Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 109|
Heft 10|
9. März 2012 A 495M
ehr als 70 Jahre nach Be- ginn der systematischen Tö- tungen geistig und körperlich be- hinderter Menschen in den Jahren 1939/40 wird jetzt mit einer Aus- stellung an die sogenannte Kinder- euthanasie während der Zeit des Nationalsozialismus erinnert. Bis zum 20. Mai zeigt die Stiftung Topographie des Terrors in Berlin die Gastausstellung der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Ju- gendmedizin (DGKJ) „Im Geden- ken der Kinder – Die Kinderärzte und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“.Anerkennung von Schuld
Mehr als 10 000 Kinder fielen bis 1945 den verschiedenen Program- men zur Vernichtung „lebensun- werten Lebens“ der Nationalsozia- listen zum Opfer. Circa 5 000 Kin- der wurden allein in „Kinderfach- abteilungen“ – eigens für die Tö- tung geschaffenen Einrichtungen – gequält und ermordet. Kinder wur- den aber auch Opfer der Gasmord- aktion „T4“ und der „Hungerkost“in Anstalten und Heimen. Sie wur- den für Experimente missbraucht und ihre Organe nach dem Tod für Forschungszwecke verwendet. Die Ausstellung zeigt, dass es Ärztin- nen und Ärzten bei der Tötung kaum um die schmerzlose Beendi- gung individuellen Leidens ging, sondern entsprechend der NS-Ideo- logie um die „Befreiung“ des Allge- meinwesens von „Ballastexisten- zen“, deren Leben nur dann verlän- gert wurde, wenn sie noch „der Wissenschaft dienen“ konnten.
„In vielen Fällen waren es Kinder- ärzte und Kinderärztinnen, die Kin- der im Namen der Wissenschaft mel- deten, begutachteten, in Experimen- ten benutzten und töteten. Fassungs- los stehen wir heute vor der Frage, wie Kinderärzte und Pflegerinnen die ihnen schutzbefohlenen Kinder derart ausliefern konnten, in dem Wissen, dass sie Leid und Tod fin- den würden“, sagte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Prof. Dr. med.
Norbert Wagner, bei der Ausstel- lungseröffnung. Er berichtete, dass sich die DGKJ bereits seit Jahren mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte während des Nationalsozialismus beschäftige. So habe sie 1998 in der
„Dresdner Erklärung“ die Gleich- schaltung der Kinderheilkunde im Nationalsozialismus als zentrales Thema aufgearbeitet. Dabei sei es um das Schicksal von Hunderten jü- discher Kinderärzte zwischen 1933 und 1945 gegangen, die auch unter Mitwirkung von Kolleginnen und Kollegen vertrieben worden seien.
Auf einer Gedenkveranstaltung im Jahr 2010 wurde eine Erklärung vor- gelesen, die die Anerkennung von Schuld sowie die Mitwirkung von Kinderärztinnen und -ärzten an den NS-Medizinverbrechen festhält.
Gedenken an die Opfer
Mit der Ausstellung „Im Gedenken der Kinder“ wende die Fachgesell- schaft sich jetzt an eine breite Öf- fentlichkeit. „Wir wollen signali- sieren, wie wichtig das Erinnern und das Gedenken an die Opfer von Verbrechen gegen die Menschlich- keit für die demokratische Ent- wicklung unserer Gesellschaft heu- te und in Zukunft sind. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass Ausgren- zung, Angriffe auf die Menschen- würde und menschenverachtende Ideologien in unserer Gesellschaft keine Chance mehr haben“, sagte Wagner.
In der Ausstellung werden mehr als 30 großformatige Bild- und Text- tafeln sowie Medienstationen mit Originalsequenzen eines Propagan- dafilms und Lesungen aus Briefen von Opfern und Tätern präsentiert.
Ergänzend zur Ausstellung wurde eine Vortragsreihe „Medizin im Na- tionalsozialismus“ konzipiert.
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Gisela Klinkhammer Die Ausstellung „Im Gedenken der Kinder – Die Kinderärzte
und die Verbrechen an Kindern in der NS-Zeit“ ist bis 20.
Mai in der Stiftung Topographie des Terrors, Niederkirchner- straße 8, 10963 Berlin, zu sehen. Telefon: 030 254509-0, info@topographie.de, www.topographie.de. Öffnungszei- ten: täglich von 10 bis 20 Uhr. Der Eintritt ist frei. Die Aus- stellung war im letzten Jahr bereits in Potsdam zu sehen.
INFORMATIONEN
„IM GEDENKEN DER KINDER“
Leid und Tod
Eine Ausstellung in Berlin erinnert an die sogenannte Kinder euthanasie und die Verbrechen der Kinderärzte in der NS-Zeit.
K U L T U R
Kinder in der
„Brandenburgischen Idiotenanstalt“
Lübben, um 1933
Foto: Institut für Geschichte der Medizin, Charité Berlin