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Archiv "Kinderheilkunde in der NS-Zeit: Sozialsanitäres Großprojekt – Arzt am „Volkskörper“" (12.11.2010)

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A 2226 Deutsches Ärzteblatt

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12. November 2010

KINDERHEILKUNDE IN DER NS-ZEIT

Sozialsanitäres Großprojekt:

Arzt am „Volkskörper“

A

m 5. Januar 1944 schrieb Jussuf Ibrahim, Professor für Kinderheilkunde und Direktor der Universitätskinderklinik in Jena, einen kurzen Brief an Dr. Gerhard Kloos, den Leiter der Thüringer Landesheilanstalten Stadtroda. Es ging um einen zwei Jahre alten Jungen, den Ibrahim vermutlich in der ambulanten Sprechstunde unter - sucht hatte. Das geistig behinderte Kind litt an schweren Krämpfen.

Ibrahims Empfehlung: „Offenbar aus - sichtslose Zukunft. Vielleicht könn- te er bei Ihnen eine nähere Beob- achtung und Beurteilung finden.

Euth.?“ Tatsächlich wurde das Kind am 9. Februar 1944 in die von Kloos geleitete „Kinderfachabtei- lung“ aufgenommen.

Stadtroda war Teil eines Netz- werks von etwa 30 „Kinderfachab- teilungen“, in denen in der Zeit von 1939 bis 1945 zwischen 5 000 und 10 000 Säuglinge, Kinder und Ju- gendliche ermordet wurden. Auch der kleine Junge, den Ibrahim überwiesen hatte, überlebte die

„Kinderfachabteilung“ nicht. Ende Mai erkrankte er – den Eintragun- gen im Krankenblatt zufolge – an einem fieberhaften Darminfekt.

Das Kind starb am 2. Juni 1944, als Todesursache wurde „Herz-Kreis- lauf-Schwäche“ vermerkt. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass bei

seinem Tod „nachgeholfen“ wurde – und sei es auch nur durch Unter- lassen (1).

Die Zuarbeit Ibrahims erfolgte – das muss betont werden – auf frei- williger Basis. Es gab keine gesetz- liche Grundlage, die ihn dazu ver- pflichtet hätte. Den Entwurf zu ei- nem „Gesetz über Sterbehilfe“, das der medizinische Expertenstab der

„Euthanasie“-Aktion ausgearbeitet hatte, lehnte Hitler 1940 ab. Er wollte, dass der Krankenmord – frei von allen bürokratischen Hinder- nissen und juristischen Einschrän- kungen – im rechtsfreien Raum stattfand. Die „Euthanasie“ blieb daher bis 1945 nach dem Gesetz in Deutschland strafbar. Kein Arzt konnte gezwungen werden, sich

Überarbeitete Fassung eines Vortrags bei der Ge- denkveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin am 18. September 2010 in Potsdam

Wie konnten Ärzte am Massenmord der „Euthanasie“ teilnehmen und nicht in Widerspruch zum eigenen ärztlichen Selbstverständnis geraten?

Hans-Walter Schmuhl

Bild oben: Präpa- rierte Gehirne und

Schädel von circa 400 Kindern und Jugendlichen, die der

Nazi-„Euthanasie“

zum Opfer gefallen sind, im Gedenkraum der Psychiatrischen Klinik Baumgartner Höhe in Wien

Foto: dpa

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12. November 2010 dar an zu beteiligen, und die Organi-

satoren hüteten sich, Druck auf die Mediziner auszuüben.

Es bestand zwar eine Melde- pflicht für Kinderärzte, Geburts- helfer und Hebammen. Sie hatten behinderte Säuglinge und Klein- kinder den Gesundheitsämtern an- zuzeigen, welche die Meldungen an die „Eu- thanasie“-Zentrale weiter- leiteten. Die Meldepflicht wurde jedoch nicht allzu streng eingehalten, und die „Euthanasie“-Zentrale hatte wegen des konspira- tiven Charakters ihrer Or- ganisationsstruktur auch kaum Zwangsmittel zur Hand, um die Melde- pflicht durchzusetzen.

