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Archiv "Psychiatrie-Geschichte: Wendepunkt 1968" (24.12.2001)

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 51–52½½½½24. Dezember 2001 AA3435

D

ie „gesellschaftliche Hochdruck- zone der 1968er“ war die Wende zu einer modernen psychiatri- schen Versorgung. Die Studentenrevol- te und Kulturrevolution der 68er schaff- ten die gesellschaftliche Stimmung für die Durchsetzung der Psychiatriereform – das Ende von Bettensälen und Ver- wahrpsychiatrie. Das war das Fazit der Tagung „Psychia-

triereform als Ge- sellschaftsreform“, zu der das Westfäli- sche Institut für Re- gionalgeschichte des Landschaftsver- bandes Westfalen- Lippe nach Münster eingeladen hatte.

Konzipiert war die Tagung als „Runder Tisch“, an dem Hi- storiker und Psych- iater sowie Vertre- ter aus Gesund- heitsverwaltung,

Politik und psychiatrischen Fach- und Hilfsverbänden diskutierten.

Bereits in den 50er- und frühen 60er- Jahren gab es Reformimpulse, hervor- gegangen aus dem Bedürfnis, die Ver- brechen der Nationalsozialisten an psy- chisch Kranken wieder gutzumachen, lautete die zentrale These von Priv.- Doz. Dr. phil. Franz-Werner Kersting, Westfälisches Institut für Regionalge- schichte. Eine Reihe „junger aufmüpfi- ger Oberärzte“, die die menschenun- würdigen Zustände in den damaligen Verwahranstalten selbst erlebten, habe die „Schuld der Väter“ abzutragen ver- sucht, indem sie die Reform der Psych- iatrie vorantrieben. Einer von ihnen, Prof. Dr. Dr. mult. h. c. Heinz Häfner, stellvertretender Vorsitzender der En-

quete-Kommission, die 1971 vom Deut- schen Bundestag eingesetzt wurde, um die Zustände in den Heil- und Pflegean- stalten zu untersuchen, bestätigte, er sei

„Psychiater geworden, um wieder gut- zumachen“.

Häfner glaubt, dass andererseits die Verdrängung der NS-Verbrechen an psy- chisch Kranken die Ursache für einen Stau der Reformen gewesen sei – wes- halb die Psychiatrie- reform in Deutsch- land erst etwa 20 Jahre später in Gang kam als in den USA oder in Großbritan- nien. „Die Psychia- ter haben sich nach dem Krieg wegen der NS-Verbrechen hinter ihre Mauern zurückgezogen und den Mangel und das Elend klaglos ver- waltet.“ Mehr als 70 000 psychisch Kranke wurden von den Nazionalsozialisten im Rahmen der T4- Aktion ermordet.

Gezieltes Verhungernlassen

Der Massenmord war der Höhepunkt der Verbrechen an psychisch Kranken.

Doch bereits im Ersten Weltkrieg habe man mehr als 70 000 Patienten verhun- gern lassen, die erhöhte Sterblichkeit habe bis 1924 angehalten, berichtet Dr.

med. Heinz Faulstich, der umfassend zum „Hungersterben in der Psychia- trie“* recherchiert hat. Ab 1933 führten

Psychiatrie-Geschichte

Wendepunkt 1968

Die Verbrechen der Nationalsozialisten an psychisch Kranken verzögerten zum einen die Reform

der Psychiatrie, gleichzeitig setzte das Bedürfnis nach Wiedergutmachung den Reformprozess in Gang.

* Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1945. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie, Lambertus Verlag, 1997, 600 Seiten

Der Titelaufsatz in Heft 6/2001 zog 25 Jahre nach der Psychiatrie-Enquete von 1975 eine Bilanz der Umsetzung.

geringere Bedeutung zukommen als in den Augen der Menschen, die Ovare haben und ihre geschlechtliche Iden- tität unter anderem gerade aus ihrem Vorhandensein schöpfen.

Der wichtigste Umstand jedoch, der Ärzten, Politikern, Journalisten, Ethi- kern und Menschenrechtlern die Scheuklappen des Verdrängens auflegt, ist die Tatsache, dass ungewollt kinder- lose Frauen anscheinend freiwillig in die Behandlung einwilligen, ja die Mühen der Behandlung über Jahre hin- weg auf sich nehmen und gegenüber der Versichertengemeinschaft für ihr Recht auf die Behandlung einstehen.

