• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Zur Lage der Psychiatrie nach der Psychiatrie-Enquete: Referat zu Tagesordnungspunkt 3 „Psychiatrie-Enquete“" (26.05.1977)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Zur Lage der Psychiatrie nach der Psychiatrie-Enquete: Referat zu Tagesordnungspunkt 3 „Psychiatrie-Enquete“" (26.05.1977)"

Copied!
8
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Die Information:

Bericht und Meinung

80. DEUTSCHER ÄRZTETAG

Im Jahre 2 nach dem Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bun- desrepublik Deutschland handelt der Deutsche Ärztetag situationsan- gemessen und pflichtgemäß, indem er auf der Grundlage des Enquete- Berichtes die psychiatrische Versor- gung der Bevölkerung diskutiert.

Diese Diskussion spielt sich vor dem Hintergrund erheblicher Mängel ab, die gerade von der Ärzteschaft im allgemeinen und von den psychia- tern im besonderen ohne Beschöni- gungen immer wieder öffentlich dar- gestellt worden sind. Die schwere Vernachlässigung der Psychiatri- schen Einrichtungen und Dienste in den Jahrzehnten seit dem Ende des 1. Weltkrieges hat dazu geführt, daß vor allem die großen psychiatri- schen Krankenhäuser nicht in einer den Erfordernissen angemessenen Weise ausgebaut und modernisiert wurden. Auch nach dem Ende des 2.

Weltkrieges hielt die Entwicklung der Psychiatrie in unserem Lande nicht Schritt mit den Fortschritten anderer medizinischer Disziplinen in der Versorgung der Bevölkerung.

Während es in diesen im wesentli- chen gelang, ein zeitgemäßes Niveau der personellen, baulichen und apparativen Ausstattung herbei- zuführen bzw. zu erhalten, ist die ambulante und klinische Psychiatrie auch heute noch, nach dem Einset- zen spürbarer Verbesserungen, für die Bewältigung ihrer ständig wach- senden Aufgaben unzureichend ausgestattet.

Der Enquete-Bericht stellt nach Zahl der beteiligten Sachverständigen, politischer Fundierung und Umfang der ermittelten Daten bzw. gemach- ten Reformvorschläge eine heraus-

ragende Bemühung um eine Grund- leg ung der Verbesserung psychiatri- scher Versorgung dar. Es wäre je- doch falsch, wenn man das Einset- zen der Offenlegung der Mißstände und der Bemühungen um Verbesse- rung erst mit diesem Bericht begin- nen ließe.

Auf dem 73. Deutschen Ärztetag 1970 in Stuttgart hat Schulte in einem umfangreichen Referat eine im ganzen auch heute noch gülti- ge Darstellung der psychiatrischen Versorgungsnotwendigkeiten und -mängel gegeben. Die Leitlinien die- ser Bestandsaufnahme und Vor- schläge finden sich auch in dem Rahmenplan zur Versorgung psy- chisch Kranker in der Bundesrepu- blik, der im Juli 1971 von der Deut- schen Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde vorgelegt wurde. Dieser Rahmenplan enthält bereits in erheblichem Umfange sta- tistische Daten über Bettenzahlen in den stationären Einrichtungen, über Patientendurchgang, Relationen psychiatrischer Versorgungskapazi- täten zur Bevölkerungszahl, Perso- nalressourcen, Verweildauern in den Kliniken und Krankenhäusern sowie Angaben über die Zahl der niedergelassenen Nervenärzte und Psychotherapeuten.

Die Lage der Psychiatrie in der Bun- desrepublik war auch eines der Hauptdiskussionsthemen des 77.

Deutschen Ärztetages 1974 in Ber- lin. Ehrhardt nahm in seinem Einlei- tungsreferat Bezug auf die inzwi- schen in Gang gekommene Enquete über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik und hob hervor, daß Anlaß der Enquete die Verhältnisse

in den psychiatrischen Krankenhäu- sern gewesen seien. Die „optimale"

Versorgung wurde von ihm als eine Zukunftsvision bezeichnet. Er be- tonte mit Recht, daß vordringlich Hilfen für den Langzeitpatienten gebraucht würden, die einseitige Akzentuierung des Vorsorge- und des Akutkrankenbereiches in der bisherigen Reformpolitik bedürfe der Ergänzung durch Maßnahmen für den chronisch Kranken und Be- hinderten. Zur Erschließung neuer Geldquellen machte Ehrhardt den Vorschlag, die psychisch Kranken, Behinderten und Gefährdeten in an- gemessenem Umfang in das über- reiche und in mancher Hinsicht be- denklich überdimensionierte Lei- stungsangebot der Rehabilitations- träger einzubeziehen.

Seit Ehrhardts Referat von 1974 hat sich an der Tatsache der noch im- mer ungenügenden materiellen Un- terstützung psychiatrischer Reform- vorhaben im großen und ganzen nichts geändert. Es muß festgehal- ten werden, daß dies nicht die Schuld der in der Psychiatrie Arbei- tenden ist, die man, nicht zuletzt auch von politischer Seite, nur zu gern einmal zum „Umdenken", zu

„größerer Reformbereitschaft", zum

„Abbau hierarchischer Strukturen"

und zu „mehr Humanität" auffor- dert, ohne daß man bereit ist, die unbedingt notwendigen hohen Inve- stitionsleistungen zu erbringen, die eine angemessen rasche Verbesse-

rung der psychiatrischen Versor- gung ermöglichen würden.