Aber Ibrahims Kontakte folgten ohnehin nicht dem bürokratischen Pro- zedere: Er ergriff von sich aus die Initiative und nahm auf direktem Weg –

von Kollege zu Kollege – Kontakt zu Kloos auf. Und er beschränkte sich nicht darauf, den Fall zu mel- den, er deutete von sich aus die Möglichkeit der „Euthanasie“ an – das wog schwer angesichts der Au- torität Ibrahims auf dem Gebiet der Kinderheilkunde. Seine aktive Rol- le innerhalb des Tatgeschehens ist hervorzuheben – und es handelte sich hier, wie die jüngere For- schung zeigt, keineswegs um einen Einzelfall.

Das System war angewiesen auf die freiwillige Zuarbeit Man muss sich klarmachen, dass die „Euthanasie“ auf eine solche freiwillige Zuarbeit aus den Reihen der Ärzteschaft angewiesen war.

Ein dichtes Netzwerk kollegialer Kontakte lieferte Hinweise auf Säuglinge, Kinder und Jugendliche, die dann in die „Kinderfachabtei- lungen“ verlegt wurden. Ohne die mittelbare Beteiligung einer Viel- zahl von Ärzten hätte der Vernich- tungsapparat längst nicht so effek- tiv arbeiten können. Die Frage nach den Motiven für diesen vorausei- lenden Gehorsam ist nicht leicht zu beantworten. Politischer Druck, ängstliche Anpassung, beruflicher

Ehrgeiz, ideologische Indoktrinie- rung – das alles mag in dem einen oder anderen Fall eine Rolle ge- spielt haben. Entscheidend war es sicher nicht. Dazu sind die Quellen, die bei den an der NS-„Euthanasie“

mittelbar oder unmittelbar beteilig- ten Ärzten auf ein hohes Maß an

Zustimmung, ja Be- geisterung hindeuten, zu zahlreich.

Handlungsleitend war in vielen Fällen eine regelrechte Aufbruch- stimmung, das Hochge- fühl, an einem sozial - sanitären Großprojekt von welthistorischer Bedeutung beteiligt zu sein. Um dies verstehen zu können, muss man sich zunächst die be- sondere Signatur jenes Massenmordes an psy- chisch kranken und geis- tig behinderten Men- schen vergegenwärtigen, den das nationalsozialistische Re- gime vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges ins Werk setz- te: Man kann den Nationalsozialis- mus mit guten Gründen als eine biopolitische Entwicklungsdiktatur auffassen, die darauf abzielte, die Kontrolle über Geburt und Tod, Se- xualität und Fortpflanzung, Körper und Keimbahn, Variabilität und Evolution an sich zu bringen, den Genpool der Bevölkerung von allen unerwünschten „Beimischungen“

zu „reinigen“ und auf diese Weise einen homogenen „Volkskörper“ zu schaffen. „Volkskörper“ – das ist der Schlüsselbegriff nationalsozia- listischer Biopolitik.

Für Dr. Leonardo Conti etwa, der seit 1939 als „Reichsgesundheits- führer“ an der Spitze der staatlichen wie auch der parteiamtlichen Ge- sundheitsführung stand, hatte der Staat für den Nationalsozialismus

„nur Sinn als die Organisationsform des deutschen Volkes. Sinn und Zweck gibt ihm erst der lebendige Volkskörper“. Der Nationalsozialis- mus habe den Begriff des Volkes

„vertieft“. „Das Volk ist nicht die Summe der Staatsbürger des Lan- des, [. . .] sondern [. . .] die rassische und damit im Zusammenhang ste-

hende kulturelle, geistige und see- lische Gemeinschaft, deren äuße- rer Ausdruck erst die staatliche Verbundenheit ist.“ Doch auch diese Begriffsbestimmung, so schränkte Conti ein, sei noch zu eng gefasst, „da sie nur die heuti- ge, gegenwärtige Generation“ be- zeichne. Der Begriff „Volk“ um- fasse aber auch die dahingegange- nen und vor allem die kommenden Generationen.

