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Archiv "Geschichte der Psychiatrie: „Am Ende der sozialen Rangordnung“" (09.02.2001)

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T H E M E N D E R Z E I T

jedoch der Lebensmittelpunkt: „Die Voraussetzung für die Integration in die Gemeinde ist nicht mehr gegeben.“

Auch die Finanzierung der patienten- bezogenen Versorgung bereitet Schwie- rigkeiten, da unterschiedliche Kosten- träger – Krankenkassen, Rentenversi-

cherung und Sozialhilfe – koordiniert werden müssten.

Die APK kritisiert auch, dass die ambulante psychiatrische Behand- lungspflege (§ 37 SGB V) nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Kranken- kassen gehört. Auch seien psychisch

Kranke, die in Pflegeheimen leben, be- nachteiligt, da sie von den Leistungen der Krankenversicherung ausgeschlos- sen seien. Die Beteiligung der Sozial- versicherungsträger an der Finanzie- rung rehabilitativer Hilfen für diesen Personenkreis liege unter fünf Prozent.

Für chronisch psychisch Kranke ist die sozialrechtliche Gleichstellung mit so- matisch Kranken zu fordern.

Ein Verdienst des durch die Reform in Gang gesetzten Umdenkens ist die Stärkung der Selbsthilfe und der Bür- gerhilfe. 1985 wurde der Bundesver- band der Angehörigen Psychisch Kranker gegründet und 1991 der Bun- desverband der Psychiatrie-Erfahre- nen. Bereits 1976 schlossen sich erste

Bürgerinitiativen und Hilfsvereine im Dachverband Psychosozialer Hilfsver- einigungen e.V. zusammen. 18 000 Mit- glieder zählen die „Bürgerhelfer“ heu- te. Mit Angeboten wie betreutem Woh- nen, Selbsthilfefirmen und Tagesstätten setzen sie sich für das Recht psychisch Kranker ein, an ihrem Wohnort „ein Leben nach eigenen Bedürfnissen zu

verwirklichen“. ✁

A

A304 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 6½½½½9. Februar 2001

Wie konnte es dazu kommen, dass chronisch psychisch Kranke und geistig Behinderte bis in die 70er-Jahre so ver- nachlässigt wurden? Warum wurden sie aus der Gesellschaft ausgegrenzt und in abseits gelegenen „Irrenanstalten“ auf- bewahrt? „Psychisch Kranke standen seit jeher am Ende der sozialen Rang- ordnung und der Zuteilung von Le- benschancen“, meint Prof. Dr. med. Dr.

h. c. Heinz Häfner, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, der sich damals aktiv für eine Reform der Psychiatrie einsetzte. Er belegt dies mit einem Blick in die Geschichte der Psychiatrie: Die Ideologie, psychisch Kranke von ihrer gewohnten Umge- bung zu isolieren, wurde Anfang des 19. Jahrhunderts von dem Heidelber- ger Psychiater Christian Friedrich Wil- helm Roller aufgebracht. Der Vertreter der idealistisch pädagogischen Schule lehrte, dass die „Entordnung der Ver- nunft“ (Immanuel Kants Erklärung für psychische Erkrankungen) auf „unor- dentlichen“ Umgang oder fehlgeleitete Erziehung in Familie und Umwelt zu- rückzuführen sei. Die Konsequenz dar- aus war, die Kranken von ihrer angeb- lich pathogenen Umgebung zu isolie- ren. Am besten in einer landschaftlich idyllisch gelegenen Anstalt, denn die sollte „wohltätig auf das Seelenleben wirken“. Die großherzoglich badische Heil- und Pflegeanstalt Illneau, einge- weiht 1840 und geleitet von Roller, wurde zum Vorbild vieler psychiatri- scher Anstalten in Europa. Nach und nach wanderten die psychiatrischen Krankenhäuser „aus der bürgerlichen Kultur und den Zentren des medizini- schen Fortschritts“. Der Idealismus der Psychiater stieß auf die Unheilbarkeit der meisten schweren Erkrankungen und der unwirksamen Behandlungsme- thoden. Das führte zu Resignation und therapeutischer Untätigkeit. Die Kran- ken wurden in zunehmend vernachläs- sigten Anstalten oft über Jahre oder le- benslang gehalten.

Um die Wende zum 20. Jahrhundert erhöhte sich die Zahl der Insassen psych- iatrischer Großkrankenhäuser, auf- grund hoher Geburtenraten und des Wandels zur Industriegesellschaft, stark.

Die Kapazität der Großkrankenhäuser blieb weit hinter dem Bedarf

zurück; der Standard der Un- terbringung sank. Die große Zunahme der Hospitalisierten erweckte – aus dem dilettanti- schen Biologismus jener Zeit – die Angst, die Geisteskrank- heiten seien „wegen geneti- scher Degeneration des Volks- körpers in steiler Zunahme be- griffen“. Diese Überzeugung wurde von vielen Bürgern, Professoren, Sozialmedizinern und Politikern geteilt. Sozi- aldarwinismus und die sich ausbreitende Idee der Eu- genik bereiteten die Katastro- phe vor: den Massenmord an rund 200 000 psychisch Kran- ken und die Zwangssterilisati- on von fast 300 000 „Erbkran- ken“ während des Nationalso- zialismus.

In Großbritannien und den USA wurde bereits 1954 mit Enthospitalisierungsprogram- men begonnen – Soziologen und Journalisten hatten die Verhältnisse in den Anstalten angeprangert. Der Klinikdi- rektor Franco Basaglia unter- nahm in Italien eine Reihe

spektakulärer Maßnahmen, um die hos- pitalisierten psychisch Kranken wieder in das normale Leben zu integrieren. Er war überzeugt davon, dass „Freiheit heilt“. In Deutschland dagegen stieg die Zahl der Hospitalisierungen bis 1970 weiter. Als Grund für die verpätete Psychiatrie-Reform vermutet der Histo- riker Franz Werner Kersting (1998), dass erst die Studentenrevolte und die Kulturevolution der 68er das gesellschaft- liche Umfeld vorbereitet hätten. pb

Geschichte der Psychiatrie

„Am Ende der sozialen Rangordnung“

Auch mithilfe der Medien wurde die Reform in den 70er-Jahren vorangetrieben.

Foto: Rudi Meisel / Visum

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