Initiative lag bei den Ärzten

Außerhalb der Enquete-Aktivitäten haben seit 1970 zwei Deutsche Ärz- tetage und die Deutsche Gesell- schaft für Psychiatrie und Nerven- heilkunde, abgesehen von Bestandsaufnahmen und Reform- plänen auf Landesebene und seitens des Arbeitskreises der Leiter öffent- licher psychiatrischer Krankenhäu- ser, intensiv und ohne Beschöni- gungen die psychiatrische Versor- gungsmisere diskutiert und prakti- sche Vorschläge für ihre Überwin- dung gemacht. Bei der Lektüre der

Zur Lage der Psychiatrie

nach der Psychiatrie-Enquete

Referat zu Tagesordnungspunkt 3 „Psychiatrie-Enquete"

Prof. Dr. med. Kurt Heinrich

1422

Heft 21 vom 26. Mai 1977

DEUTSCHES ARZTEBLATT

(2)

Prof. Heinrich: Psychiatrie-Enquete

entsprechenden Erörterungen ist die weitgehende Übereinstimmung der Analysen und Forderungen ein- drucksvoll. Es ist von historischer Bedeutung, daß die Ärzteschaft der Bundesrepublik im allgemeinen und die Psychiater im besonderen von sich aus die psychiatrischen Versor- gungsmißstände erkannt und die Wege zu ihrer Beseitigung aufge- zeigt haben. Nicht ganz selten wird der falsche Eindruck erweckt, es habe erst einer nichtärztlichen, poli- tischen Initiative bedurft, um — viel- leicht sogar gegen Beschönigungs- versuche interessierter ärztlicher Kreise — die Öffentlichkeit aufzuklä- ren und aufzurütteln.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Picard beantragte am 5. März 1970 bei der Bundesregierung eine um- fassende Untersuchung der psych- iatrisch-psychohygienischen Ver- sorgungssituation der Bevölkerung der Bundesrepublik. Nach mehr als vierjähriger Tätigkeit konnten die 26 Mitglieder der danach eingesetzten Sachverständigen-Kommission und die Mitglieder der verschiedenen Ar- beitsgruppen im September 1975 den Hauptbericht abschließen.

Es ist wiederholt kritisch darauf hin- gewiesen worden, daß sich unter den Mitgliedern der Sachverständi- gen-Kommission nur ein niederge- lassener Nervenarzt befand. Tat- sächlich ist dies ein heute schwer verständlicher Mangel, der zu der Tatsache im Widerspruch steht, daß ohne Zweifel nach der Anzahl der versorgten psychisch Kranken der niedergelassene Nervenarzt der wichtigste Träger psychiatrischer Behandlung überhaupt ist.

Ein deprimierender Begleitbrief

der Ministerien

Am 25. November 1975 übergab der Kommissionsvorstand den Bericht der Sachverständigen-Kommission dem Bundesminister für Jugend, Fa- milie und Gesundheit, Frau Dr.

Focke. Der Minister leitete den Be- richt am gleichen Tage an den Deut- schen Bundestag weiter. Im Begleit-

Prof. Dr. med. K. Heinrich bei seinem Referat zu Tagesordnungspunkt 3

„Psychiatrie-Enquete", dessen Wort- laut auf diesen Seiten wiedergegeben ist

brief des Ministers sind einige we- sentliche Abschnitte enthalten, die angesichts der umfangreich doku- mentierten Notlage der psychisch Kranken und geistig Behinderten besondere Beachtung verdienen. Es wird in diesem Brief die Zuständig- keit der Länder, der Träger und Ver- bände für die Psychiatrie festge- stellt, im übrigen wird betont, daß die Verwirklichung sowohl der So- fortmaßnahmen zur Behebung der aufgezeigten dringlichsten Proble- me als auch der längerfristigen Maß- nahmen von den finanziellen Mög- lichkeiten abhängig sei. Da die Ko- sten der kurz-, mittel- und langfristi- gen Maßnahmen bei Bund, Ländern, Gemeinden und Trägern sehr erheb- lich seien, müsse schon jetzt darauf hingewiesen werden, daß die Reali- sierung nur sehr langsam und abge- stuft möglich sei und zusätzliche Mittel angesichts der angespannten Finanzlage der Kostenträger gegen- wärtig nicht aufgebracht werden könnten.

Es soll nicht verhehlt werden, daß vom Standpunkt der Psychiatrie die- ser Begleitbrief deprimierend ist. Es muß festgestellt werden, daß offen- bar von seiten der damaligen und wohl auch der jetzigen Bundesre- gierung eine substantielle direkte Hilfe nicht geplant ist. Die erschüt- ternde Notlage vieler psychisch Kranker und geistig Behinderter macht auch unorthodoxe Finanzie-

rungsmaßnahmen notwendig, bei denen sich die Bundesregierung über die dürre Feststellung der Zu- ständigkeit der Länder, Gemeinden, Träger und Verbände hinaus selbst zu beteiligen hätte. Die Regierungs- äußerung bedeutet, daß wir uns noch auf lange Zeit mit Mißständen abfinden sollen, die offensichtlich nicht von der Psychiatrie, sondern von den verfaßten Organen der Ge- sellschaft zu verantworten sind.

Vieles in der Enquete ist unstreitig

Der Bericht der Sachverständigen- Kommission, der, wie häufig zitiert wird, 426 Seiten umfaßt und zu dem 1192 Seiten „Anhang" hinzukom- men, entzieht sich in dem durch das vorgelegte Referat gegebenen Rah- men einer ins einzelne gehenden Wiedergabe. Viele seiner Analysen, Bedarfsschilderungen und Zu- kunftsprojektionen sind unstrittig.

Dies gilt zum Beispiel für die früher schon geforderte Schaffung von Standardversorgungsgebieten, von komplementären Einrichtungen im Sinne von Tages- und Nachtklini- ken, Behindertenheimen und -werk- stätten, beschützenden Wohnungen und Übergangsheimen. Es ist auch unbestreitbar, daß die Bettenzahl der psychiatrischen Großkranken- häuser weiter herabgesetzt werden muß. Schon jetzt haben die psychia- trischen Landeskrankenhäuser in der letzten Dekade ihre Bettenzah- len drastisch verringert, die Verweil- dauern der Patienten sind kürzer ge- worden, die Aufnahme- und Entlas- sungsziffern sind gestiegen. Der Nachholbedarf der großen psychia- trischen Landeskrankenhäuser an materieller und personeller Ausstat-

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 21 vom 26. Mai 1977 1423

(3)

Die Information:

Bericht und Meinung

Prof. Heinrich: Psychiatrie-Enquete

tung ist in zwar vermindertem Maße, grundsätzlich jedoch noch immer gegeben, auch darauf wird in dem Sachverständigen-Bericht mit aller Deutlichkeit hingewiesen.

