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Archiv "Geschichte der Medizin: Psychiatrie im Umbruch" (05.11.2004)

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T H E M E N D E R Z E I T

A

A3016 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 455. November 2004

lichen Stellen in „lebenswichtigen“ Ein- richtungen überprüfen können. Darun- ter fallen das Robert Koch-Institut und im Bereich des Landwirtschaftsministe- riums „wissenschaftliche Einrichtungen, die in erheblichem Umfang mit hochtoxi- schen Stoffen oder pathogenen Mikroor- ganismen arbeiten“. Die Folgen in der Praxis: Sieben von 58 Befragten gaben an, dass Mitarbeiter in ihren Instituten verstärkt einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen wurden. Nur in wenigen Fäl- len gaben Befragte an, von übergeordne- ten Stellen Empfehlungen zur Durch- führung besonderer Sicherheitsmaßnah- men erhalten zu haben. Dennoch haben offenbar viele Institutionen in den ver- gangenen zwei Jahren die Eigeninitiative ergriffen. 34 von 57 Forschern (60 Pro- zent) gaben an, dass der Zugang Unbe- fugter zu infektiösen Mikroorganismen in ihren Labors weiter erschwert wurde.

15 von ihnen (26 Prozent) haben aus Si- cherheitsgründen bauliche Maßnahmen ergriffen. In zwölf Fällen (21 Prozent) wurde der Versand von Mikroorganis- men an andere Einrichtungen einge- schränkt oder eingestellt.

Die überraschend hohe Zahl deut- scher Institutionen, die negativ vom amerikanischen Bioterrorism Act betrof- fen sind, spiegelt die zunehmende globa- le Vernetzung der Forschung wider. In Anbetracht dessen scheint eine interna- tionale Harmonisierung von Sicherheits- maßnahmen dringend erforderlich zu sein. In den vergangenen Monaten wur- den bereits Vorschläge formuliert, wie der Zugang zu gefährlichen Mikroorganis- men (6) oder die Überprüfung sensitiver Experimente (5) international einheit- lich geregelt werden könnte. Während die Akademie der Wissenschaften in den USA (2) und die britische Royal Society (4) bereits initiativ geworden sind, betei- ligen sich die deutschen Wissenschaftsor- ganisationen bislang kaum an dieser Dis- kussion. Angesichts der doch spürbaren Rückwirkungen auf den deutschen Wis- senschaftsbetrieb wäre dieser gut bera- ten, die Entwicklung von internationalen Biosicherheitsstandards mit zu gestalten.

Dr. Jan van Aken, Stefan Johannsen, Prof. Dr. rer. nat. Regine Kollek

E

s war eine Sternstunde für die Medi- zinische Fakultät der Heidelberger Universität, als zu Beginn des Win- tersemesters 1955/56 der neu berufene Ordinarius für Psychiatrie, Prof. Dr. med.

Walter Ritter von Baeyer, sein Amt an- trat und zum Direktor der Psych- iatrischen und Neurologischen Univer- sitätsklinik Heidelberg ernannt wurde.

Die Mitbegründer der „Heidelberger Schule“ – Richard Siebeck und Viktor von Weizsäcker mit ihren Schülern und Mitstreitern Paul Vogel, Herbert Plügge, Alexander Mitscherlich, Paul Christian, Hans Schäfer, Wilhelm Kütemeyer, Heinrich Huebschmann – hatten in von Baeyer einen Psychiater für die Fakultät gefunden, der endlich auch in der Psych- iatrie einen neuen Anfang setzen sollte und wollte. Denn unter dem 1955 emeri- tierten Kurt Schneider war die Methode phänomenologisch-deskriptiver Psycho- pathologie zwar vollendet worden, zu- gleich aber auch an einem Endpunkt an- gelangt.

Die Verwicklung gerade der Heidel- berger Universitäts-Psychiatrie im Drit- ten Reich in die Verbrechen der „Eu- thanasie“, die Ermordung der den Psych- iatern anvertrauten Kranken unter dem SS-Professor Carl Schneider, wurde ver- schwiegen, verleugnet. Eine Bewälti- gung war mit den Mitteln der so genann- ten klassischen Psychiatrie nicht mög- lich. Mitscherlich beklagte noch 1960, dass durch den Fluchtversuch der Ver- drängung, durch eine gigantische Besei- tigung der Spuren der Versuch einer Schuldentlastung erfolgt sei. Nach dem Suizid Carl Schneiders und den Urteilen im Nürnberger Ärzteprozess gegen die Hauptschuldigen ging die Psychiatrie nicht nur in Heidelberg, sondern in ganz Deutschland wieder zur Tagesordnung über. Garant für einen neuen Anfang in der Heidelberger Psychiatrie war von

Baeyer, der zusammen mit der Heidel- berger Schule anthropologischer Medi- zin den Wandel initiierte.

