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Archiv "Ein Arzt für alle Fälle: Besuch bei einem „Inseldoktor“ in Schottland" (20.09.1979)

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Familienpolitik

christlichen Kultur von Eros und Se- xualität, um Unterstützung und Be- gleitung von Ehepartnern in der Ehevorbereitung und Ehepastoral, um Hilfe in Ehekrisen, aber auch um eine Neubesinnung auf den Umgang der Christengemeinden mit geschie- denen Wiederverheirateten sowie um eine unpolitische Orientierung der Eltern über den Umgang mit er- zieherischer Macht, also letztlich um die Mitarbeit der Christen an den gesellschaftlichen Lebensverhält- nissen. Wir leben in einer Welt, die nur zu gerne die Institutionen und vor allem die der Ehe in Frage stellt.

Durch diese Infragestellung der Ehe soll das Ehepaar vor dem bewahrt werden, was Formalismus war oder als solcher erscheint. Das führt viele junge Eheleute dazu, jede offizielle Form einer Bindung abzulehnen, sei sie standesamtlich, sei sie kirchlich.

Die Soziologie und die Psychologie haben dazu beigetragen, daß die Ehe heute mehr denn je als ein Mit- tel zum Erfolg, zur eigenen Entfal- tung und zum persönlichen Glück betrachtet wird. Das aber macht die Ehe noch verwundbarer. Das ge- meinsame Leben wird immer häufi- ger als Versuch angesehen, für des- sen Dauer man sich weder verbür- gen kann noch will. Die Ehe ist un- modern geworden, die Familie hat ihren Sinn verloren, sie dient für vie- le lediglich noch der bequemen Lustbefriedigung. Ehen schließt man mit mentalem Vorbehalt und auf Probezeit. In modernen Partner- schaftsehen und Kommunen, wo nicht füreinander, sondern neben- einander gelebt wird, kann keine Si- cherheit bietende Familie, keine ge- ordnete Gemeinschaft, kein Staats- volk heranwachsen. Schon gering- fügige Störungen lassen solche Ge- meinschaften zerfallen.

Eine derartige Ehelabilität bleibt na- türlich nicht ohne Auswirkung auf die Bevölkerungsentwicklung. Aber auch die Begrenzung der Familien- größe der sogenannten noch intak- ten Familie, ist eine säkulare Er- scheinung. Sie steht sichtlich im Zu- sammenhang mit dem Prozeß der Industrialisierung. Die neueste Pha- se der Geburtenbeschränkung, die zu einer allmählichen Bevölkerungs-

abnahme führt, ist keine deutsche, sondern tendenziell eine gesamteu- ropäische Erscheinung. Die Ände- rung des Verhaltens der Ehepaare, besonders der Frauen, der Wille zur Kleinhaltung der Familie, geht nicht auf eine einzelne Ursache, auch nicht auf die „Pille" zurück, sondern auf ein vielschichtiges Ursachenge- flecht, wobei das Gewicht einzelner Ursachen nicht exakt bestimmt wer- den kann. Mehr als materielle Be- weggründe scheinen veränderte Wertvorstellungen und Zielsetzun- gen bei der Motivation der Frauen, wenige oder keine Kinder zu haben, wirksam zu sein. Die kinderarme Fa- milie, die zur europäischen Norm geworden ist, stellt sich selbst und stellt die Gesellschaft vor völlig neue Probleme. Die Folgen der Labilisie- rung von Ehe und Familie manife- stieren sich in einer Zunahme der Scheidungen, in der Abnahme der Eheschließungen, in der Trennung von Ehe und Familie, in der Selbst- verständlichkeit des Konkubinats, aber auch in der Herabsetzung des Volljährigkeitsalters, in der Ände- rung der elterlichen Gewalt in das

