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Archiv "Psychiatrie im Ost-West-Vergleich: Psychiatrie braucht Öffentlichkeit" (25.12.2006)

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P

sychiatrie befindet sich fast immer im Wandel. In ihrer fa- talen Doppelfunktion, einerseits den psychisch Kranken von seiner Störung zu befreien, seine soziale Kompetenz zu sichern und jede so- ziale Ausgrenzung zu vermeiden, andererseits, wenn erforderlich, die Gesellschaft vor ihm zu schützen, ist sie ständig auf der Suche nach ver- träglichen Lösungen. Die Psychia- trie nähert sich diesem Ziel durch re- gelmäßige Standortbestimmungen und gegebenenfalls durch Wandel der Versorgungsbedingungen und -strukturen. In den 60er-Jahren wur- den die Gitter an den Fenstern ent- fernt und Stationen geöffnet – dies war ein Umbruch. Als in den 70er- Jahren begonnen wurde, aus den traditionellen Frauen- und Männer- abteilungen gemischte Stationen zu bilden, war auch das ein tief greifen- der Wandel.

Die Zusammenführung zweier psy- chiatrischer Versorgungssysteme, das in der Bundesrepublik und das in der DDR, im Transformations- prozess nach 1989 könnte aus dieser Sicht vor allem ein Abgleich von Entwicklungsstufen sein, in denen sich das jeweilige Versorgungssys- tem befand. Aber es war deutlich mehr, und das vor allem, weil sich die gesellschaftlichen Bedingun- gen, auf denen sich die beiden Psy- chiatrien bisher entwickelt hatten, so deutlich unterschieden. Die ge- sellschaftlichen Strukturen prägen die psychiatrischen Versorgungs- systeme maßgeblich.

Nach dem Wegfall der Mauer konnten wir – eine Gruppe in Ost- Berlin tätiger Psychiater – unmittel- bar auf den Stationen mit den Kolle- gen der Karl-Bonhoeffer-Nerven- klinik in West-Berlin die Ver- sorgungssysteme vergleichen. Wir

stellten beispielsweise verwundert fest, dass in der West-Klinik die Zahl der zwangsweise gegen ihren Willen untergebrachten Patienten sehr viel höher lag als bei uns. Wir diskutier- ten die Ursachen und fanden heraus, dass unsere in der DDR sozialisier- ten Patienten sehr viel bereitwilliger ihre Zustimmung gaben, wenn der Arzt ihnen mitteilte, dass er die not- wendige stationäre Behandlung bei fehlender Zustimmung durch eine Einweisung auf Anordnung durch Amtsarzt und Gericht veranlassen müsse. Die Patienten wählten sozu- sagen das kleinere Übel, wollten mit Behörden nichts zu tun haben und blieben „freiwillig“. Die Erkenntnis, dass die autoritären Strukturen der DDR-Gesellschaft selbst die Auf- nahmemodalitäten prägten, war ein Appell, nach weiteren Einwirkun- gen des Gesellschaftssystems auf die praktische psychiatrische Ver-

PSYCHIATRIE IM OST-WEST-VERGLEICH

Psychiatrie braucht Öffentlichkeit

Die Psychiatrie als Gesamtheit ist in der DDR nicht als politisches Machtinstrument eingesetzt worden – Chancen und Missverständnisse bei der Zusammenführung

zweier Versorgungssysteme in der deutschen Psychiatrie nach der Wende.

Herbert Loos

Westdeutsche Psychiatrie:

Die Zahl der zwangsweise untergebrachten Patienten war höher als in der DDR.

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 51–52⏐⏐25. Dezember 2006 A3465 sorgung zu suchen. Unübersehbar

war, dass selbst erregte psychisch Kranke auf den Stationen Ost weni- ger Aggressivität zeigten, trotz ge- ringerer Dosen Psychopharmaka an- gepasster reagierten.

Verdrängen sollte sich nicht wiederholen

Aber auch wir Psychiater verhielten uns unterschiedlich. Wenn Lang- zeitpatienten Entlassungswünsche äußerten, wurden sie auf den „Chro- nikerstationen“ meist erst einmal ver- tröstet und auf den Oberarzt verwie- sen. In der West-Berliner Klinik wur- de der Wunsch sofort ernst genom- men und bei fehlender Entlassungs- fähigkeit eine Zwangsunterbringung beantragt. Wir hatten letztlich die von der autoritären Gesellschaft verliehe- ne Machtposition für einen juristisch nicht abgesicherten weiteren Verbleib des Patienten genutzt.