Die Kommission hat berechtigter- weise die Ausgliederung der geistig Behinderten aus den psychiatri- schen Krankenhäusern gefordert, erst dann ist eine zeitgemäße Ver- sorgung dieser Behindertengruppe möglich.

Die Kommission hat auch recht, wenn sie eine sowohl den therapeu- tischen Ansprüchen der psychisch kranken Rechtsbrecher wie auch den Sicherheitsbedürfnissen der Öf- fentlichkeit gerecht werdende Ver- sorgung dieser Gruppe fordert, die außerhalb der psychiatrischen Lan- deskrankenhäuser verwirklicht wer- den soll. Es ist ein nicht zu tolerie- render Mißstand, daß die nicht auf die Lösung dieser Aufgabe vorberei- teten psychiatrischen Anstalten noch immer in weitem Umfange ge- zwungen werden, zum Schaden der anderen ihnen anvertrauten Patien- ten und auch der psychisch kranken bzw. geistig behinderten Rechtsbre- cher eine Scheinlösung dieses Pro- blems zu verantworten.

Kleine Psychotherapie ist durchaus

professionell

Der Sachverständigen-Kommission ist auch in ihrer Feststellung beizu- pflichten, daß im Vorfeld psychiatri- scher und psychotherapeutisch- psychosomatischer Dienste der Hausarzt sehr häufig die erste An- laufstelle für psychisch Kranke und Behinderte dargestellt. Die Kom- mission drückt sich jedoch zumin- dest mißverständlich aus, wenn sie den Arzt für Allgemeinmedizin in den Bereich der nichtprofessionel-

len Beratung einbezieht. Es ist rich- tig, daß der Arzt für Allgemeinmedi- zin keine spezialistische psychiatri- sche Ausbildung hat und zur Zeit nur in wenigen Fällen über eine psy- chotherapeutische Zusatzausbil- dung verfügt, die von ihm geleistete

„kleine Psychotherapie" sollte je-

doch nicht als „nichtprofessionell"

bezeichnet werden. Sie läßt sich noch wirksamer gestalten, wenn psychotherapeutische Weiter- und Fortbildung, abgestellt auf die Be- dürfnisse des Arztes für Allgemein- medizin, noch intensiviert wird. Der Hausarzt springt sehr häufig für den nicht erreichbaren oder nicht aufge- suchten Nervenarzt ein, seine in vie- len Fällen gegebene Kenntnis des sozialen Umfeldes seiner Patienten ist gerade nach modernen sozial- psychiatrischen Erkenntnissen von besonderer Wichtigkeit.

Aufgaben

der niedergelassenen Nervenärzte

Die Zahl der niedergelassenen Ner- venärzte wurde für den von der Sachverständigen-Kommission zu- grunde gelegten Stichtag am 31.

Dezember 1974 mit 1041 angege- ben. In der Bundesrepublik wurden damit 59 301 Einwohner von einem niedergelassenen Nervenarzt ver- sorgt. Die anzustrebende Einwoh- nerzahl pro Nervenarzt wurde mit 50 000 angegeben. Die Kommis- sionsfeststellung ist richtig, daß ländliche Regionen zum großen Teil mit Nervenarztpraxen unterversorgt sind. Diese Gegebenheit begründet die Forderung nach einer besseren Verteilung der nervenärztlichen Pra- xen. Darüber hinaus kann den von manchen Kritikern des Kommis- sions-Berichtes vermuteten Tenden- zen zur institutionalisierten ambu- lanten psychiatrischen Versorgung nur erfolgreich begegnet werden, wenn sich die niedergelassenen Nervenärzte vor allem in den städti- schen Ballungsräumen noch inten- siver als bisher um die Versorgung komplementärer Einrichtungen (Werkstätten, Heime, Tages- und Nachtkliniken) kümmern. Wird die- ser Versorgungsraum seitens der niedergelassenen Ärzteschaft leer- gelassen, so werden die kommuna- len und staatlichen Versorgungsin- stitutionen in ihn hinein expandie- ren. Dies kann nicht im Sinne eines nicht verstaatlichten medizinischen Versorgungssystems sein.

Ambulanz muß Ausnahmefall bleiben

Die Sachverständigen-Kommission hat es als Fehlentwicklung bezeich- net, daß an den psychiatrischen Landeskrankenhäusern bis vor kur- zem keine Ambulanzen bestanden.

Solche Ambulanzen .sind jetzt mög- lich geworden. Der Arbeitskreis der Leiter öffentlicher psychiatrischer Krankenhäuser in der Bundesrepu- blik hat diese Entwicklung begrüßt, sie ist insgesamt sicher für die wei- tere Modernisierung der psychiatri- schen Landeskrankenhäuser nütz- lich. Erfahrungen an den Orten, an denen sich psychiatrische Poliklini- ken, z. B. der Universitätskliniken, neben nervenärztlichen Praxen be- finden, lassen erkennen, daß beide Versorgungsträger den Umfang der gegenseitigen Klientel nicht beein- trächtigen. Es kommt eher zu einer Bedarfsdeckung mit verstärkten Inanspruchnahme-Tendenzen. Zahl- reiche psychiatrische Landeskran- kenhäuser liegen in ländlichen Re- gionen und können bei der Einrich- tung auch einer ambulanten Versor- gung die nervenärztliche Betreuung ihres Versorgungsgebietes verbes- sern.

