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Archiv "Psychiatrie und Ethik" (30.11.1978)

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Psychiatrie und Ethik

Helmut E. Ehrhardt

Die medizinische wie die so- ziale Entwicklung bringt den Arzt immer häufiger in Ent- scheidungskonflikte, für de- ren Lösung Gesetzgebung und Rechtsprechung immer weniger Hilfen bieten. Die Psychiatrie ist hier in beson- derem Maße betroffen. Der Weltverband der Psychiater hat sich deshalb seit einigen Jahren intensiver mit diesem Thema befaßt. Dazu gehört auch die Frage des politi- schen Mißbrauchs der Psych- iatrie. Die erste Plenarsitzung des Weltkongresses für Psychiatrie in Honolulu am 29.

August 1977 war „ethischen Aspekten der Psychiatrie" ge- widmet. Die sechs Referenten

— aus Schweden, der Bundes- republik Deutschland, den USA, der UdSSR, Kanada und Senegal — diskutierten eine breite Palette unterschiedli- cher Fragen zum Thema (cf.

Psychiatric Annals [N.Y.] Vol.

8/1978 No. 1). Der folgende Beitrag ist eine etwas gekürz- te und modifizierte Fassung des Referates von Professor Ehrhardt.

In Philosophie und Religion ver- schiedener Kulturkreise haben ethi- sche Fragen von jeher eine zentrale Rolle gespielt. Woher kommt der Mensch, wohin geht er, was ist der Sinn dieses menschlichen Lebens, was dient der Sinnerfüllung, wie können wir ethisches Wertbewußt- sein wecken, ethischen Werten zu Anerkennung und Verwirklichung verhelfen? Das sind die alten und bleibenden Themen, mit denen sich Philosophen und Theologen ausein- andersetzen. Aus der wie auch im- mer gearteten Antwort auf diese Fra- gen versucht man bestimmte Ver- haltensregeln für den einzelnen Menschen, insbesondere für sein Zusammenleben in der Gemein- schaft mit anderen Menschen herzu- leiten. Das Bedürfnis oder der Wunsch, die so entwickelten sittli- chen Normen in einem Katalog, ei- nem Kodex, zusammenzufassen, läßt sich sehr lange zurückverfol- gen. Ältestes und weithin bekanntes Beispiel im westlichen Kulturkreis ist der Dekalog des Alten Testa- ments. Aus jüngster Zeit wäre hier die „Erklärung der Menschenrech- te" zu nennen, die am 10. 12. 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde. Auch unser Grundgesetz nennt in Art. 2 „das Sittengesetz" als Schranke der individuellen Frei- heitsrechte. Wer würde aber hier und heute schon wagen, diesen an- spruchsvollen Begriff zu definieren und zu konkretisieren? Welchen praktischen Wert hätte wohl ein sol- cher Versuch?

Gemeinsames Merkmal ethischer Normenkataloge der genannten Art ist ihr Anspruch auf Allgemeingül- tigkeit und Allgemeinverbindlich-

keit. Darüber hinaus kann — zumin- dest in unserer heutigen Welt— nicht mehr zweifelhaft sein, daß die Aus- übung bestimmter Berufe zur Kon- frontation mit ethischen Problemen spezieller Charakteristik führt. Die generalisierende Eigenart der er- wähnten Kodifizierungen bietet hier nur begrenzte Hilfen.

Was die Tätigkeit des Arztes betrifft, so war die zentrale Bedeutung ethi- scher Aspekte in der Heilkunst be- reits in den frühen Stadien vieler Kulturen bekannt. Das Wissen um die ethische Problematik ärztlichen Handelns ist alt. So ist es nicht ver- wunderlich, daß der viel zitierte Eid des Hippokrates der vielleicht älte- ste Katalog ethischer Verhaltensre- geln für einen bestimmten Berufs- stand ist. Bei aller Zeitgebundenheit und aller Kritik bleibt erstaunlich, daß so manche der hier formulierten Grundsätze auch heute noch als gültig und verbindlich angesehen werden. Neben anderen Gremien hat sich der Weltärztebund in den beiden letzten Jahrzehnten um eine Neuformulierung und Ergänzung des hippokratischen Eides bemüht.