Die Auffassung, dass die Psy- chiatrie in autoritären Staaten ohne Meinungsbildung in der Öffentlich- keit immer in Gefahr steht, partiell missbraucht zu werden, motivierte mich 1990, eine Kommission zu leiten, die für Ost-Berlin prüfen sollte, ob es einen Missbrauch der Psychiatrie während der DDR-Zeit gegeben hatte. Psychiatrie braucht Öffentlichkeit. Alle noch so gut ge- meinten Reformansätze bleiben oh- ne öffentliche Diskussion Stück- werk. Das Verdrängen der Ver- strickungen der Psychiatrie in die Verbrechen der NS-Zeit nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges soll- te sich nicht wiederholen. Als wir Ende September 1990 den Kom- missionsbericht vorlegten, konnten wir mit Erleichterung feststellen, dass die Einwirkungen des auto- ritären Staates auf die Psychiatrie nicht unerheblich und weiter zu un- tersuchen waren. So hatten inoffi- zielle Mitarbeiter der Staatssicher- heit ärztliche Schweigepflicht ge- brochen, Patienteninteressen verra- ten und ihre Kollegen bespitzelt, und nicht alle Psychiater hatten dem Druck widerstanden, störende Kranke in den Kliniken zu behalten, wenn hoher Staatsbesuch bejubelt durch die Straßen rollte. Aber die Psychiatrie als Gesamtheit war nicht als politisches Machtinstru-

ment eingesetzt worden; war viel- leicht auch gar nicht einsetzbar ge- wesen, weil die weiterbestehenden unmittelbaren innerdeutschen Kon- takte eine Geheimhaltung nicht er- möglicht hätten. Die Fantasien der Staatssicherheit waren offensicht- lich weitergegangen. Sie fühlte sich, wie Jürgen Fuchs Erich Miel- ke zitiert, durch die Nähe der Bun- desrepublik behindert.

Die Reaktionen auf den Bericht waren, aus heutiger Sicht, zu erwar- ten – damals aber für alle Kommis- sionsmitglieder, die noch nicht an Pluralität der Meinungsbildung ge- wöhnt waren, schockierend. „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ kam von ärztlichen Kolle- gen West, „Nestbeschmutzer“ von Kollegen Ost, die Presse vermisste spektakuläre „Waldheim“-Fälle, und schon bald wurden Vorwürfe laut, dass die Kommissionsmitglieder durch verheimlichte Mitarbeit bei der Stasi unberechtigt gewesen wa- ren, überhaupt diese Untersuchung zu führen. Nach der Vereinigung der Stadt wurde deshalb vom Gesamt- Berliner Senat eine neue Kommissi- on gebildet, die mit größerer Zeit- vorgabe und besseren Vorausset- zungen unsere Ost-Berlin-Ergebnis- se überprüfen musste. Sie kam aber zu keinem anderen Ergebnis.

Beim ersten offiziellen Zusam- mentreffen der Fachleute aus der Psychiatrie im November 1990

stellten beide Seiten ihren Entwick- lungsstand dar. Die westdeutsche Psychiatrie-Reform der 70er-Jahre hatte sich strukturell, materiell und personell positiv ausgewirkt. Der zum Zeitpunkt der Wiedervereini- gung letzte Schritt dieses Reform- prozesses war die aktuelle Empfeh- lung einer Expertenkommission von 1988, in der aufgefordert wur- de, das Modell der „Gemeindepsy- chiatrie jenseits der Krankenhaus- areale“ so zu gestalten, dass auch chronisch psychisch Kranke gute Versorgungsbedingungen vorfin- den. Die aus den Kliniken entlasse- nen chronisch Kranken, die in der DDR noch als sogenannte Fehl- platzierte die Betten füllten, waren nun in den Heimen oft psychiatrisch unzureichend versorgt. Am Beispiel dieses unvollendeten „Enthospitali- sierungsprogrammes“ behaupteten Kritiker der Reform wie Heiner Keupp sogar, dass „eine Strukturre- form der westdeutschen Psychiatrie nicht stattgefunden“ habe.