Walter Ritter von Baeyer entstammt einer Gelehrtenfamilie: Der Großvater erhielt für die Entdeckung der Indigo- synthese den Nobelpreis, ein Onkel war Professor für Physik in Berlin, der Groß- vater mütterlicherseits Professor der Rechtswissenschaften in Göttingen, der Vater der erste Ordinarius für Orthopä- die an der Universität Heidelberg. Nach Abitur und Medizinstudium verbrachte von Baeyer vier Assistentenjahre an der Heidelberger Klinik (1929–1933) bei sei- nem Lehrer Karl Wilmanns. Er studierte intensiv die Schriften Freuds und seiner Schüler und stieß sich schon damals an den Grenzen einer begrifflich isolieren- den, leib- und gesellschaftsfernen, kühl- objektivierenden Forschungsrichtung; er bedauerte deren Mangel an Verständnis für die psychoanalytische Erschließung des Unbewussten und für anthropolo- gisch übergreifende Aspekte, vor allem aber ihre therapeutische Unergiebigkeit.

Als sein Lehrer Wilmanns 1933 sofort aus dem Amt gejagt und inhaftiert wur- de und dessen Nachfolger Carl Schnei- der mit Hitlergruß und SS-Uniform den ärztlichen Konferenzen vorsaß und na- tionalsozialistische Ideologie predigte, verließ von Baeyer, wie viele seiner Leh- rer und Kollegen, die Klinik und musste als von den nationalsozialistischen Ras- segesetzen Betroffener – von Baeyers Vater verlor 1933 deshalb sein Amt –, diskriminiert und schikaniert, in einer Nische als Sanitätsoffizier das Dritte Reich zu überleben versuchen.

Nur wenige Wochen nach Kriegsende wurde er zum Chefarzt der Psychiatri- schen und Nervenklinik der Stadt Nürn- berg ernannt, einige der ganz wenigen in Deutschland damals existierenden psychiatrischen Abteilungen an einem

Geschichte der Medizin

Psychiatrie im Umbruch

Von Walter Ritter von Baeyer (1904–1987) gingen wesentliche Impulse für die Entwicklung der deutschen Psychiatrie nach 1945 aus.

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das im Internet unter www.aerzteblatt.de/

lit4504 abrufbar ist.

(2)

großen Allgemeinkrankenhaus. Diese Organisationsform, in der von Baeyer zehn Jahre wirkte, wurde für die von ihm wesentlich mitgestalteten sozialpsychia- trischen Reformen ab den 60er-Jahren und bis heute beispielgebend. Bereits 1947 hielt er einen Vortrag zum Thema

„Sozialpsychiatrie“ – die Geburtsstunde dieser Fachrichtung in Nachkriegs- deutschland. Als einer der ersten deut- schen Psychiater nach 1945 wurde von Baeyer 1949 von der US-Militärregie- rung zu einer dreimonatigen Studienrei- se in die USA eingeladen. Sein Bericht über diese Reise zeigt, wie beeindruckt von Baeyer von der Situation der Psych- iatrie in den USA war. Die Erfahrun- gen dort gaben An-

stöße für die Ent- wicklung der Sozial- psychiatrie in Deutsch- land und insbesonde- re für die beispielge- benden Reformen an der von ihm geleite- ten Klinik, die er in den 60er-Jahren ent- gitterte und weitest- gehend öffnete, an der er therapeutische Teams bildete und die therapeutische Gemeinschaft ein- führte. Von Baeyers Klinik war die erste deutsche Universi- tätsklinik, an der in

allen Bereichen gemischtgeschlechtli- che Stationen etabliert wurden.

Ohne die grundlegenden Impulse von Baeyers und das Engagement seiner Mitarbeiter, unter denen Karl Peter Kis- ker und Heinz Häfner erwähnt werden müssen, ist die stürmische Entwicklung der Sozialpsychiatrie in Deutschland ab Mitte der 60er-Jahre nicht denkbar.