„elterliche Sorgerecht" und in der gefährlichen Entwicklung zur an- tiautoritären Erziehung der Kinder und Jugendlichen in Schulen, Grup- pen und Massenmedien. Wenn die tradierte Form von Ehe und Familie nur noch als „Stand", also statisch gesehen wird, ist ihr Scheitern vor- programmiert. Sie kann dann leicht zur „bevorzugten Bühne für Öde, Sprachlosigkeit, Brutalität, für so- ziale, emotionale und sexuelle De- privation werden und damit zur Ur- sache von krankhaften Entwicklun- gen ihrer Glieder. Jeder Arzt, der auch Einblicke in die Ehe-, Familien- und Erziehungsberatung hat, weiß, wie sehr Familienkonstellationen krankmachende Bedeutung haben können. Dabei ist der einzelne Pa- tient, der Kranke selbst, nur als Sym- ptomträger Ausdruck der krankma- chenden, der „kränkenden" Kon- stellation. Es gibt bestimmte Krank- heitsbilder — etwa Verhaltensstörun- gen, Süchte, viele Neurosen, psy- chosomatische Krankheiten, vege- tative Syndrome, Depressionen, auch bestimmte Bilder von Krank- heiten aus dem schizophrenen For-

menkreis — bei denen die Ehe- und Familienkonstellation eine ursächli- che Rolle spielt. Darauf ist ärztlich- psychotherapeutisch geantwortet worden. Es wurden Formen und Me- thoden der Partner-, Ehe- und Fami- lientherapie entwickelt, die zuneh- mend an Bedeutung gewinnen, wie das in USA von Stierlin mitentwik- kelte familientherapeutische Kon- zept, das er nunmehr mit einem Team an der Universität Heidelberg vertritt. Trotz mancher deprimieren- der pathologischer Symptomatik von Ehe und Familie der Gegenwart lohnt es sich, die Entwicklung auf- merksam und ohne übermäßige Angst zu beobachten. Wir dürfen nicht nur rückwärts schauen, nicht nur Bremsen ziehen, sondern müs- sen positive Ansätze erkennen, sie stärken, uns neuen Gesichtspunkten öffnen und damit Ehe und Familie die Chance geben, kein „Stand" zu sein im Sinne eines statischen Be- fundes, sondern eine dynamische Institution, in der alle Beteiligten einander zum Heil werden können im natürlichen und im übernatürli- chen Sinn. Als christliche Ärzte sind wir zu einer solchen Einstellung be- sonders aufgerufen. Dazu ermutigt uns auch ein Wort von Papst Johan- nes Paul II. in seiner jüngsten Enzy- klika: „Zuversicht und Gelassenheit bestärken uns in der Sicherheit, daß die neue Welle der Lebendigkeit des Glaubens im Gefolge des 2. Vatikani- schen Konzils viel stärker ist als alle Anzeichen des Zweifels, des Verfalls und der Krise."

Referenten der Tagung: Dr. med. Josef Kähne, Münster, Pfarrer Vinzenz Platz, Zentralstelle für pastorale Grundfragen der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, Prof. Dr. Dr. Heinrich Schipperges, Hei- delberg, Dr. Hermann Schubnell, Frei- burg, Prof. Helm Stierlin, Heidelberg, Min.-Rat. Prof. Dr. Max •Wingen, Bonn, Prof. DDr. theol. Paul Michael Zulehner, Passau. Tagungsleitung: Prof. Dr. med.

Alfons Rummel, Würzburg, Dr. jur. H. H.

Kurth, Bonn, Ursula Kohlhaas, Bonn

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Hannes Sauter-Servaes Am Rebberg 8

7700 Singen (Hohentwiel) 14- Bohlingen

2436 Heft 38 vom 20. September 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Es gibt auf Eigg keine Städte oder Dörfer, und es existiert nur eine ein- zige Straße, dreieinhalb Meilen lang.

Der Dampfer, der dreimal in der Wo- che fährt, wenn es das Wetter zuläßt, nimmt keine Autos mit, und auf der Insel gibt es keine öffentlichen Ver- kehrsmittel. Die sechzig Einwohner wohnen verstreut wie die Schafe — die ihnen allerdings zahlenmäßig weit überlegen sind. So rief ich, be- vor ich London verließ, die Telefon- nummer 27 auf Eigg an und fragte:

„Wie werde ich Sie finden, Doktor, wenn ich auf der Insel ankomme?" —

„Sie werden mich auf der steinernen Mole sehen; ich gehe immer hinun- ter, wenn die Fähre ankommt", ver- sicherte er mir.