Es ist andererseits nicht zu verken- nen, daß der Sicherstellungsauftrag der niedergelassenen Ärzte durch die Einrichtung legaler psychiatri- scher Ambulanzen an den Landes- krankenhäusern relativiert worden ist. Dies ist nur zu tolerieren, wenn diese Maßnahme nicht als erster Schritt zu einer Sozialisierung des Gesundheitswesens aufgefaßt wird.

Nur in der Psychiatrie läßt sich die Krankenhausambulanz mit Versor- gungsnotwendigkeiten begründen.

Wer die allgemeine Beteiligung der Krankenhäuser an der ambulanten Versorgung fordert, weckt den be- rechtigten Verdacht, ein nicht mehr auf eine freie Ärzteschaft begründe- tes ambulantes Versorgungssystem zu wollen.

Die Gleichstellung der psychisch Kranken mit den körperlich Kranken und die volle Integration der Psych- iatrie in die Medizin werden im En-

1424

Heft 21 vom 26. Mai 1977 DEUTSCHES

ARZTEBLATT

(4)

Angina•BronchitiS Otitis•Tonsillitis Laryngitis•Sinusitis

Baycillin Mega

der direkte Weg bei bakteriellen Infektionen im HNO-Bereich

• direkte Bakterizidie • keine Toxizitätsrisiken

• ausgezeichnete Verträglichkeit

• bewährte therapeutische Zuverlässigkeit in der täglichen Praxis

3 x 1 Tablette täglich Baycillin Mega

Höchstmögliche Sicherheit bei Oral-Penicillinen.

Baycillin Mega

10 Oblongtabl zu I Mega E. 20.05 DM 20 Oblongtabl zu I Mega E. 36.20 DM Baycillin 400

9 Tabletten zu 400.000 E. 11,10 DM 15 Tabletten zu 400.000 E. 17.1 5 DM Baycillin pro infantibus

12 Tabletten zu 200.000 E. 9,85 DM Baycillin-Saft

80 ml zu 1.2 Mega E. 7.85 DM 160 ml zu 2.4 Mega E. 14.60 DM Baycillin

oxy(P-riZPPrcol i y"1-KpaelnkiTil )1i n-Ka lium

Kontraindikation:

Penicillin-Uberempfindlichkeit Zur Beachtung:

In sehr seltenen Fallen kann es. wie bei allen Penicillinen. zu Hautreaktionen kommen. Bei Penicillin- und/oder Cephalosporin-Überempfindlichkeit mogliche Kreuzallergie beachten.

Ausführliche Informationen über Baycillin siehe Ärzteprospekt.

Bei grampositiven Erregern

(5)

Die Information:

Bericht und Meinung

Prof. Heinrich: Psychiatrie

-

Enquete

quete-Bericht mit Recht gefordert.

Die Errichtung von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinen Kran- kenhäusern kann ein Weg zur Errei- chung dieses Zieles sein. Es ist aller- dings darauf zu achten, daß diese Abteilungen in die regionale psych- iatrische Versorgung eingebun- den werden. Sie müssen entspre- chend den Empfehlungen des Ar- beitskreises der Leiter öffentlicher psychiatrischer Krankenhäuser aus- reichend dimensioniert sein und müssen sowohl die stationäre wie auch die komplementäre Versor- gung in ihrem Bereich sicherstellen können. Die Einrichtung solcher Ab- teilungen, die sich auf insgesamt etwa 200 stationäre, teilstationäre bzw. Heim- und Werkstattplätze stützen sollten, führt dann nicht zur Zwei-Klassen-Psychiatrie, wenn in diesen Versorgungszentren auch längerfristige Behandlungen durch- geführt werden.

Auf dem Gebiet der Kinder- und Ju- gendpsychiatrie ergeben sich nach den von niemandem ernstlich be- strittenen Befunderhebungen der

Sachverständigen-Kommission schwerwiegende Mängel. Wenn auch die Angabe, daß in einer Groß- stadt 31 Prozent der Kinder eines Schulanfängerjahrganges Auffällig- keiten und Leistungsbeeinträchti- gungen zeigten, hochgegriffen er- scheinen mag, so steht doch ein- wandfrei fest, daß zur Zeit auch ein weit geringerer Bedarf nicht befrie- digt werden kann. Die notwendige Anzahl der Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie wird von der Sachverständigen-Kommission auf 1700 geschätzt, zur Berichtszeit standen nur 173 Kinder- und Ju- gendpsychiater zur Verfügung.

Die psychiatrische Versorgung psy- chisch kranker alter Menschen hat sich unter klinischen Gesichtspunk- ten in den letzten Jahren verbessert.

Dazu hat nicht zuletzt die Umwand- lung kleinerer Krankenhäuser in Al- tenpflegeheime beigetragen, in denen auch psychisch veränderte alte Menschen betreut werden kön- nen. Die Altersabteilungen der psychiatrischen Landeskrankenhäu- ser konnten an vielen Orten verklei-

nert werden, den Gesichtspunkten der Multimorbidität konnte besser Rechnung getragen werden. Die von der Sachverständigen- Kommission festgestellte Fehlplazierung nicht mehr krankenhausbedürftiger alter Menschen in den psychiatrischen Kliniken hat abgenommen. Für die niedergelassenen Ärzte, besonders die Nervenärzte, ergibt sich als thera- peutisch lohnende und standespoli- tisch wichtige Aufgabe die Betreu- ung von Alten- und Altenpflegehei- men. Auch diese Heime sollten nicht ausschließlich oder auch nur über- wiegend ärztlich durch Institutionen versorgt werden.

Die Zahl der Alkoholkranken wird in dem Bericht der Sachverständigen- Kommission mit 1,2 bis 1,8 Millionen (2 Prozent bis 3 Prozent der Bevöl- kerung) angegeben. In manchen psychiatrischen Landeskrankenhäu- sern machen Alkoholpatienten 40 Prozent bis 50 Prozent der Aufnah- men aus. Die Zahl der Rauschmittel- abhängigen des „harten Kerns" wird auf etwa 50 000 geschätzt. Die ins- gesamt zur Verfügung stehenden stationären Behandlungsmöglich- keiten sind mit rund 6000 Betten zu gering. Die ambulante Vor- und Nachsorge ist ungenügend.