Einige Fehler wurden nach der Wende wiederholt

Unterschiedliche Auffassungen in- nerhalb der Psychiatrie West gab es nicht nur in diesem Punkt. Eine praktische Übersetzung auf die Pro- bleme Ost fand kaum statt, sodass beispielsweise bei der nachholen- den Enthospitalisierung Fehlplat- zierter in den neuen Bundesländern

Foto:Caro

Berlin, 10. No- vember 1989:

Der Wegfall der Mauer leitete auch in der Psychiatrie einen Transforma- tionsprozess ein.

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ganz ähnliche Fehler auftraten und darüber hinaus die chronischen Pa- tienten oft aus geschützten Arbeits- plätzen herausgerissen wurden.

Der Entwicklungsrückstand der stationären DDR-Psychiatrie wurde 1990 von Otto Bach vorwiegend auf die ökonomische Mangelsituation zurückgeführt. Die ungenügende Entwicklung der sozialpsychiatri- schen Versorgungsstruktur erklärte er mit einer dominierend biologis- tisch-naturwissenschaftlichen Ori- entierung innerhalb der Psychiatrie.

Bis 1975, so Bach, sei die Psychia- trie in Ost und West noch vergleich- bar gewesen. Erst die Psychiatriere- form der Bundesrepublik, die eine Entwicklung in Richtung sozialer und kommunaler Psychiatrie ge- bracht habe, führte zu einem un- übersehbaren Entwicklungsrück- stand in der DDR.

Selbstbestimmung stieß an gesellschaftliche Grenzen

Die Vielfalt von Betreuungsange- boten und Vereins-Initiativen „jen- seits der Krankenhausareale“ in der Bundesrepublik als Resultat sozial- psychiatrischer Reformen fehlte in der DDR allerdings eher aufgrund

der restriktiven politischen Ver- hältnisse. Die Selbstbestimmung der Patienten, ihre weitgehende Selbstständigkeit im Rahmen einer sogenannten Patientendemokra- tie stieß in der DDR an gesell- schaftliche Grenzen und endete oft an der Stationstür, obwohl zumin- dest in Berlin sich schon „illegale“

Selbsthilfegruppen gebildet hatten.

Es war die fehlende Öffentlichkeit in der DDR, die letztlich zu die- sen großen Unterschieden in den außerstationären Versorgungsbe- dingungen zwischen Ost und West geführt hatten.

Bis etwa 1970 zeigte die Psychia- trie der DDR trotz zentralistischer Orientierung noch positive Entwick- lungsimpulse, die gegenüber der Psy- chiatrie in der Bundesrepublik gele-

gentlich sogar einen Vorsprung er- brachten (zum Beispiel Rodewischer Thesen 1963, Einweisungsgesetz für psychisch Kranke 1968).

Die nach 1968 weltweit in Gang gekommenen Reformbewegungen in der Psychiatrie, die mit dem Ab- bau von Hierarchien und autoritären Leitungsstrukturen zugunsten von Teambildungen der Therapeuten verbunden waren, die Hinwendung zu den Kommunen und Einbezie- hung gesellschaftlicher Gremien in die Versorgung von psychisch Kran- ken und Behinderten waren an eine demokratische Meinungsbildung, an eine offene Gesellschaft gebun- den. Diese Bedingungen gab es in der DDR nicht. Kommunale Zuord- nungen wurden hier schon in der Wortwahl anders, nämlich als „terri- toriale Gliederung“, bezeichnet. Ge- rade in jenen frühen 70er-Jahren entwickelte sich in der DDR ein Ge- sellschaftssystem, das ausschließ- lich auf Erhalt der Machtstrukturen ausgerichtet war. Im Sozialismus, so war es den DDR-Bürgern seit 25 Jahren vermittelt worden, gab es ei- ne vollständige Übereinstimmung zwischen den Interessen des Einzel- nen und der Gesellschaft.