Und da war er. Ein Hochländer im Kilt, etwas über fünf Fuß groß, der Rücken gerade wie ein Rammbock, ein koboldhaftes Gesicht mit roten Wangen, von eisgrauem Haar be- krönt. Es war zweifelsfrei der Mann, den zu treffen ich hergekommen war: Dr. Hector MacLean, beamteter Arzt der Gemeinde der Kleinen In- seln, Friedensrichter und, wie ich später entdeckte, der beste Dudel- sackpfeifer der Insel, Kenner des Claymoreschwertes. Er sprach Gä- lisch, war eine Ex-„Wüstenratte"

und Träger des Militärkreuzes, ein Mann, der während der letzten 25 Jahre einen ununterbrochenen Kampf mit den Bürokraten des Fest- landes gekämpft hat zugunsten sei- ner Patienten auf den vier Inseln — insgesamt 120 bei der letzten Zählung.

Nach Kriegsende hatte er eine Pri- vatpraxis eröffnet, fand aber bald heraus, daß er im Jahr zweihundert Pfund von seinen Ersparnissen ab- heben mußte, um leben zu können.

„Die Ärztehonorare waren damals noch dieselben wie vor dem Krieg, und sie deckten einfach meine Le- benshaltungskosten nicht. Als 1948 der Nationale Gesundheitsdienst entstand, entschied ich mich dafür, mich ihm als Praxisvertreter anzu- schließen, um auf verschiedenen Gebieten Erfahrungen zu sammeln.

In meinem unverwüstlichen Opti- mismus dachte ich, ich würde das solange machen, bis der Gesund- heitsdienst sich konsolidieren wür- de. Ich ahnte nicht, daß das Jahr- hunderte dauern würde!"

Er arbeitete als Praxisvertreter in den West Highlands, als er sich ent- schloß, sich nach einer eigenen Pra- xis umzusehen. „In jenen Tagen gab es ungefähr 70 Bewerber für jede freie Praxis. Als ich diese hier erhielt

— sie umfaßt die kleinen Inseln Eigg, Rhum, Muck und Canna — legte ei- ner der durchgefallenen Bewerber Einspruch ein mit der Begründung, daß es sich bei meiner Einstellung offensichtlich um Vetternwirtschaft gehandelt habe, da der Beamte des Einstellungsbüros auch ein MacLean war!"

Er und seine Frau kamen im Novem- ber 1951 auf Eigg an und fanden dort eine Situation vor, die, so sagt er, nur in den West Highlands auftre-

ten kann. Der Verwalter hatte das Ärztehaus für sich übernommen und ihnen ein völlig unzureichendes Häuschen zugewiesen. Die Teppi- che, Vorhänge und ein großer Teil der Möbel, die sie mitgebracht hat- ten, waren überflüssig.

Da ihm das Geld ausgegangen war, hatte er keine andere Wahl, als die Praxis zu führen, egal welche Schwierigkeiten auf ihn zukommen sollten, aber er erklärte Lord Runci- man (dem damaligen Laird von Eigg) und dem Einstellungsbüro, daß er es nur unter der Bedingung tun werde, daß so schnell wie mög- lich für ein passendes Arzthaus ge- sorgt werde. Drei Jahre später schaffte es das Gesundheitsministe- rium endlich, einen Architekten zu bestellen, obwohl Lord Runciman schon lange freien Baugrund und einen Zahlungszuschuß gegeben hatte.

„Als sie die Kostenvoranschläge be- kamen, sagten sie, daß sie in einer Finanzkrise steckten und daß sie es sich nicht leisten könnten, das Haus zu bauen. So setzte ich mich mit dem Architekten in Verbindung, um herauszubekommen, wo man etwas einsparen könne. Er verkündete mir, daß die Zufahrtsstraße allein schon 1000 Pfund kosten würde; da sagte ich dann, daß ich sie selber bauen würde und so wurden wir uns dann einig. Diese Arbeit ist bis heute noch nicht fertig! -

Endlich wurde das Haus gebaut — zumindest die Wohnräume für Dr.

MacLean, seine Frau und seine drei Kinder. Alle Einsparungen wurden am ärztlichen Teil des Hauses vorge- nommen, der sich schließlich als ein kleiner Raum herausstellte, der nicht nur als Behandlungszimmer, sondern sogar als Lagerraum zu klein war.