Eine

gefährliche künstliche Trennung

Das Kapitel über die psychothera- peutisch/psychosomatischen Dien- ste enthält die Forderung nach ei- nem sehr komplexen Versorgungs- system eigener Struktur, das ge- trennt von der psychiatrischen Ver- sorgung aufgebaut werden soll. In 240 Standard-Versorgungsgebieten soll jeweils eine psychotherapeu- tisch/psychosomatische Abteilung eingerichtet werden, zusätzlich wer- den entsprechende Abteilungen an Kurkliniken bzw. Rehabilitations- krankenhäusern gefordert. Eigen- ständige psychotherapeutisch/

psychosomatische Abteilungen sind nach den Vorstellungen der feder- führenden Arbeitsgruppen auch an Kinderkrankenhäusern zu errichten.

Abteilungen mit Ambulanzen wer-

den für Universitäten und Weiterbil- dungsinstitute vorgesehen. Zu die- sen Abteilungen bzw. Kliniken wer- den größere psychotherapeutisch/

psychosomatische Krankenhäuser von 120 Betten mit angeschlossener Poliklinik gewünscht. In weiteren kleineren psychotherapeutisch/psy- chosomatischen Kliniken, die als Spezialkliniken für besonders aus- gesuchte Krankheitsbilder dienen sollen und denen ebenfalls Poliklini- ken angegliedert werden sollen, ent- stünde ebenfalls wie in den psycho- therapeutisch/psychosomatischen Fachkrankenhäusern für Kinder und Jugendliche ein erheblicher Perso- nalbedarf. Psychagogische Heime mit 30 bis 40 Plätzen und Spezialein- richtungen für verwahrloste, dro- genabhängige oder straffällig ge- wordene Jugendliche runden die Vorschläge der psychotherapeu- tisch/psychosomatischen Arbeits- gruppen innerhalb der Sachverstän- digen-Kommission ab.

Bei diesen Forderungen handelt es sich offenbar um eine Maximalkon- zeption, deren Verwirklichung unter dem Aspekt der zur Verfügung ste- henden materiellen und personellen Möglichkeiten selbst auf lange Sicht zweifelhaft erscheint. Es muß die Frage gestellt werden, ob ein derart umfangreiches, völlig vom psychia- trischen Versorgungssystem ge- trenntes Angebot an psychothera- peutisch/psychosomatischen Ver- sorgungsdiensten den Notwendig- keiten entspricht. Die Initiatoren der dargestellten Forderungen scheinen zu unterstellen, daß der Krankheits- begriff der Psychiatrie ausschließ- lich körperlich ist. Eine derart auf die körperlich begründbaren oder zumindest biochemisch hyposta- sierten psychischen Erkrankungen und geistigen Behinderungen zu- rückgeworfene Psychiatrie hätte allerdings kaum einen relevanten Anspruch auf psychotherapeutische Theorie und Praxis. Dies muß als falsch angesehen werden, der histo- rische, außerordentlich schädliche Antagonismus zwischen Psychiatrie und Psychotherapie muß überwun- den werden. Tatsächlich sind die Voraussetzungen dafür noch nie so günstig gewesen wie gerade jetzt, es

1426 Heft 21 vom 26. Mai 1977

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

(6)

Prof. Heinrich: Psychiatrie-Enquete

wäre deshalb ein höchst verderbli- cher Anachronismus, eine künst- liche Scheidung zwischen Psychia- trie und Psychotherapie zu konstru- ieren. Psychotherapeutische Theo- rien und Techniken müssen in der Psychiatrie ihren selbstverständli- chen Platz haben. Dies schließt ei- genständige psychotherapeutisch/

psychosomatische Praxen, Institu- tionen und Organisationen nicht aus. Es sollte jedoch selbstverständ- lich werden nicht nur den Ärzten überhaupt, sondern vor allem den Facharztkandidaten in der Psychia- trie die Voraussetzungen zur Erwer- bung des Zusatztitels „Psychothera- pie" nach bundeseinheitlichen Maß- stäben zu ermöglichen. Anschauun- gen, die auf der Befürchtung beru- hen, daß die Psychiatrie Psychothe- rapie bzw. Psychoanalyse aus Machtstreben sich selbst integrieren möchte, entsprechen nicht der wis- senschafts- bzw. methodenge- schichtlichen Situation.

Das Problem der Schaffung einer Gebietsarztbezeichnung „Arzt für analytische Medizin" ist offensicht- lich noch nicht ausreichend disku- tiert worden. Die Meinungsbildung ist noch im Gange. Auf der einen Seite ist es erstrebenswert, tiefen- psychologisch fundierte Psychothe- rapie als Behandlungsmethode in der Medizin zu verankern, anderer- seits kommen andere Länder wie die USA und auch die Schweiz, in denen die Psychotherapie eine zur Zeit noch wesentlich größere Rolle als in der Bundesrepublik spielt, ohne eine solche Gebietsbezeichnung aus.

Die Notwendigkeit der Aneignung aller psychotherapeutischen Tech- niken durch Ärzte, vor allem durch zukünftige und bereits als Psychia- ter praktizierende Fachärzte, läßt es selbstverständlich erscheinen, daß diese auch die Techniken der Ge- sprächs- und Verhaltenstherapie er- lernen können.