Schlüsselstellung der Medizin in der NS-Diktatur

Daraus leitete Conti als Aufgabe des Staates ab, die Rahmenbedin- gungen dafür zu schaffen, dass sich das Volk „von Generation zu Gene- ration kraftvoller und schöner er- neuern“ könne. Diese Staatsaufga- be zerfalle in zwei Gebiete, die

„Erbgesundheitspflege“ und die

„Anlageförderung“. Die eine forme das „Erbbild“, die andere das „Er- scheinungsbild des Volksgenossen“

(2). Es war von vornherein klar, dass innerhalb einer solchen biopo- litischen Entwicklungsdiktatur der Medizin eine Schlüsselstellung zu- gewiesen würde – und dass sich der Kinderheilkunde im „Dritten Reich“ ganz neue Perspektiven er- öffneten: etwa auf dem Feld der Vorbeugung, der systematischen Reihenuntersuchungen von Kin- dern und Jugendlichen, der Ge- sundheitserziehung und Gesund- heitsführung der Jugend, der Kör- perertüchtigung, des Kampfes ge- gen Alkohol und Nikotin, der Sexu- alhygiene und des Kampfes gegen Geschlechtskrankheiten. Das be- deutete – über die traditionellen Tä- tigkeitsbereiche der Säuglings- und Kleinkinderfürsorge, der Behand- lung von Infektionskrankheiten und Ernährungsstörungen hinaus – eine Ausweitung der Kinderheilkunde auf neue Praxis- und Forschungs- felder, die Erweiterung der pädiatri- schen Zuständigkeit auf Jugendli- che bis zur Geschlechtsreife und ei- ne Expansion des Kompetenzbe- reichs der Pädiater gegenüber den Schulärzten und den Ärzten des Ge- sundheitsdienstes der Hitlerjugend.

Diese Perspektive war für die Pädiater und die Pädiatrie eine Ver- führung, zumal sie sich mit eigenen Euth.? – Jussuf

Ibrahim, der „Verdiente Arzt des Volkes“, der „Retter der Säuglinge, Berater der Mütter und Wohltäter der Menschheit“, über- wies 1944 Kinder in den sicheren Tod.

Foto: Deutsche Fotothek

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12. November 2010 Zielvorstellungen traf. War doch

die deutsche Kinderheilkunde seit den Anfängen ihrer Etablierung als eigenständige Fachdisziplin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Anspruch aufgetreten, durch die Senkung der Säuglings- und Kindersterblichkeit einen Bei- trag zur Stärkung des Volkes und des Staates zu leisten, die zu ihrem Fortbestand auf eine zahlreiche, ge- sunde und leistungsstarke Nach- kommenschaft angewiesen seien.

Und der Bedeutungszuwachs der deutschen Kinderheilkunde nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, die Anerkennung als Spezialdiszip- lin mit einer dreijährigen Ausbil- dungszeit Mitte der 1920er Jahre, hing eng mit der Erwartung zusam- men, die Kinderheilkunde werde die „Wiederaufforstung des deut- schen Volksbestandes“ (3) be- schleunigt vorantreiben. Das war ein Pfund, mit dem die Pädiatrie auch nach 1933 wuchern konnte.

Dass sich nun die Gewichte zuneh- mend von der kurativen zur präven- tiven Medizin, vom kranken zum gesunden Kind verschoben, wurde

dabei als Chance, nicht als Risiko begriffen. Kinderheilkunde sollte um eine „Jugendmedizin“ erweitert und zur „ärztlichen Jugendkunde“

fortentwickelt werden.

Gesundheit als dynamischer Be- griff, den man immer enger und

mit dem man so das eigene Ar- beitsgebiet immer weiter fassen

konnte – dies schien der Pädiatrie immer neue Felder der Prophyla-

xe, der Sozialhygiene, der Ge- sundheitserziehung zu eröffnen.