Er beschreibt das Haus als „sehr gut aussehend, wenn man es von drau- ßen betrachtet, aber wenn man es benutzen soll, ist es nicht mehr als ein Vorstadtbungalow, der unter der Voraussetzung errichtet worden ist, daß man nichts lagern muß, weil man alle Läden, Lieferanten und

Ein Arzt für alle Fälle

Besuch bei einem „Inseldoktor" in Schottland

John Watney

Dies ist die Reportage eines englischen Journalisten über den Besuch bei einem Arzt, der die Einwohner einer wenig besiedelten Insel- gruppe vor der schottischen Küste betreut.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 38 vom 20. September 1979 2437

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Da stand er wartend an der Mole von Eigg

Arzt in Schottland

Kundendienste gleich um die Ecke hat." Hier gibt es nur einen Schup- pen, der als Gemischtwarenladen und Post zugleich dient.

Die Forderungen, die an seine Pra- xis mit Dispensierrecht gestellt wer- den, sind natürlich sehr breit ge- streut, so daß es äußerst schwierig zu entscheiden ist, was man alles auf Lager haben muß, da jede Art von Notfall auftreten kann — ein Flugzeugabsturz und ein gebroche- nes Rückgrat durch einen Sturz von der Klippe sind nur zwei Beispiele aus jüngster Zeit —, und die Verbin- dung zum Festland kann durch schlechtes Wetter unmöglich ge- macht werden. Es gibt Zeiten, in de- nen noch nicht einmal ein Hub- schrauber landen kann.

Es gibt noch etwas anderes, das Dr.

MacLean einige Kopfschmerzen ver- ursacht: „Heutzutage muß ich die immer größer werdende Möglichkeit von Arbeitskämpfen in Betracht zie- hen, die den Zug-, Bus- oder Schiffsverkehr unterbrechen. Des- halb gehe ich davon aus, daß ich Reservevorräte für mindestens zwei Monate zur Hand haben muß. Das wiederum bedeutet, daß ich für die Lagerung und die Verteilung Platz brauche. Es gibt in diesem Haus kei-

nen einzigen Raum, der nicht schon für ärztliche Zwecke benutzt wurde oder noch wird.

Und da gibt es noch ein weiteres Problem: Diesel für den Generator, Benzin für den Wagen, Koks und Anthrazit für den Herd, Holz und Kohle für den Kamin und Kerosin für die Öfen. Die Kohle wird einmal im Jahr auf einem alten Dampfer aus Island gebracht und muß im Garten aufgehäuft werden.

Routinelabortests werden in den Zentrallabors in Inverness gemacht, aber da wir so abgelegen liegen, ma- che ich die einfacheren Sachen selbst.

Ich mache in der Tat viel Mikrosko- parbeit, und nur wenn ich etwas be- sonders Verdächtiges entdecke, schicke ich es nach Inverness."

Da sein sogenanntes Untersu- chungszimmer voller Vorräte liegt, dient Dr. MacLeans Wohn- und Eß- zimmer sowohl als Warte- als auch als Behandlungszimmer, und ein zu- sammenklappbarer Untersuchungs- tisch ist immer zur Hand. Es ist Teil des sozialen Lebens der Insel, daß ein Besuch beim Arzt auch einen Tee und Kuchen von seiner Frau und

eine halbe Stunde netter Unterhal- tung bedeutet, ehe er fragt: „Und was führt Sie zu mir?"

Dr. MacLean begegnet bei seinen Besuchen derselben hochländi- schen Gastfreundschaft. Ich beglei- tete ihn bei einem Besuch bei Dun- can Ferguson, einem pensionierten Schafhirten, der jetzt im Pfarrhaus im Norden der Insel lebt und Haus- meister der katholischen Kirche ist.

Es war ein Dienstag, der Tag, an dem Frau Ferguson ihre Haferku- chen macht, die als die besten der Insel bekannt sind.

Duncan Ferguson ist der lokale Hi- storiker und kennt jedes Detail der Geschichte von Eigg bis ins vierte Jahrhundert. Er hat sich auch mit anderer Geschichte beschäftigt, und an diesem Tag verwickelt er den Doktor in eine sehr gelehrte Diskus- sion über die Schlacht von Water- loo, die Charaktere der Hochlandof- fiziere Wellingtons und ob oder nicht Napoleon am Tage der Schlacht durch seine Hämorrhoiden abgelenkt gewesen sei. Es dauerte eine Stunde, bis die Arzttasche überhaupt geöffnet wurde.