Im Zusammenhang mit der Aus-, Weiter- und Fortbildung der Psycho- logen stellt die Sachverständigen- Kommission fest, daß etwa 60 Pro- zent aller Psychologiestudenten ih-

ren Ausbildungsschwerpunkt im Be- reich der klinischen Psychologie ge- wählt haben. Die Diplomprüfung be- stätigt jedoch nur die Qualifikation zum Diplompsychologen, nicht je- doch zur Tätigkeit als klinischer Psy- chologe, wenn auch manche Ausbil- dungsgänge an psychologischen Universitätsinstituten den entgegen- gesetzten Eindruck erwecken. Um eine dem Weiterbildungsgang zum Nervenarzt angemessene Zusatz- qualifikation des künftigen klini- schen Psychologen zu ermöglichen, sind mindestens vier Jahre Weiter- bildung erforderlich, davon ein Jahr in einer stationären Einrichtung zur Versorgung psychisch Kranker und Behinderter. Die Sachverständigen- Kommission fordert sogar ein weite- res Jahr in einer Versorgungsein- richtung für psychisch Kranke. Es ist zu erwarten, daß diese Weiterbil- dung im Rahmen eines Gesetzes über den nichtärztlichen Psycho- therapeuten geregelt wird. Das jetzt geübte Delegationsverfahren, in dem der Arzt, etwa zur Verhaltens- oder Gesprächstherapie, einen Psy- chologen hinzuzieht, der von sich aus nicht therapeutisch tätig werden kann, soll nach den Vorschlägen der Sachverständigen-Kommission durch ein wechselseitiges Zuwei- sungsverfahren im Rahmen der kas- senärztlichen Versorgung abgelöst werden. Bei diesem Verfahren sollen die jeweiligen Verantwortungsberei- che genau festgelegt werden.

Die Situation beim

Fach-Pflegepersonal

Die wachsenden Anforderungen, die an das Pflegepersonal im Rahmen der Psychiatrie gestellt werden, las- sen es nach dem Vorschlag der Sachverständigen-Kommission be- rechtigt erscheinen, während der dreijährigen Ausbildung zur Kran- kenschwester bzw. zum Kranken- pfleger im dritten Jahr schwerpunkt- mäßig psychiatrische Pflege- und Behandlungstechniken erlernen zu lassen. Ein solcher Ausbildungs- gang sollte zur Berufsbezeichnung

„Krankenschwester/Krankenpfleger (Psychiatrie)" berechtigen. Darüber

hinaus soll die schon jetzt praktizier- te Weiterbildung zur Fachschwester bzw. zum Fachpfleger für Psychia- trie ausgebaut werden, analog soll eine Weiterbildung zur Fachschwe- ster bzw. zum Krankenpfleger für Psychotherapie und Psychosomatik erfolgen.

Die Situation der psychiatrischen und psychotherapeutisch/psycho- somatischen Forschung in der Bun- desrepublik wird von der Sachver- ständigen-Kommission als insge- samt nicht befriedigend angesehen.

Dieser Beurteilung ist zuzustimmen.

Es ist bezeichnend, daß 1973 von der Deutschen Forschungsgemein- schaft nur rund fünf Millionen Mark für Forschungsvorhaben auf dem Gebiet der Psychiatrie bzw. Psycho- therapie/Psychosomatik aufgewen- det wurden. Die Gesamtaufwendun- gen für die Forschungsförderung betrugen im selben Jahre 540 Millio- nen DM. Die Forschung ist im we- sentlichen auf die Universitätsklini- ken bzw. -institute konzentriert, rein quantitativ spielen die Max-Planck- Institute und die psychiatrischen Landeskrankenhäuser eine geringe Rolle.

Bei der Schätzung des künftigen Personalbedarfs für die psychiatri- sche Versorgung hatte die Sachver- ständigen-Kommission von der be- kannten Mangelsituation auszuge- hen. Der Anteil der jährlichen Aner- kennungen für Nervenärzte wird auf sieben Prozent der gesamten Ge- bietsarztanerkennungen geschätzt.

Auf dieser Basis erwartet die Kom- mission bis 1980 einen Zuwachs von 677 Nervenärzten bei einer zwischen ungünstigen und günstigen Schät- zung liegenden mittleren Entwick- lung. Bis 1985 sollen es 1063 Ge- bietsarztanerkennungen sein, bis 1990 dann 1580, bis 1995 schon 2197 und bis zum Jahre 2000 schließlich 2781 Anerkennungen.

Die Zahl der Pflegekräfte in psychia- trischen Institutionen wird von der Kommission für 1975 mit rund 31 000 angegeben, für das Jahr 2000 wird eine Erhöhung auf rund 75 000 Pflegekräfte bei einer mittleren Ein- schätzung der Entwicklung erwar-

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft

21 vom 26. Mai 1977 1427

(7)

Die Information:

Bericht und Meinung

Prof. Heinrich: Psychiatrie-Enquete

tet. Diese Zahl wird für bedarfsge- recht gehalten.

Prioritäten im Bericht der Kommission

Aufgrund ihrer Bedarfsanalysen for- muliert die Sachverständigen-Kom- mission folgende Prioritäten für die Verbesserung der psychiatrischen Versorgungssituation:

1. Die komplementären Dienste (Heimsektor) sollen ausgebaut werden.

2. Die ambulanten Dienste sollen aus- und aufgebaut werden, darun- ter sind Beratungsstellen, Praxen von Nervenärzten und Psychothera- peuten sowie von Allgemeinärzten, außerdem Ambulanzen in psychia- trisch/psychotherapeutischen Kran- kenhäusern zu verstehen.

3. Der Aufbau von psychiatrischen Abteilungen an Allgemeinkranken- häusern wird gefordert.

4. Die Förderung der Aus-, Weiter- und Fortbildung.

5. Die bevorzugte Befriedigung der Versorgungsbedürfnisse spezieller Patientengruppen wie Kinder und Jugendliche bzw. Suchtkranke.

6. In den nächsten 20 Jahren sollen 31 Modellversorgungsgebiete ge- schaffen werden.

Einwände und Kritik

Der Bericht der Sachverständigen- Kommission stellt insgesamt eine Respekt erheischende Leistung dar.

Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wurde mit ihm versucht, eine umfassende Be- standsaufnahme psychiatrischer und psychotherapeutisch/psycho- somatischer Versorgungsbedürfnis- se zu ermöglichen. Nach der Veröf- fentlichung des Berichtes hat es an- dererseits nicht an kritischen Ein- wänden gefehlt. Diese Einwände

werden am gültigsten zusammenge- faßt in dem von Hippius für die Deutsche Gesellschaft für Psychia- trie und Nervenheilkunde vorgeleg- ten Sondervotum, das von weiteren Kommissionsmitgliedern unterstützt wurde. Danach hat die Sachverstän- digen-Kommission insgesamt eine maximale psychiatrische Versor- gung empfohlen, die nicht realisiert werden kann. Die Reform im Sinne einer zunehmenden Institutionali- sierung wird abgelehnt. Die Einbe- ziehung der psychisch kranken alten Menschen in die Prioritätenaufstel- lung künftiger Maßnahmen wird für notwendig gehalten. Es wird kriti- siert, daß die Forschung in der Auf- stellung der künftigen Prioritäten nicht genannt wird. Weiter- und Fortbildung muß nach dem Sonder- votum berufsbegleitend durchge- führt werden, um bei den betroffe- nen Berufsgruppen innerhalb der Psychiatrie nicht völlig unrealisti- sche Berufsvorstellungen und Be- dürfnisse zu wecken. Die Integration der Psychotherapie in ein einheitli- ches, in der Gesamtmedizin veran- kertes Versorgungssystem für psy- chisch Kranke und Behinderte wird als unabdingbar bezeichnet. Vor der Überbetonung der psychodynami- schen und sozialen Aspekte psychi- scher Krankheiten, Störungen und Behinderungen wird ebenso ge- warnt wie vor der Gleichsetzung von Psychotherapie und Psychoanalyse.

Angesichts der geringen Zahl gesi- cherter Erkenntnisse in der Psycho- somatik wird von einer überpropor- tionalen Vermehrung der stationä- ren psychosomatischen Institutio- nen abgeraten. Als vordringlich wird in dem Sondervotum die Verbesse- rung der Versorgung der Schwerst- bzw. chronisch Kranken und Behin- derten gefordert.

In einem Sondervotum von Häfner zur Versorgung von neurotisch und psychosomatisch Kranken wird aus- geführt, daß der weitere Aufbau oder die Erweiterung von Bettenkapazitä- ten für Psychotherapie bzw. für psy- chosomatisch Kranke in gesonder- ten Einrichtungen nur dort zu vertre- ten ist, wo die Institutionen der For- schung und Lehre dienen sollen.

Entsprechend den Verlautbarungen

der Weltgesundheitsorganisation wird der diagnostisch-therapeuti- sche Schwerpunkt bei der psycho- therapeutisch/psychosomatischen Versorgung auf die ambulante Be- handlung gelegt.

Zieljahr 2000:

Auch dann Bedarf nur zum Teil gedeckt?

Mit welchen zeitlichen Dimensionen bei der Verbesserung der psychiatri- schen und psychotherapeutisch/

psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung gerechnet wird, läßt die Planungsstudie zum Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik erkennen, die von der Planungsgesellschaft Heinle, Wischer und Partner, Stuttgart, erar- beitet wurde.

Aus dieser 403 Seiten umfassenden Studie ist zu entnehmen, daß zum Beispiel in der zu den Reformpriori- täten rechnenden Kinder- und Ju- gendpsychiatrie nach dem Jahr 2000 drei Viertel des Versorgungsbedarfs an Zentren für Kinder- und Jugend- psychiatrie als gedeckt erwartet werden. In der allgemeinen Psy- chiatrie wird bis 2000 eine hundert- prozentige Versorgung durch kom- plementäre Dienste erwartet. Zu die- sem Zeitpunkt sollen die psychiatri- schen Großkrankenhäuser auf je- weils maximal 600 Betten verkleinert sein. Bis zum Jahre 2000 soll auch die stationäre und komplementäre gerontopsychiatrische Versorgung den Anforderungen entsprechen.

Die stationäre Versorgung psy- chisch kranker Rechtsbrecher ist für die Zeit nach dem Jahre 2000 als ausreichend ausgestattet vorge- sehen.

Unerträglich lange

Planungsfristen

Diese wenigen Beispiele zeigen, welche Planungsfristen und Insuffi- zienzdauern für die psychiatrische Versorgung in der Bundesrepublik erwartet werden. Der jetzige Zu-

1428 Heft 21 vom 26. Mai 1977

DEUTSCHES ARZTEBLATT

(8)

Psychiatrie-Enquete

stand und das weitere jahrzehnte- lange Bestehenbleiben schwerer Mängel müssen als unerträglich be- zeichnet werden.

Warnung vor

„totaler Psychiatrie"

Es ist andererseits zu fragen, ob die Verwirklichung aller Enquete-For- derungen nicht eine „totale Psych- iatrie" zur Folge hätte, in der aus der beabsichtigten Versorgungs- wohltat die Überwachungsplage würde. Die Vorstellung, welches Ausmaß an bürokratischer Steue- rung ein perfektionistisches, weitge- hend institutionalisiertes psychiatri- sches und psychotherapeutisch/

psychosomatisches Versorgungssy- stem voraussetzen müßte, flößt Schrecken ein. Die in manchen Kommissionsforderungen als Mög- lichkeit zutage tretende Psychiatri- sierung des täglichen Lebens ist eine bedrückende Vision. Psychiater und Psychotherapeuten müssen sich von der Versuchung freihalten, sich in die Rolle der omnipotenten Heilsbringer hineindrängen zu las- sen. Andererseits müssen sie aber auch von ihren Mitbürgern und von den verfaßten Organen der Gesell- schaft die Hilfsmittel fordern, die zur Beseitigung der dringendsten Not von psychisch Kranken und Behin- derten unabdingbar sind. Jede Ge- sellschaft hat die Psychiatrie, die sie verdient. Wird dieser Maßstab ange- legt, so sind heilsame Betroffenheit und Unruhe bei uns allen ange- bracht.