Die Risiken dieses Ansatzes wurden nicht erkannt – oder

aber billigend in Kauf genom- men. Denn der Fokus ärztli- chen Handelns verschob sich

in der biopolitischen Ent- wicklungsdiktatur des Natio- nalsozialismus vom indivi- duellen zum „Volkswohl“.

Der Wert des Menschen lei- tete sich aus seiner Position

und Funktion in dem als Organismus höherer Ord-

nung verstandenen „Volks- körper“ ab – und für den

„Volkskörper“ hatte ein Mensch nur dann einen Wert, wenn er „erb- gesund“ und „rasserein“, leistungs- stark und lebenstüchtig, fruchtbar und wehrhaft war.

Nun sah sich die Kinderheilkun- de seit den Anfängen der Eugenik und Rassenhygiene am Ende des 19. Jahrhunderts dem Vorwurf aus- gesetzt, sie setze mit ihrem Kampf gegen die Säuglings- und Kinder- sterblichkeit die „natürliche Ausle- se“ ein Stück weit außer Kraft und trage auf diese Weise zur Degene - ration der Erbmasse des Volkes bei. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde nun die Rassenhygiene zur Staatsdoktrin er- hoben, und die Kinderheilkunde musste sich dieser Herausforderung stellen.

Dialektik von Heilen und Vernichten

Die „Deutsche Gesellschaft für Kin- derheilkunde“ – sie hatte sich mitt- lerweile im Zuge der „Selbstgleich- schaltung“ ihrer jüdischen und poli- tisch missliebigen Mitglieder entle- digt – tat dies auf ihrer Jahrestagung 1934. Nachdem die Versammlung sich von Prof. Otmar Frhr. v. Ver-

schuer, Abteilungsleiter des Kaiser- Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in Berlin, dem damals führenden deutschen Humangenetiker, über den Stand der Erblehre des Men- schen hatte unterrichten lassen, refe- rierte Thilo Brehme über die „Auf- gaben und Bedeutung der Kinder- heilkunde im Neuen Deutschland“.

Dabei setzte er sich auch mit „Vor- würfe[n] gegenüber der Pädiatrie wegen der Erhaltung lebensunwer- ten Lebens“ auseinander und wagte eine Prognose: „Es ist möglich, dass eine neue, mehr die Gesamtheit als das Einzelindividuum berücksichti- gende ethische Grundhaltung uns einmal zwar nicht die Verpflichtung auferlegt, wirklich lebensunwertes Leben auszumerzen, aber vielleicht doch die Freiheit lässt, gegebenen- falls nichts zu seiner Erhaltung zu tun.“ (4)

An diesem Punkt beginnt sich das Bild zu klären. Man bekommt eine Vorstellung davon, warum so viele Pädiater – wie auch Kinder- und Jugendpsychiater – die Ermor- dung von bis zu 10 000 behinderten und kranken Kindern und Jugendli- chen in den „Kinderfachabteilun- gen“ und weiterer 4 200 in den Gas- kammern der „Aktion T4“ wider- spruchslos hinnahmen, warum manche – so wie Jussuf Ibrahim – die Gelegenheit nutzten, Kinder, bei denen keine Behandlungsperspekti- ve bestand, in Einrichtungen der

„Euthanasie“ abzuschieben, warum andere – wie der Direktor der Uni- versitätskinderklinik in Leipzig, Prof. Werner Catel – im eigenen Haus eine „Kinderfachabteilung“

einrichteten oder Kinder, die als

„lebensunwert“ ermordet werden sollten, im Zuge „verbrauchender Forschung“ benutzten – so etwa Prof. Georg Bessau, der Direktor der Kinderklinik an der Charité, der in mehreren Testreihen Tuberkulo- seimpfstoffe an solchen Kindern prüfen ließ.

Es deutet sich an, warum Ärzte aktiv an diesem Massenmord teil- nehmen konnten, ohne darin einen Widerspruch zum eigenen ärztli- chen Selbstverständnis zu sehen.