Der Priester war auch anwesend, da am vorhergehenden Tag, Montag, für die katholische Gemeinde auf Eigg Sonntag war, wie es am Mitt- woch für die Katholiken auf Canna Sonntag ist. Auf den Inseln kann nur mit Unterstützung der MacBrayne- Fähren (die am Sabbath nicht fäh- ren) und des Wetters die Beichte ab- genommen und die Messe gelesen werden. Der Hauptsitz des Priesters ist in Glenfinnan auf dem Festland, aber er verbringt die ganze Woche damit, die Inseln zu besuchen, und er schläft jede Nacht im Gästebett eines anderen Gemeindemitgliedes.

Er zumindest arbeitet nach einem Zeitplan, und wenn er vom Sturm festgehalten wird, weiß er wenig- stens, wem er das verdankt.

Aber der Doktor weiß von einer Stunde zur anderen nicht, wer ihn brauchen wird, und wo, oder wie er dorthin gelangen wird, wie ernst der Ruf ist oder wann er zurückkehren

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wird. „Auf Muck gab es einmal eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die bei jeder Gelegenheit nach mir schickte. Das erste, was ich von ih- nen immer hörte, war der Boots- mann, der an meiner Türschwelle er- schien und sagte: ,Man braucht Sie auf Muck'. Ich weiß nicht, wie oft ich mich mitten in der Nacht auf das Haus zu geschleppt habe nach einer nassen Überfahrt im offenen Boot, ein ,diesmal ist es bestimmt etwas Ernstes` vor mich hin murmelnd, nur um dann ein Kind vorzufinden, das sich einen Zahn ausgeschlagen hat- te und inzwischen tief und fest schlief.

Nun, einmal stellte es sich aber als ganz anders heraus; der Vater hatte einen akuten Blinddarm. Es war eine pechschwarze Nacht, der Regen strömte und das einzig zur Verfü- gung tehende Gefährt, um quer über die Insel zum Pier zu gelangen, war ein pferdegezogener Block- wagen.

Die Szene erinnerte mich an Stiche vom Rückzug aus Moskau, die ich gesehen habe. Ein Mann im schwar- zen Ölzeug führte das Pferd, ein Mann ging mit einer Laterne voraus, und neben dem Wagen liefen andere schwarze Figuren, die mit gesenk- tem Kopf gegen den Regen an- kämpften.

Obwohl es schon einige Jahre her ist, habe ich dieses Bild noch ganz genau vor mir. Heute haben wir es viel besser mit den Traktoren und Zugmaschinen, die wir besitzen, und die Straße auf Muck ist auch geteert worden."

Glücklicherweise war diese Familie eine Ausnahme. Die einheimischen Inselbewohner vertrauen sehr auf sich selbst, und die Ältesten unter ihnen können sich noch an die Zeit erinnern, als es auf Eigg noch kei- nen Arzt gab; als sie, wenn sie einen Arzt brauchten, ein kleines Boot be- stiegen und nach Skye oder Arisaig auf dem Festland oder nach Tober- mory auf Mull segelten; wohin, das hing nicht nur davon ab, wo sie eher einen Arzt zu finden glaubten, son- dern auch von der Windrichtung.

Wegen dieser Erinnerungen sind die alten Leute, und auch die noch nicht so alten, äußerst zurückhaltend, ehe sie den Doktor bemühen, und wer- den ihm oft eher etwas verheimli- chen als ihn zu stören. „Vor nicht allzu langer Zeit verbrannte sich ei- ne alte Dame stark, als sie sich eine Teekanne über ihre Beine goß, aber

Dr. Hector MacLean, der seinen Clay- more — ein altes schottisches zwei- schneidiges Schwert — schwingt, eine Kunst, die er als sehr nützlich für die Heilung eines verstauchten Handgelenks fand

ich hörte erst vierzehn Tage später davon. Sie beschweren sich nie über ihre Altersbeschwerden — und Schmerzen. Ich habe zwei Flaschen Einreibemittel mit auf die Insel ge- bracht, und sie sind noch immer un- geöffnet.