Da aber dieses Postkartenbild nicht der DDR-Landschaft ent- sprach, das vorgegaukelte Bild aber ideologisch fixiert und erfahrungsre- sistent war, musste die Landschaft retuschiert werden. Die Psychiatrie, zuständig für menschliche Unord- nung und seelisches Chaos, hatte be- sonders unter den Tabuisierungen zu leiden. Es ist eben nicht zufällig, dass ab diesem Zeitpunkt die Suizidzah- len nicht mehr in der Statistik auftau- chen durften, dass der Alkoholismus als Problem vertuscht wurde.

Die Psychiatrie passte sich an und variierte die importierten sozi- alpsychiatrischen Konzepte. In den offenen Gesellschaften des Westens wurde beispielsweise der Ruf nach Ordnung und Anpassung als patho- gener Faktor restriktiver Gesell-

schaften herausgestellt. „Einfache Negation von Autorität und Unter- ordnungspflichten“, so hieß es aber in der Fachzeitschrift der DDR, könne hier keine Grundlage sozial- psychiatrischer Bemühungen sein, denn „Autorität und Zentralismus (sind) . . . nicht an sich negativ zu wertende Größen“. In die sozial- psychiatrische Therapie seien des- wegen „Momente der Übung von Disziplin“ einzubauen, weil das dem Konzept der „sozialistischen“

sprich: zentralistisch-autoritären

„Demokratie“ in der DDR ent- spräche. Alle Reformen könnten auch ausschließlich im Fachbereich der Psychiatrie erfolgen, da „not- wendige Veränderungen nicht ge- gen die Gesellschaft geltend ge- macht werden können“. Die logi- sche Konsequenz dieser Selbstbe- schneidung war das Tolerieren und Verschweigen von Missständen und Schwierigkeiten auf dem Weg in die erwünschte Sozialpsychiatrie. Auf Öffentlichkeit wurde verzichtet.

Die Veränderungen der DDR-Ge- sellschaft nach 1989 waren eine Be- freiung auch der Psychiatrie von den ihr auferlegten Zwängen. Die jetzt möglich gewordene Diskussion war erwartungsgemäß pluralistisch, oft kontrovers und schmerzhaft. „Ich fürchte mich vor dem Tag, an dem keiner mehr mein Tun kritisch hinter- fragt, auch wenn mich die Kritik täg- lich kränkt, verunsichert und ins Wanken bringt“, beschrieb Niels Pörksen 1979 die Situation des west- deutschen Psychiaters. Nach 1989 mussten wir auch im Osten damit fer- tig werden. Diese Veränderung der gesellschaftlichen Bedingungen ist dennoch die allumfassendste „Ver- besserung“ im Transformationspro- zess der Psychiatrie nach 1990.

Es gibt jedoch einige Punkte, die den Transformationsprozess in der Psychiatrie behinderten und zum Teil noch immer behindern:

>Die Psychiatrie in der DDR wird häufig von westdeutschen Be- teiligten als statisches über vier Jahrzehnte unveränderliches Ge- bilde charakterisiert und ihr unter- schiedliche Entwicklungsabschnit- te, die für die Psychiatrie der Bun- desrepublik nicht bezweifelt wer- den, abgesprochen und damit posi-

Die Psychiatrie, zuständig für menschliche Unordnung

und seelisches Chaos, hatte besonders unter den

Tabuisierungen zu leiden.

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Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 51–52⏐⏐25. Dezember 2006 A3467 tive Ansätze in den 60er-Jahren un-

terschlagen.

>Die ungesetzlichen Fehlverhal- tensweisen einzelner Psychiater, wie der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht durch offizielle und inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit, werden zum insti- tutionellen Grundmuster psychiatri- scher Versorgung erklärt. (Schlag- wort: „Stasi-Psychiatrie“)

>Die Auffassung, dass die DDR- Psychiatrie die unmittelbare Fort- setzung der NS-Psychiatrie gewe- sen ist, ist besonders unerträglich.

>Die nachweisbare patientenori- entierte Hilfsfunktion der DDR-Psy- chiatrie gegenüber staatlichem Druck (wenn seelische Krisen zum Nerven- arzt führten) wird in Abrede gestellt.

>Die ausschließliche Orientie- rung auf die „fatale materielle Hin- terlassenschaft“ in der DDR-Psy- chiatrie klammert die Auseinander- setzung mit der geistigen Hinterlas- senschaft aus. Die Möglichkeit ei- ner Standortbestimmung der Psy- chiatrie wird verschenkt.