Als Fundament für die sozialpsychia- trischen Reformen diente eine durch von Baeyer entscheidend geformte an- thropologische Psychiatrie. Denn unter den Psychiatern, die sich dieser Thema- tik widmeten, spielte von Baeyer eine herausragende Rolle. Mit der Studie

„Der Begriff der Begegnung in der Psychiatrie“ (1955) wurde seinen Wi- dersachern in der restaurativen deut- schen Psychiatrie nach 1945 deutlich, dass von Baeyer den obsolet geworde-

nen Dualismus zwischen Somatikern und Psychikern überwunden hatte und sich daraus erhebliche Konsequenzen zum Verstehen und Behandeln auch von Psychosen ergaben; nun war der bisherige Endogenitätsbegriff nicht mehr zu halten. Ohne diese mitmensch- liche Grundhaltung („Heilung aus der Begegnung“) ist heute keine Behand- lung in der Psychiatrie denkbar.

Und noch für einen weiteren Bereich kann von Baeyers Wirkung nicht hoch genug eingeschätzt werden: Für das wei- te Feld der heutigen Traumalehren, für die Psychotraumatologie. Die zusammen mit Häfner und Kisker vor 40 Jahren er- schienene Monographie „Psychiatrie der

Verfolgten“, zum Zeit- punkt des Beginns des Frankfurter Auschwitz-

Prozesses, mit dem die von Mitscherlich beklagte Verdrängung und Spurenverwi- schung auch im medizinischen Bereich entlarvt wurde, erschütterte nachhaltig und unwiderruflich die bis dahin gelten- de Lehrmeinung der klassischen deut- schen Psychiatrie: nämlich dass seelisch- situative (Extrem-)Belastungen ohne so- matische, insbesondere zerebrale Sub- stanzschädigung allein keine krankhaf- ten Dauerfolgen bewirken können. Das Studium der Extrembelastungen in den Konzentrationslagern mit der dort be- triebenen grauenhaften „Annihilierung“

(ein Begriff von Baeyers) der seelisch- sozialen Substanz des Menschen führte zu einem Paradigmenwechsel, der übri- gens auch die entschädigungsrelevante

Entwicklung von Psychosen einbezog.

Während sich von Baeyer deswegen in Deutschland auch wissenschaftlich dis- qualifizierender Angriffe deutscher Psych- iater erwehren musste, konnte er mit die- sem Paradigmenwechsel, der für die Psychiatrie eine Bewältigung ihrer Ver- strickung in die nazistische Ideologie ein- leitete, der deutschen Psychiatrie wieder internationale Geltung verschaffen:

Beim vierten Weltkongress für Psychia- trie in Madrid 1966 wurde von Baeyer für fünf Jahre zum Vizepräsidenten der Weltvereinigung für Psychiatrie gewählt.

Von Baeyers Bedeutung für die Ent- wicklung der Psychiatrie bis heute ist je- doch mit diesen Hinweisen keineswegs erschöpft. Herausra- gende Studien aus den 50er- und 60er- Jahren zum Freiheits- raum in der Krank- heit, zur Freiheitsfra- ge in der forensischen Psychiatrie, zu willen- phänomenologischen Fragen, zum huma- nen Sinn- und Seins- verständnis psycho- pathologischer Er- scheinungen, über Freiheit und Verant- wortlichkeit des Gei- steskranken sind heu- te so aktuell wie zum Zeitpunkt ihrer Publi- kation. In den 70er-Jah- ren hat sich von Baeyer in führender Position mit vollem Einsatz engagiert in der Anprangerung des Missbrauchs der Psychiatrie, als die in der Sowjetuni- on geübte Praxis der „Psychiatrisierung“

undurchschnittlicher Verhaltens- und Erlebensweisen die Psychiatrie wieder einmal schwer in Misskredit brachte. Die ganze Fülle der von von Baeyer vertrete- nen Psychiatrie ist heute wohl kaum mehr zu erreichen.

Es wäre für von Baeyer eine ganz be- sondere Genugtuung gewesen, wenn er in den 90er-Jahren noch hätte miterle- ben können, dass Christoph Mundt, sein Nach-Nachfolger auf seinem Lehr- stuhl, vor dem Eingang seiner Klinik ei- nen Gedenkstein enthüllte, um die in der Nazizeit ermordeten Kranken zu ehren. Dr. med. Helmut Kretz T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 455. November 2004 AA3017

Von der Psychiatrischen und Neurologischen Uni- versitätsklinik Heidelberg aus beeinflusste von Baeyer maßgeblich die Entwicklung der deut- schen Sozialpsychiatrie.

Foto: Psychiatrische Universitätsklinik Heidelberg

Foto:Universitätsklinikum und Medizinische Fakultät Heidelberg

Referenzen

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