Wegen dieser ihrer Einstellung habe ich mir angewöhnt, mehr Hausbesu- che zu machen. Wenn ich auf die anderen Inseln fahre, versuche ich, in jedem Haus vorbeizuschauen, nur für den Fall, daß jemand etwas für sich behält, wovon ich eigentlich wissen sollte."

Hausbesuche bedeuten eine Menge Fußmarsch, viel davon steile Wege hoch und hinunter zu den verstreu- ten Bauernhäusern, kleinen Farmen und Häuschen. Auf Eigg trägt er ei-

nen ziemlich abgenutzten Fiberkof- fer mit verrosteten Schlössern und Gelenken auf dem Rücken, der mit Schnüren an einem Rucksackgestell festgebunden ist. Bei seinen Besu- chen auf den anderen Inseln nimmt er diesen Koffer und zusätzlich noch einen größeren mit, der über 60 Pfund wiegt. „Wenn man auf einer der anderen Inseln ankommt und feststellt, daß man etwas braucht, was man nicht dabei hat, kann man nicht mal eben zurückgehen, und ich weiß nie, wie lange ich fort sein werde."

Ein Touristenführer von Eigg und Muck berichtet: „Der Arzt erreicht die anderen Inseln entweder mit der Fähre oder mit einem gemieteten Motorboot." Das tut er in der Tat — wenn er kann. Aber ein Urlauber, der an einem linden Junitag eine Fahrt um die Inseln genießt, sollte lieber nicht glauben, daß Dr. MacLean das- selbe Vergnügen hat.

MacBraynes „Loch Arkaig", ein 170- Tonnen-Schiff mit einer Geschwin- digkeit von zehn Knoten, ist sein Transportmittel bei Routinebesu- chen und in Notfällen, die zufällig mit dem Fahrplan übereinstimmen.

Von Mallaig auf dem Festland braucht es 5 1/2 Stunden, um alle vier Inseln zu erreichen, und es schwankt in der leichtesten Dünung wie ein Betrunkener hin und her. Es ändert auch seine Route, fährt Eigg einmal zuerst, einmal zuletzt an.

Wenn ,das Wetter schlecht ist, muß es auch mal die eine oder die andere Insel auslassen, so daß die Passa- giere für diese Insel wieder mit zu- rück nach Mallaig müssen und dort ein oder zwei Tage auf ihre Heim- kehr zu warten haben.

Eines Mittwochs kam Dr. MacLean gerade von einem Besuch auf Rhum zurück auf einem 78-Fuß-Boot „The Western", während ein Sturm von Stärke zehn blies, so daß sie in Mal- laig Schutz suchen mußten. Die nächste Fähre fuhr erst am Samstag und diesmal in die andere Richtung.

Aber es kam ein neuer Sturm auf, und so fand er sich wiederum in

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Arzt

in Schottland

Mallaig wieder, und die nächste Fähre fuhr erst am Montag. Zu dem Zeitpunkt, als er endlich zu Hause war, hatte er für eine dreizehn Mei- len lange Überfahrt neunzig Meilen Fahrt und fünf Tage gebraucht!

„Ich muß oft ohne jede Vorwarnung viele Tage auf einer Insel verbrin- gen", erzählt er, „in einem Dezem- ber war ich nach Canna gefahren, um einen Patienten zu besuchen, und in dieser Nacht wurde ich von einem Seemann aus Mallaig ge- weckt, den man geschickt hatte, um mich auf die Insel Muck zu bringen, wo ein älterer Mann einen Schlagan- fall erlitten hatte. Dort wurde ich ei- ne Woche lang vom Sturm festge- halten, bevor ich nach Eigg zurück- konnte. Nach einer zu Hause ver- brachten Nacht mußte ich wieder zurück nach Muck, wo ich wieder eine Woche lang wegen des Sturms festsaß. Ich kam erst am Weih- nachtsabend nach Hause.

Wenn ein alter Mensch eine ernst- hafte Krankheit bekommt (wie die alte Flora auf ,Canna, die nie auf der anderen Seite ihrer Insel, geschwei- ge denn auf dem Festland gewesen ist) und die Hoffnung auf Heilung praktisch gleich Null ist, kann man sie nicht ins Krankenhaus bringen.