Der 1989 eingeleitete Transfor- mationsprozess in der Psychiatrie war für die DDR-Psychiatrie sehr wohl ein Umbruch, weil er die ge- sellschaftlichen Zwänge beseitigte, die die Entwicklung einer Sozial- psychiatrie behindert hatten. In der Nachbemerkung zu seinem Buch

„Bürger und Irre“ wirft Klaus Dörner die Frage auf, ob die Psychiatrie nun

„mehr Emanzipations- oder mehr In- tegrationswissenschaft ist, das heißt, ob sie mehr auf die Befreiung der psychisch Leidenden oder auf die Disziplinierung . . . aus ist“. „Spätes- tens nach Hadamar“ so schreibt er weiter, „ist der nicht mehr Psychiater zu nennen, für den das Nachdenken über diese Frage nicht zum alltäg- lich-quälenden, praktischen Umgang mit sich und denen, die ihm zugewie- sen sind, gehört.“ Dem ist auch nach 1990 nichts hinzuzufügen. I

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(51–52): A 3464–7

Anschrift des Verfassers Dr. med. Herbert Loos, Schlossstraße 1, 01067 Dresden

Literatur im Internet:

www.aerzteblatt.de/lit5106

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E

r ist keiner, der jemanden lan- ge im Regen stehen lassen kann. „Kommen Sie ruhig rein, Sie müssen nicht in der Kälte warten!“, ruft Dr. med. Rainer Katterbach (64) von der Haustür aus in den Vorgar- ten. Dort hat der Psychiater und Psy- chotherapeut im Ruhestand seine Gesprächspartnerin schon kurz vor dem verabredeten Zeitpunkt ent- deckt. Drinnen, im Büro und Be- handlungszimmer voller Bücher, Aktenordner und der obligatori- schen Analytikercouch, hat Katter- bach Wasser und Gläser auf einem kleinen Tisch mit zwei bequemen Sesseln bereitgestellt.

Jedes Gespräch zehrt

„Mineralwasser, eine Stulle und was Leckeres, zum Beispiel einen Jo- ghurt“ – das ist zugleich die Grund- ausstattung, die er immer mitnimmt, wenn er seinen ehrenamtlichen Dienst antritt: den bei der kirchlichen Telefonseelsorge (KTS) in Berlin.

„Es ist wichtig, auch für sich zu sor- gen“, stellt er klar. Zwei- bis dreimal im Monat fährt er, seit er im Ruhe- stand ist, in ein gemütliches Büro des Diakonischen Werkes. Von dort übernimmt er eine Schicht, die je- weils vier Stunden dauert. Mit den meisten Anrufern unterhält er sich zwischen 20 und 45 Minuten. „Es ist erstaunlich, wie diese Gespräche zehren“, musste er feststellen – selbst an ihm, dem Erfahrenen. Katterbach hat schließlich jahrelang Patienten versorgt, musste sich als Chefarzt einer Klinik behaupten.

Telefonseelsorge ist harte Arbeit.

Nur selten droht zwar ein Mensch

damit, sich von der Brücke zu stür- zen. Aber gerade Gespräche über das kleine Alltagselend strengen an und können bedrücken, vermittelt einem Katterbach. Telefonseelsorge, wie er sie bisher erlebt hat, das sind Ge- spräche mit chronisch Kranken, die sich allein gelassen fühlen. Mit einer jungen Mutter, die noch nie gearbei- tet hat und schlecht zurechtkommt.

Manche Anrufer fordern ihn her- aus, weil sie beharrlich schweigen.

Andere melden sich wie alte Be- kannte und verlangen unverhohlen, dass ihnen wenigstens jemand von der Telefonseelsorge zuhört. Und hin und wieder ruft ein Scherzkeks an. Ruhig, ein wenig zögerlich er- zählt Katterbach, in leichtem rheini- schen Singsang. Anschaulich, aber zugleich ohne zu viele Details preis- zugeben, konsequent dem Telefon- seelsorge-Grundsatz der Anonymi- tät verpflichtet. Hin und wieder schließt er die Augen, um sich bes- ser konzentrieren zu können.