Genannt seien hier nur das Genfer Gelöbnis von 1948, die Deklaratio- nen von Helsinki 1964, von Sydney 1968, von Oslo 1970 und von Tokio 1975. Der in London 1949 vom Welt- ärztebund verabschiedete „Interna- tionale Code der ärztlichen Ethik"

gilt in mancher Hinsicht als überholt und ergänzungsbedürftig. Eine Neu- fassung wird vorbereitet. Diese und andere Bemühungen um einen ethi- schen Verhaltenskodex für Ärzte be- stätigen den offenbar verbreiteten Wunsch nach einer solchen Rege- lung. Warum in den letzten Jahren immer mehr Ärzte einen solchen

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Verhaltenskodex sich wünschen, ist eine interessante Frage, auf die ich aber hier nicht näher eingehen kann.

Wenn uns offensichtlich die ärztli- che Berufsausübung ganz generell bereits mit ethischen Problemen ei- gener Art konfrontiert, dann ist eine Zuspitzung dieser Problematik in der Tätigkeit des Psychiaters nicht gerade überraschend. Schließlich ist es kein Zufall, daß die Psychiater im Vergleich zu anderen Klinikern weit- aus am häufigsten mit Juristen zu tun haben. Insoweit sind auch die Bemühungen um einen ethischen Verhaltenskodex für Psychiater ver- ständlich und wohlbegründet. Die American Psychiatric Association hat den Versuch einer solchen Kodi- fizierung 1973 vorgelegt. Ausgangs- punkt waren die von der American Medical Association 1971 aufgestell- ten „Prinzipien der medizinischen Ethik". Ein weiterer Versuch ist die von der Generalversammlung des Weltverbandes für Psychiatrie auf dem Weltkongreß 1977 einstimmig verabschiedete „Erklärung von Ha- waii" (DTSCH. ÄRZTEBL. 74 [1977]

2872). Auch dieser Kodex vermag nicht in allen Punkten zu befriedi- gen, was bei der Schwierigkeit der Aufgabe nicht verwunderlich ist. Es werden aber eine ganze Reihe von Verhaltensregeln formuliert, in de- nen sich die Konfliktsituationen des Psychiaters im Umgang mit seinen Patienten spiegeln und die ihm Richtlinie für eine ethisch fundierte Entscheidung sein können. — In der hier gebotenen Kürze einige Anmer- kungen zu einigen wenigen dieser typischen Konfliktsituationen in der Psychiatrie.

Von jeher hat es psychisch Kranke, Alkoholiker und Drogensüchtige ge- geben, die infolge ihrer Krankheit die öffentliche Sicherheit und Ord- nung oder sich selbst erheblich ge- fährden. Bei ihnen bedarf es, wenn sie den Krankenhausaufenthalt we- gen eines krankheitsbedingten Man- gels an Einsicht oder wegen Unfä- higkeit zur Einwilligung verweigern, der Zwangsunterbringung. Diese muß im Interesse des Patienten, der Öffentlichkeit, aber auch des Arztes

gesetzlich geregelt sein. Die Zahl der eigentlich gefährlichen Kranken, die wegen ihrer manifesten Gefähr- lichkeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht werden müssen, ist viel kleiner als gelegent- lich auch heute noch angenommen wird. Ein Sicherheitsrisiko im ord- nungsrechtlichen Sinn bilden diese Patienten überdies meist nur für kurze Zeit, während die Notwendig- keit der Behandlung und der Reha- bilitation länger oder langfristig ge- geben sein kann.

Freiheitsentziehung und Unterbringung

Neben dieser kleinen Gruppe der meist nur vorübergehend „Gefährli- chen" steht die große Gruppe derje- nigen psychisch Kranken, die ihrer Krankenhausunterbringung weder zustimmen noch widersprechen, die zu dieser Frage wegen ihrer Krank- heit nicht Stellung nehmen können oder wollen. Für diese Patienten ist die Krankenhausaufnahme als Vor- aussetzung einer angemessenen Behandlung ein Akt der notwendi- gen und selbstverständlichen Für- sorge. Sicherungsbedürfnis und Fürsorgebedürfnis überschneiden sich in besonderer Weise bei der ebenfalls nur kleinen Gruppe von Patienten, die als „selbstgefährlich"

im engeren Sinn, das heißt als sui- zidgefährdet, bezeichnet werden müssen.