Da die traditionellen Geschlechter- bilder fortwirken und diese von Frau- en Leidensfähigkeit, Opferbereitschaft und ein Dasein für andere einfordern (25), fällt es Frauen schwer, sich gegen diese anscheinende Normalität auszu- sprechen, auch wenn sie ihnen noch so viel abverlangt. Auch ist es zu beden- ken, dass Familienrollen vernetzt sind und Familienangehörige nur dann „Va- ter“, „Großvater“ und „Großmutter“

werden können, wenn eine Frau in die Mutterrolle einwilligt. Hierbei kann ei- ne Absage an die Behandlung als eine Absage an die Mutterrolle missverstan- den werden und bei den Angehörigen eine Enttäuschung hervorrufen. Wegen der Auslassung der Gefahrenfrage in der öffentlichen Diskussion kann eine ungewollt kinderlose Frau nicht erwar- ten, dass ihre Angst vor Gesundheits- schädigung als Motiv für einen Behand- lungsverzicht auf Verständnis trifft.

Der Kreis des Verschweigens schließt sich, indem sich die geschädigten Frau- en in jahrelange psychotherapeutische Behandlungen begeben. An die Öffent- lichkeit gehen die wenigsten. Sie ahnen, wie schwer es ist, eine Erfahrung, für die es keine gesellschaftlichen Verar- beitungsmuster gibt, der nichtbetroffe- nen Mehrheit zu vermitteln.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2001; 98: A 3430–3435 [Heft 51–52]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das im Internet (www.aerzteblatt.de) abruf- bar ist.

Anschrift der Verfasserin:

Dr. phil. Magda Telus Josephstraße 11 44791 Bochum

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die Nazis Sparmaßnahmen ein, um die angeblich von den „Erbkranken“ ver- ursachten „ungeheuren Fürsorgela- sten“ zu senken und – so die Propagan- da – das eingesparte Geld für die Pflege der „Erbgesunden“ zu verwenden. Zu diesen Maßnahmen gehörte die Über- belegung der Anstalten, der Abbau des Personals und die Reduzierung der Ernährungskosten. Trotz des an- schließenden Massenmords (T4) blie- ben die staatlichen Anstalten überbe- legt, auch weil bis Ende 1941 ein Viertel aufgelöst worden war. Während des Zweiten Weltkrieges wurden in vielen Anstalten körperlich Kranke unterge- bracht und die psychisch Kranken noch mehr zusammengepfercht. Wegen der Überfüllung „nahm das Morden ab 1942 wieder sprunghaft zu und führte zur zweiten Phase der Euthanasie“, be- tont Faulstich, ehemaliger stellvertre- tender Leiter des psychiatrischen Lan- deskrankenhauses Reichenau.

Höchste Sterberaten nach dem Krieg

Für die Patienten am gefährlichsten war die Senkung der „Kostsätze“ von 70 bis 80 Pfennig pro Kopf und Tag Mitte der 30er-Jahre auf weniger als die Hälfte während des Krieges. Durch den Abzug von Personal und die Reduzierung von Sachausgaben verrotteten die Anstal- ten, und die hygienischen Bedingungen verschlechterten sich. Die Sterberaten im Zweiten Weltkrieg stiegen auf mehr als 20 Prozent an. Neben dem allgemei- nen Hungersterben wurde in einigen Anstalten gezielt mit Nahrungsentzug und überdosierten Medikamenten ge- mordet. Faulstichs Untersuchungen zu- folge fielen all diesen „Sparmaßnah- men“ rund 96 000 Menschen zum Opfer – mehr als der „Aktion T4“. Einen trau- rigen Höhepunkt erreichten die Sterbe- raten jedoch nach dem Einmarsch der Alliierten: Sie stiegen 1945 auf rund 50 Prozent; in einigen Anstalten ergriff fast das gesamte Personal die Flucht und überließ die Patienten ihrem Schicksal, Todesmärsche Halbverhun- gerter waren an der Tagesordnung.

Das Hungersterben in den Anstalten zog sich bis in die 50er-Jahre. Ab 1945 herrschte Hungersnot in der Bevölke-

rung, von der die Anstaltsinsassen be- sonders betroffen waren, da sie sich kei- ne zusätzlichen Nahrungsmittel beschaf- fen konnten. In der sowjetischen und der französischen Besatzungszone war die Nahrung besonders knapp. In allen Zo- nen herrschte Mangel an Kohlen – die Patienten mussten frieren. Interkurren- te Erkrankungen verliefen daher bei den resistenzgeschwächten Patienten oft tödlich; hinzu kamen Typhusinfektionen und Krätze. „Von allen Notständen wa- ren psychisch Kranke am stärksten be- troffen“, resümiert Faulstich.