Ein Freund, der sich schon länger engagiert, machte ihn neugierig auf die Telefonseelsorge. Erst zögerte Katterbach, über sein Ehrenamt Auskunft zu geben; andere hätten da mehr Erfahrung. Aber im Gespräch fällt ihm rasch immer mehr ein, so- dass er schließlich vorschlägt: „Wir hangeln uns am besten an Ihren Fra- gen entlang, sonst quelle ich über.“

Sich die Sorgen und Nöte anderer anzuhören und ihnen vielleicht den Weg zu Lösungen zu ebnen – ist das denn nicht die Fortsetzung seiner langjährigen Tätigkeit als Psychia- ter und Psychotherapeut? Und des- halb für einen wie ihn leichter zu be-

DAS PORTRÄT

Rainer Katterbach, Arzt und Telefonseelsorger

„Toll, wie Menschen Krisen meistern“

Sprechen kann helfen, lautet das Motto der Telefon-

seelsorge. Ein Arzt im Ruhestand hört seit Kurzem zu.

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LITERATUR

1. Bach O: Entwicklung und Stand der Ver- sorgung psychisch Kranker und Behinder- ter auf dem Gebiet der ehemaligen DDR.

Tagungsberichte Band 19.

2. Dörner K: Bürger und Irre – Zur Sozialge- schichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie. Hamburg: Europäische Ver- lagsanstalt; ergänzte Neuauflage 1995.

3. Dörner K et al. (Hrsg.): Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Frankfunt am Main:

Mabuse-Verlag; Bonn: Psychiatrie-Verlag, 2. Auflage 1989.

4. Fuchs J: Im Ergebnis der Durcharbeitung der Kinder. Kadergewinnung und Zerset- zung. Essay in: Drei Essays. London: eu- ropäische ideen, Sonderheft 1996.

5. Keupp H: Prävention im Rahmen der bun- desrepublikanischen Psychiatriereform – Mehr als Rhetorik? In: Praevention und Prophylaxe. Theorie und Praxis eines ge- sundheitspolitischren Grundmotivs in zwei deutschen Staaten 1949–1990 (Hrsg.: El- keles T et al); Berlin: edition sigma rainer bohn verlag 1991.

6. Klee E: Irrsinn Ost Irrsinn West – Psychia- trie in Deutschland. Frankfurt am Main: Fi- scher Verlag 1993: 92.

7. Kulenkampff C: Die Entwicklung der Ver- sorgung psychisch Kranker und behinder- ter in der Bundesrepublik von der Psychia- trie-Enquête bis zu den Empfehlungen der Expertenkommission. In: Tagungsbericht 29.11.–1.12.1990; Köln: Rheinlandverlag 1992, Band 19.

8. Loos H: „Anerkannte Unterordnung" – ein Rückblick auf die Psychiatrieentwicklung in der DDR. In: Tagungsbericht 29.11.–1.12.1990; Köln.

9. Nickel B: Gegenwärtige und zukünftige Aufgaben der Psychiatrischen Kranken- häuser auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. In: Tagungsbericht

29.11.–1.12.1990.

10. Reimer F: Beitrag und Rolle der Psychiatri- schen Krankenhäuser in der Bundesrepu- blik zur Entwicklung der Versorgung in den vergangenen zwei Jahrzehnten. In: Ta- gungsbericht 29.11.–1.12.1990.

11. Thom A: Auf dem Wege zu einer Psychia- trie der sozialistischen Gesellschaft. Psy- chiat., Neurol., Med. Psychol. 26 (1974):

578.

12. Trenckmann U: Perspektiven deutscher Psychiatrie. Außenansichten zum inneren Zustand der Psychiatrie Ostdeutschlands.

In: Soziale Psychiatrie Dezember 1991.

13. Weise K: Psychiatriereform zwischen Ideo- logie und Ökonomie. Sozialpsychiatrische Informationen 4; 1997: 20.

LITERATURVERZEICHNIS HEFT 51–52/2006, ZU:

PSYCHIATRIE IM OST-WEST VERGLEICH

Psychiatrie braucht Öffentlichkeit

Die Psychiatrie als Gesamtheit ist in der DDR nicht als politisches Machtinstrument eingesetzt worden – Chancen und Missverständnisse bei der Zusammenführung

zweier Versorgungssysteme in der deutschen Psychiatrie nach der Wende.

Herbert Loos

Referenzen

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