Die unfreiwillige Unterbringung ei- nes psychisch Kranken in einer ge- schlossenen Abteilung ist eine Frei- heitsentziehung, die nach der Rechtsordnung aller demokrati- scher Staaten nur unter bestimmten, mehr oder weniger strengen Vor- aussetzungen durchgeführt werden darf. Meist ist die Anordnung oder Genehmigung durch einen unab- hängigen Richter erforderlich. Maß- geblich ist dabei der „natürliche Wil- le" des Betroffenen, der zum Bei- spiel nach der zur Zeit in der Bun- desrepublik Deutschland herrschen- den Rechtsauffassung auch nicht durch den Willen des gesetzlichen Vertreters — Vormund oder Pfleger — ersetzt werden kann.

Besondere Schwierigkeiten ergeben sich für den Arzt dann, wenn das Verfahren zur unfreiwilligen Unter- bringung eines Patienten in unter- schiedlichen Gesetzen geregelt ist und unterschiedliche Voraussetzun- gen gefordert werden. Noch kompli- zierter wird es, wenn zwar die unfrei- willige Krankenhausaufnahme, nicht aber das Recht zur Behandlung, auch ohne ausdrückliches Einver- ständnis des Patienten, geregelt ist.

Für den Arzt ist die Krankenhausauf- nahme lediglich ein Teil und zu- gleich die unerläßliche Vorausset- zung für die als notwendig erkannte Behandlung. Für den Juristen ist die Zwangsunterbringung als Freiheits- entziehung ein selbständiges und sehr schwerwiegendes Problem, das er völlig unabhängig von dem Selbstbestimmungsrecht des Pa- tienten hinsichtlich der Behandlung zu sehen gewohnt ist. Niemand regt sich etwa darüber auf, wenn ein Mensch nach einem Unfall durchaus unfreiwillig und vielleicht bewußtlos in ein Krankenhaus gebracht wird, dort nach der Operation einen Gips- verband bekommt und vielleicht über Wochen mehr oder weniger be- wegungsunfähig ans Bett gefesselt bleibt. Beim psychisch Kranken ist das alles ganz anders, weniger de facto als de jure.

Da haben wir zunächst die Gefahr und die Möglichkeit des Mißbrauchs von Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung zu nicht-thera- peutischen Zwecken. Dieses Thema wurde im Laufe des Weltkongresses an anderer Stelle so eingehend be- handelt (DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 74 [1977] 2870), daß hier nicht näher darauf einzugehen ist. Eigentlich sollte aber außer Diskussion stehen und selbstverständlich sein, daß jeg- licher Mißbrauch psychiatrischer In- stitutionen und Methoden zu ideolo- gisch-politischen Zwecken, wo im- mer er auch geschehen mag, grund- sätzlich verwerflich ist.

Von dieser so aktuell gewordenen Sonderproblematik abgesehen müs- sen wir hier mit der Möglichkeit des diagnostischen Irrtums rechnen. In einem gut geführten und personell entsprechend ausgestatteten psych-

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iatrischen Krankenhaus ist diese Ge- fahr sicher nicht besonders groß.

Weltweit gesehen müssen wir aber die große Zahl von psychiatrischen Einrichtungen in Betracht ziehen, die institutionell einfach nicht in der Lage sind, die heutigen Möglichkei- ten der Psychiatrie in Diagnostik und Therapie in vollem Umfang aus- zuschöpfen. Trotz unbestreitbarer Mängel darf man nicht übersehen, daß insbesondere die Entwicklung der Psychopharmakotherapie in den letzten beiden Jahrzehnten die Zahl der Zwangsuntergebrachten erheb- lich gesenkt hat, wie auch die Ver- weildauer dieser Patienten beträcht- lich verkürzt werden kann.