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Kurt Heinrich Leitender Direktor

des Rheinischen Landeskrankenhauses Psychiatrische Klinik der Universität

Bergische Landstraße 2 4000 Düsseldorf 12

Was Wissenschaft in der Medizin zu sein hat, scheint klar bestimmt: Na- turwissenschaft. In der Psychiatrie ist das nicht so eindeutig. In ihr ha- ben alle klassischen Fakultäten sich ausgeprägt, sie alle haben einmal in wechselnder Dominanz das Fach beherrscht. Das Dilemma der heuti- gen Psychiatrie ist, daß jetzt alle zu- gleich in ihr wirksam sind, miteinan- der, aber auch durch- und gegen- einander. Die Praxis der Psychiatrie hat ihren Wissenschaften seit lan- gem nicht folgen können, und jetzt wird die Frage gestellt, ob sie eine ärztliche Aufgabe bleiben kann.

Die Psychiatrie hat sich immer mit Vorwürfen auseinanderzusetzen ge- habt, berechtigten und ungerecht- fertigten. Heute sieht sie sich aber einer Anklage ausgesetzt, die ihr schlechthin die Existenzberechti- gung abspricht, der Behauptung nämlich, der psychisch Kranke sei in Wirklichkeit ein Gesunder; er werde, wie im Mittelalter die Hexen, ledig-

lich als Blitzableiter für Spannungen in der Gesellschaft benutzt; und: die Psychiatrie schaffe durch ihre als Diagnostik verkannte Etikettierung erst jene Krankheitserscheinungen, die zu heilen sie vorgebe. Folgerich- tig wird die Beseitigung der Psych- iatrie verlangt. Das sind keine Äu- ßerungen von Außenseitern, die nicht ernst zu nehmen wären. In ei- nigen Bundesstaaten der USA hat die sogenannte Abschaffungsbewe- gung nichts weniger als die Auflö- sung der psychiatrischen Spitäler durch Gesetz erreicht, ohne daß in- nerhalb oder außerhalb der Medizin ein brauchbarer Ersatz bereitge- standen hätte.

Psychologie statt

Psychiatrie?

So weit gehen nicht alle Verfechter der Anti-Psychiatrie. Aber es wird dem Fach eine Zukunft vorausge- sagt, die in jedem Falle von der me- dizinischen Wissenschaft fort- und zur Psychologie führen soll. Jan Foudraine fordert ausdrücklich:

„Medizinische Wissenschaft kann Naturwissenschaft bleiben, aber: die Psychiatrie muß sich aus ihr lösen."

Lediglich eine „biologische Psych- iatrie" oder „Neuropsychiatrie", die sich mit hirnorganischen Folge- schäden zu befassen hätte, will er in der Medizin belassen. Diese Diskus- sion wird längst in der breitesten Öffentlichkeit geführt. Der Film „Ei- ner flog über das Kuckucksnest"

war ein Dauererfolg in den Kinos.

Man wagt kaum, sich vorzustellen, welche Wirkungen davon ausgehen müssen. Viele Besucher werden nur - ein plattes Vergnügen an den im Film gezeigten Verrücktheiten erlebt haben. Sie sind zwar klinisch buch- stäblich unmöglich, aber äußerst eindrucksvoll dargestellt. Wer die ei- gentliche Botschaft dieses Films er- faßt, muß die Überzeugung mitneh- men, daß die Psychiatrie in ihren Krankenhäusern den Menschen mutwillig, ja böswillig deformiert und in letzter Konsequenz zerstört.

Sicher, man kann sich dagegen wehren, man kann richtigstellen und aufklären. Aber das wird zusehends schwieriger in einer Zeit, die den

*) Ein Bericht über diese Veranstaltung ist in Heft 20/1977 auf den Seiten 1323 und 1324 erschienen.

80. DEUTSCHER ÄRZTETAG

Psychiatrie

Wissenschaft und Praxis

Festvortrag bei der Öffentlichen Veranstaltung*)

des 80. Deutschen Ärztetages am 10. Mai 1977 in Saarbrücken

Prof. Dr. med. Gustav W. Schimmelpenning

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 21 vom 26. Mai 1977 1429

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Ein Ihnen nahestehender Mensch, ein Verwand- ter oder enger Freund, ist an einem Hirnleiden erkrankt und Sie haben auf einmal den Eindruck, dass sich dadurch sein Wesen verändert

„Das Chemische Landesunter- suchungsamt Sigmaringen hat in Proben von Muttermilch be- stimmte Gifte in einer Konzen- tration nachgewiesen, die 20fach höher liegt als die für

Die Ärzteschaft mußte des öfteren warnend ihre Stimme erheben, weil die Gefahr bestand, daß durch voreilige Entscheidun- gen dieser Art die Lage derer, die als Patienten

ln der Tat: Wenn die vier von der Psychosozialen Arbeitsgemein- schaft in der Stadt Düsseldorf ge- nannten Prinzipien der Sachverstän- digenkommission in der

- Ultima Ratio zweite Stufe: innerhalb der Unterbringung Zwangsbehandlung und Fixierungen nur wenn weniger eingreifende Maßnahmen aussichtslos sind und .. (BVG) - Ziel:

Ausgehend von Erfahrungen aus anderen Bundesländern soll der Fachtag Möglichkeit zu Austausch und Diskussion bieten und Impulse setzen für die Entwicklung einer guten Versorgung

Laborveränderungen von klinischem Belang wie Störungen des Elektrolyt- und Wasser- haushaltes, Blutbildveränderungen (Leukopenie, Anämie, Panzytopenie), besonders bei Patienten

Es war zu erwarten, daß sich Kollegen, die in einer psychiatrischen Abteilung am Allgemeinkrankenhaus tätig sind, melden, denn ich habe zwar nicht diesen Kollegen, doch deren