Sie wollen im eigenen Bett sterben, und man muß dazu bereit sein, ih- nen ein bißchen Zeit und Mühe zu widmen."

Dr. MacLean hat keine Gemeinde- schwester oder Hebamme als Hilfe, was er als leichte Ironie empfindet, da „unser Hauptexport von den In- seln Mädchen sind, die als Kranken- schwestern ausgebildet werden, um auf dem Festland zu arbeiten. Ich bin hier der einzige Vertreter des Gesundheitsdienstes."

Obwohl er in der Vergangenheit schon eine ganze Woche auf einer anderen Insel verbracht hat, wäh- rend der er auf den Beginn einer Geburt gewartet hat, schickt er die Mütter heute fast immer ins

„Queen's Mother Krankenhaus" in Glasgow. „Es ist eine große Hilfe, sie untersucht zu wissen, vor allem mit

der Ultraschallausrüstung, die so genaue Information ermöglicht."

Aber der einzig vernünftige Tag, um sie ins Krankenhaus zu schicken, ist Donnerstag, da das der einzige Tag ist, wo die Fähre pünktlich nach Mallaig kommt, um den Zug nach Fort William und weiter nach Glas- gow zu erreichen.

Dr. Hector MacLean draußen auf seiner Runde über die Insel Eigg der Inneren Hebriden Fotos: John Watney

Wenn alle Stricke reißen, kann er den Hubschrauber aus Inverness kommen lassen, aber er sagt: „ich bitte nur dann um den Hubschrau- ber, wenn Lebensgefahr besteht oder die Umstände so sind, daß es für den Patienten schädlich wäre, ihn anders zu transportieren."

Er hat bis jetzt drei ernsthafte Kliff- unfälle behandeln müssen, der letz- te war der eines Kletterers, der von der Flut abgeschnitten wurde, auf einen Haufen von Felsbrocken un- ten am Strand fiel und sich das Rückgrat brach.

Seine Freundin brauchte dreiein- halb Stunden, um das nächste Haus zu erreichen, und als Dr. MacLean zu ihm herunterkletterte, war es schon dunkel, neblig, und es regne- te stark. Er wartete zwei Stunden mit seinem Patienten, ehe der Hub- schrauber ankam.

Es ist eine weitaus zu anstrengende Praxis, als daß die meisten Allge- meinmediziner mit 65 noch Ge- schmack an ihr finden könnten, aber Dr. MacLean ist noch für viele Jahre gut. Er sagt, er könne es sich kaum leisten, sich zurückzuziehen, da er es versäumt hat, für eine mit der Inflation Schritt haltende Lebensver- sicherung zu sorgen. Sein Krieg ge- gen die Bürokratie hat nichts gehol- fen. „Lange Zeit weigerte ich mich einfach, ihre verdammt dämlichen Fragebogen zu beantworten, und da hielten sie den Arbeitgeberanteil an der Prämie zurück. Als sie mir vier- tausend Pfund schuldeten, mußte ich kapitulieren."

„Ich glaube, der Typ Mann, der meine Praxis übernehmen würde, stirbt all- mählich aus. Mir jedenfalls gefällt diese Art zu leben. Es gibt viel kör- perliche Betätigung, und ich werde meine Frustrationen los, wenn ich die Landschaft aufreiße." Er meint damit den Garten, den er aus dem festen Hügel herausgegraben hat.

Es hat ihn vier Jahre gekostet, das Farnkraut zu entfernen.

Seine nächste Grabungstätigkeit wird in einer großen Grube beste- hen, in der er die Überreste seiner beiden alten Autos begraben kann, die er bis jetzt als Ersatzteillager vor seinem Gartentor stehen hatte.

Aber die Beerdigungszeremonie wird erst stattfinden, wenn er alle Fenster herausgenommen hat, um daraus Glashäuser für seine Pflan- zen zu machen!

Schließlich winkte ich Dr. MacLean vom Deck des MacBrayne-Dampfers zum Abschied zu, als er und der Priester am Kai von Canna hinten auf einen Traktor kletterten, um sich auf den Weg zu begeben, die Seelen und die Leiber der zwanzig Einwoh- ner der Insel zu versorgen.

Anschrift des Verfassers:

John Watney 43 Gertrude Street London SW10 OJQ

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 38 vom 20.

September 1979

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