Wie etwa der Berliner Kinderarzt Dr. Ernst Wentzler, eine der Schlüs- Der auf den

Kriegsbeginn gegen Polen datierte

Geheimbefehl Adolf Hitlers, mit dem er den Mord an den

„unheilbar Kranken“

anordnete.

Foto:

Wikipedia

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12. November 2010 A 2231 selfiguren der Kinder-„Euthana-

sie“, der 1942 – die Mordaktion lief auf vollen Touren – den Vorsitz des neu gegründeten Vereins „Deut- sches Kinderkrankenhaus e.V.“

übernahm – eines Vereins, der sich den Bau mustergültiger Kinder- krankenhäuser zum Ziel gesetzt hatte. Die Dialektik von Heilen und Vernichten ermöglichte es allen die- sen Medizinern, sich als „Arzt am Volkskörper“ zu verstehen – und die schwächsten unter ihren kleinen Patienten preiszugeben.

Skepsis gegenüber

neo eugenischen Sozialutopien Es ist wichtig, diesen Motivlagen immer wieder nachzuspüren – auch mit Blick auf die Gegenwart, auf aktuelle Diskussionen um Präim- plantationsdiagnostik und Desi - gnerbabys. Allen neoeugenischen Sozialutopien müssen wir das skep- tische Wort Immanuel Kants entge- gensetzen: „Aus so krummem Hol- ze, als woraus der Mensch gemacht

ist, kann nichts ganz Gerades ge- zimmert werden.“ Behinderung, Krankheit, Schwäche und Hilflo- sigkeit gehören – wie Empathie, Respekt, Demut, Erbarmen und Gü- te – zur conditio humana. Hier kommt gerade auch der Medizin ei- ne große Verantwortung zu – eine Verantwortung, die auch Grenzen medizinischer Praxis und medizini- scher Wissenschaft respektiert, die kompromisslos den einzelnen Men- schen zum Ausgangspunkt der Be- rufsethik macht. Das heißt viel- leicht auch: Erwartungen enttäu- schen, Zumutungen zurückweisen, Druck standhalten. Am Ende gilt:

Ein Gemeinwesen ist dann am stärksten, wenn es vom Schwächs- ten her denkt.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2010; 107(45): A 2226–31

Kontakt

Prof. Dr. phil. Hans-Walter Schmuhl

Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld E-Mail: schmuhl@schmuhl-winkler.de

LITERATUR

1. Renner R, Zimmermann S: Prof. Dr. Jussuf Ibrahim und die NS-Kindereuthanasie.

Arztebl Thüringen 2003; 14(7/8): 522–5, 597–9; dies.: Der Jenaer Kinderarzt Jussuf Ibrahim (1877–1953) und die Tötung be- hinderter Kinder während des Nationalso- zialismus. In: Hoßfeld U, John J, Lemuth O, Stutz R (Hrsg.): „Kämpferische Wissen- schaft“. Köln: Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus 2003; 437–51;

Zimmermann S: „Euthanasie wäre durch- aus zu rechtfertigen . . .“. Der Jenaer Pro- fessor Jussuf Ibrahim und die NS-Kinder- morde. In: Forsbach R (Hrsg.): Medizin im

„Dritten Reich“. Humanexperimente, „Eu- thanasie“ und die Debatten der Gegenwart, Hamburg 2006; 81–98; Liebe S: Prof. Dr.

med. Jussuf Ibrahim (1877–1953). Leben und Werk. Jena: Dissertation Universität Jena 2006.

2. Conti L: Körperliche Ertüchtigung als biolo- gische Aufgabe des Staates, Typoskript, Teilnachlass, Leonardo Conti, Privatbesitz (demnächst Bundesarchiv Berlin).

3. Beddies T: „Du hast die Pflicht, gesund zu sein.“ Der Gesundheitsdienst der Hitler-Ju- gend 1933–1945, Berlin 2010; 67.

4. Brehme T: Aufgaben und Bedeutung der Kinderheilkunde im neuen Deutschland.

Monatsschrift für Kinderheilkunde 1934;

62: 184.

