Studien Nr. 110).

2. Iodine prophylaxis follo w in g nuclear accidents', proceedings o f a joint WHO/CEC Workshop. Oxford, Pergamon Press, 1990.

3. Arbeitsgruppentagung über die psychologischen Auswirkungen von Kem kraftunfäl- len\ Kurzbericht. Kopenhagen, WHO-Regionalbüro für Europa (Dokument EUR/ICP/CEH 093(S».

4. Strategy f o r public health action in relation to nuclear em ergencies: report on a Working Group. Kopenhagen, W HO-Regionalbüro für Europa (Dokument EUR/ICP/CEH 102).

Leitlinien:

1. Guidelines f o r iodine prophylaxis follow in g nuclear accidents. Kopenhagen, W HO-Regionalbüro für Europa, 1989 (Environmental Health Series, Nr. 35).

2. D erived intervention levels o f radionuclides in food: guidelines f o r application after w idespread radioactive contamination resulting from a m ajor radiation accident. Genf, W eltgesundheitsorganisation, 1988.

3. Manual on public health action in radiation em ergencies. Kopenhagen, WHO- Regionalbüro für Europa, 1995 (wird als W HO/EURO-Dokument veröffentlicht).

Wissenschaftliche Veröffentlichungen:

8. Kazakov, V.S., et al. Thyroid cancer after Chernobyl. Nature, 359: 21 (1992).

9. Stsjazhko, V.A., et al. Childhood thyroid cancer since the accident at Chernobyl.

British m edical journal, 310: 801 (1995).

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Sonstige Veröffentlichungen:

10. Thyroid cancer in Belarus after Chernobyl: International Thyroid Project. Rom, Europäisches WHO-Zentrum für Umwelt und Gesundheit, 1994.

11. Catalogue o f studies on the human health effects o f the Chernobyl accident (data base). Rom, Europäisches W HO-Zentrum für Umwelt und Gesundheit, 1994 (jährlich aktualisiert).

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