Die Verdrängung der NS-Verbrechen könnte ein Grund dafür gewesen sein, warum nicht bereits in den 50er-Jahren mit einer umfassenden Reform der Psychiatrie begonnen wurde. Die En- quete-Kommission, die die „brutale Realität“ und die „elenden menschenun- würdigen Verhältnisse“ in den Anstalten aufdeckte, wurde erst 1971 berufen. Re- formvorschläge in den 50er-Jahren sei- tens einiger Klinikdirektoren hätten nur dann Aussicht auf Erfolg gehabt, wenn sie den Kostenträgern Einsparungen ver- sprachen, zum Beispiel durch frühzeitige Entlassung, Außenfürsorge oder Famili- enpflege, glaubt Faulstich. Ein anderer Grund für den Reformstau könne die räumliche Abgelegenheit der psychiatri- schen Anstalten auf dem Land gewesen sein, vermutet Häfner. Das Elend der In- sassen sei damit „aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verschwunden“. Dafür spreche, dass die Zustände in den psych- iatrischen Abteilungen der Universitäts- kliniken besser waren als in den Landes- krankenhäusern.

Das gesellschaftspolitische Klima in der Bundesrepublik, das verantwortlich für die Verdrängung der NS-Verbrechen war, wird in den Sechzigerjahren allmäh- lich abgelöst von einem für die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangen- heit offeneren Klima. Die Bereitschaft war gewachsen, „die Hypothek der deut- schen Katastrophe auch für die Nach- kriegspsychiatrie öffentlich einzugeste- hen“, formuliert der Historiker Ker- sting. Mitte der 60er-Jahre griffen unter anderen der damalige Psychiatrie-Ordi- narius Walter Ritter von Baeyer sowie die damaligen Oberärzte Karl Peter Kis- ker* und Heinz Häfner das NS-Thema

öffentlich auf. Unter dem Titel „Psychia- trie der Verfolgten“ publizierten sie 1964 eine Studie über „Psychopathologische und gutachterliche Erfahrungen an Op- fern der nationalsozialistischen Verfol- gung“. „Der NS-Bezug als Reformmotiv und als Reformargument gewann an Be- deutung“, folgert Kersting.

Klima für Reformen geschaffen

Das Klima für eine Reformierung be- günstigt hat auch die Anti-Psychiatrie- Debatte in den 60er- und 70er-Jahren.

Die Verfechter der Anti-Psychiatrie wie zum Beispiel der italienische Kli- nikdirektor Franco Basaglia, die engli- schen Psychiater Ronald Laing und Da- vid Cooper oder der US-Amerikaner Thomas Szaz – eine keineswegs homo- gene Bewegung – lehnten die Etikettie- rung psychischer Störungen als Krank- heit ab. Sie definierten sie als Folge so- zialer Prozesse der Ablehnung und Dis- kriminierung durch die in ihren Augen vermeintlich „normale“ Gesellschaft.

Die Heilanstalten und Großkranken- häuser galten ihnen als gefängnisähnli- che „totale Institutionen gesellschaftli- cher Normenkontrolle, Stigmatisierung und Entmündigung“.

Eine größere öffentliche Reso- nanz erlebte die Anti-Psychiatrie in Deutschland erst als Folge der antiau- toritären Studentenbewegung, deren Proteste 1968 ihren Höhepunkt er- reichten. Im gesellschaftlichen Klima der 68er-Jahre verliere sich auch die Konvergenz zwischen NS-Zeit und Re- formbestrebungen, sagte Kersting.

Durch dieses Klima ist die Psychiatrie- reform als sozialpolitische Bewegung angestoßen worden; die gesellschaftli- che Stimmung für einen grundlegen- den Wandel in der psychiatrischen Ver- sorgung wurde geschaffen. Auch wenn eine große Diskrepanz „zwischen der Makro-Ebene historischer Betrach- tung und dem organisatorischen In- gangbringen von Reformen auf der Mikro-Ebene“ bestehe, wie Häfner meint. Seit der Psychiatrie-Enquete 1975 hat sich in der Versorgung psy- chisch Kranker vieles verbessert – wenn auch nicht alle Forderungen von damals erreicht sind. Petra Bühring T H E M E N D E R Z E I T

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A3436 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 51–52½½½½24. Dezember 2001

* Prof. Dr. med. Walter Ritter von Baeyer und Prof. Dr.

med. Karl Peter Kisker sind verstorben.

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