Der Arzt wird sich jedoch auch in Zukunft immer wieder mit dieser Problematik konfrontiert sehen.

Deswegen müssen wir uns ständig um eine Verbesserung der gesetzli- chen Regelungen für die Kranken- hausaufnahme bemühen. Vor allem sollten wir anstreben, daß die meist nur noch kurzfristig notwendige Zwangsunterbringung einzelner Pa- tienten möglichst weitgehend aus dem Bereich des Polizeirechts und des Strafrechts herausgenommen wird. Hierzulande bemüht man sich zur Zeit, durch eine Reform des Ent- mündigungs- und Vormundschafts- rechts diesem Ziel näher zu kom- men. Wir müssen uns aber dabei hü- ten, den psychisch Kranken in der Rehabilitationsphase vorzeitig in die volle Freiheit zu entlassen. Nur zu oft ist er den damit auf ihn zukom- menden Belastungen und Forderun- gen noch nicht gewachsen. — Hier stoßen wir auf schwerwiegende rechtliche Probleme, da der Jurist nur in den alternativen Kategorien von Freiheit und Unfreiheit zu den- ken gewohnt ist. Alle unsere Bemü- hungen um Rehabilitation oder Re- sozialisation bewegen sich aber in einem rechtlich schwer faßbaren Zwischenbereich.

Die rechtliche Bewertung des Abor- tus artificialis hat sich in einer er- staunlich kurzen Zeit weltweit verän- dert. Der Versuch einer Darstellung der vielschichtigen Probleme, die damit verbunden sind, würde den Rahmen dieses Referates sprengen.

Schon gar nicht ist an ein Votum für die eine oder andere Regelungs- möglichkeit gedacht. Hier nur einige Anmerkungen aus der Sicht des Psychiaters, wobei wohl kein Zweifel besteht, daß es sich zugleich um schwerwiegende ethische Probleme handelt.

Der Schwangerschaftsabbruch Die neueren gesetzlichen Regelun- gen bewegen sich zwischen der so- genannten Fristenlösung und der sogenannten Indikationslösung. Die Fristenlösung, die praktisch eine Freigabe des Abbruchs der Schwan- gerschaft innerhalb der ersten drei Monate bedeutet, wurde wohl am ausführlichsten durch die bekann- ten beiden Entscheidungen des Supreme Court in Washington vom 22. 1. 1973 begründet. Auch in Österreich hat sich eine bescheide- ne parlamentarische Mehrheit dafür ausgesprochen und eine entspre- chende Regelung wurde in das Strafgesetzbuch übernommen, das am 1. 1. 1975 in Kraft getreten ist. In der Bundesrepublik hat man sehr lange und sehr heftig über diese Al- ternativlösungen gestritten. Der Bundestag beschloß mit Gesetz vom 18. 6. 1974 die Einführung einer Fri- stenregelung, die aber vom Bundes- verfassungsgericht am 25. 2. 1975 für verfassungswidrig erklärt wurde.

Die danach beschlossene und am 21.6. 1976 in Kraft getretene Neu- fassung der §§ 218 ff. StGB präsen- tiert sich als eine Indikationslösung mit einem recht umständlichen Ver- fahren, wobei man aber zwischen Theorie und Praxis unterscheiden muß. Eine knappe Mehrheit im Bun- destag wollte ja eine Fristenlösung.

Nachdem sich das als unmöglich er- wiesen hatte, wurde die Neurege- lung entsprechend „elastisch" ge- staltet.

Die eigentliche Problematik aller ge- setzlichen Regelungen nach dem In- dikationsmodell liegt fast aus- schließlich bei der Interpretation dessen, was man unter „sozialer In- dikation" verstehen will. Unser Bun- desverfassungsgericht hat sich um eine Einengung und Präzisierung

bemüht und spricht bevorzugt von

„Notlagen-Indikation". Über das, was man noch nicht oder bereits als eine soziale Notlage ansehen könnte oder müßte, gehen die Meinungen bekanntlich sehr auseinander.

Durch eine „entsprechende" Ausle- gung des Begriffs der „sozialen Indi- kation" kann also die Indikationslö- sung in der Praxis zum selben Er- gebnis wie die Fristenlösung führen.