. . . Wir gedenken heute der minderjährigen Opfer des menschenverachtenden Pro- gramms von „Auslese und Ausmerze“ der NS- Medizin, an dem auch Kinderärztinnen und Kinderärzte beteiligt waren. Wir gedenken der Kinder und Jugendlichen, die aus der soge- nannten Volksgemeinschaft ausgegrenzt, asy- liert und sterilisiert wurden, die für Menschen- versuche missbraucht und zu Tausenden in die Kranken-Mordaktionen des Zweiten Welt- kriegs einbezogen wurden. Es handelte sich um kranke und behinderte Jungen und Mäd- chen, die von Ärzten und Erziehern nicht als Patienten oder als schutzbefohlene Heimzög- linge behandelt wurden, sondern für fragwür- dige Experimente missbraucht, deportiert und umgebracht wurden. Dabei wurde gleichzeitig die allzeit bestehende Abhängigkeit des Kin- des vom Erwachsenen, also der Vertrauens- vorschuss, den das Kind zu gewähren ge- zwungen ist, durch Ärzte und Pfleger in gröbs- ter Weise verraten. Auch die Eltern und Ange- hörigen wurden vorsätzlich getäuscht: Sie ga- ben ihre Kinder häufig in der Hoffnung auf ei-

ne moderne, Erfolg versprechende Behand- lung in die Hände der Täter.

. . . Wir bekennen die geistige Miturheber- schaft und das aktive Mittun von Kinderärztin- nen und Kinderärzten an diesen Verbrechen;

wir beklagen darüber hinaus jede Form von Mitläufertum und Meinungskonformismus, oh- ne die das Regime nicht hätte funktionieren können und die es den Tätern erst möglich machten, ihre Verbrechen durchzuführen. Ver- brechen, die ja nicht im Ungewissen ferner Landstriche und besetzter Gebiete, sondern in der Mitte des gesellschaftlichen Lebens und mitten in Deutschland in Arztpraxen und Kran- kenhäusern, staatlichen Ämtern und wissen- schaftlichen Instituten stattfanden.

. . . Wir müssen uns dafür einsetzen, dass Ausgrenzung, Angriffe auf die Menschenwürde und menschenverachtende Ideologien in unse- rer Gesellschaft keine Chance mehr erhalten.

Jeder Wissenschaft und insbesondere den bio- wissenschaftlichen und medizinischen Diszipli- nen gehören klare ethische und rechtliche Grenzen gesetzt. Es darf keine Zielvorgaben in

der Forschung und in der Betreuung von Pa- tienten geben, die als so wichtig und hochran- gig angesehen werden können, dass sie die Missachtung individueller Menschenwürde und Menschenrechte rechtfertigen. Wissenschaft findet ihre Grenzen in den unverzichtbaren Rechten und der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen. Davon sind Kinder und Jugendliche nicht ausgenommen.

Der Nationalsozialismus hatte Ärzte und Forscher weitgehend von ihrer Verantwortung gegenüber ihren Patienten entbunden, indem er scheinbar höhere Werte und politische Inter - essen des Volksganzen in den Vordergrund stellte. Wir haben uns der Tatsache zu stellen, dass viele Kinderärztinnen und Kinderärzte nicht die Kraft aufbrachten, den Versuchungen zu widerstehen. Sie haben damit sich und der deutschen Kinderheilkunde schwerste Schuld aufgeladen. Wir verneigen uns heute in Demut vor den Opfern und ihren Angehörigen und bit- ten im Namen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin um Verzeihung für das Leid, das Kinderärztinnen und Kinderärzte ihnen in dieser Zeit zugefügt haben.

@

Der vollständige Wortlaut der Erklärung im Internet: www.aerzteblatt.de/102226

BITTE UM VERZEIHUNG FÜR DAS ZUGEFÜGTE LEID

„Im Gedenken der Kinder. Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“

– Erklärung (Auszüge) der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) bei der Gedenkveranstaltung am 18. September 2010 in Potsdam:

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