Lediglich das Verfahren ist etwas umständlicher, was sich aber im Laufe der Zeit bei zunehmender Routine kompensieren läßt.

Was bedeuten nun diese neuen ge- setzlichen Regelungen in der Praxis des Psychiaters? Ein Gesetz nach dem Fristenmodell entlastet ihn weitgehend. Eine persönliche Ent- scheidung wird von ihm nur noch selten und dann von Kollege zu Kol- lege verlangt. Die schwangere Frau muß nicht zu ihm kommen, sie sucht ihn allenfalls freiwillig auf, und das geschieht — bei uns jedenfalls — nicht gerade häufig. Der Psychiater kann und wird die Frau beraten, er braucht nicht zu entscheiden, er kann aber die allein bei der Frau liegende Entscheidung bewußt oder unbewußt steuern. Die Beratung ei- ner Schwangeren durch einen Psychiater, bei der es nicht um ir- gendeine medizinische Indikation geht, wird also immer von seiner ei- genen Einstellung zum nicht-medi- zinisch indizierten Schwanger- schaftsabbruch bestimmt sein.

Die Situation des Psychiaters bei ei- ner gesetzlichen Regelung nach dem Indikationsmodell ist schwieri- ger und belastender. Geblieben sind ihm die alten Fragen bei der soge- nannten reaktiven Depression und bei der Suizidgefährdung. Dazu kommt jetzt die „soziale Indikation", bei der man nur zu gern auf den Psychiater zurückgreifen wird. Wer sich hier zu einer Entscheidung kompetent und berufen fühlt, mag sich der Aufgabe stellen. Der Psych- iater sollte aber auch wissen, daß es nicht nur sein Recht, sondern gele- gentlich auch seine Pflicht ist, sich ganz einfach für inkompetent zu er- klären.

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Die neuen gesetzlichen Regelungen, gleich nach welchem Modell, haben die Situation des Psychiaters bei der Entscheidung im konkreten Einzel- fall keineswegs erleichtert. Er kann aber einer Entscheidung leichter ausweichen, wenn er das möchte.

Probleme der Sterbehilfe

Die jahrelangen Auseinandersetzun- gen über eine Lockerung des strik- ten Abtreibungsverbotes, deren Er- gebnis gesetzliche Neuregelungen in vielen Ländern war, führten unter anderem auch zu einer Neubele- bung der Diskussion um die Sterbe- hilfe. Erst im 19. Jahrhundert vollen- dete sich der Bedeutungswandel des Wortes Euthanasie zu dem heu- te gebräuchlichen und in vielen Fa- cetten schimmernden Begriff, der nicht nur alle Varianten der aktiven und passiven Sterbehilfe, sondern auch die Vernichtung vermeintlich lebensunwerten Lebens in ihren ver- schiedenen Spielarten umfaßt. Die Vernichtungsaktionen zur Zeit des Nationalsozialismus, die in ihrem Ausmaß und ihrer Grauenhaftigkeit ein historisches Novum waren, lie- fen bekanntlich auch unter dem Be- griff der Euthanasie, jedenfalls so- weit sie sich im Bereich der Psychia- trie abgespielt haben. Wenn wir heu- te von Euthanasie sprechen, so mei- nen wir meist etwas anderes.

Euthanasie im Sinne von Sterbehilfe gehört nach unserem heutigen Ver- ständnis zum legitimen Aufgaben- bereich des Arztes und insoweit zu seinen Rechtspflichten gegenüber dem Patienten. Die Linderung von Schmerzen, Atemnot und'sonstiger Bedrängnis eines mit dem Tode rin- genden Menschen ist selbstver- ständliche ärztliche Pflicht, auch wenn das Handeln des Arztes nicht mehr von dem Gedanken an die Er- haltung des Lebens bestimmt wird.

Für das ärztliche Verhalten gegen- über Sterbenden gelten dieselben rechtlichen Regeln wie gegenüber jedem anderen Kranken. Das bezieht sich selbstverständlich auch auf den ärztlichen Eingriff und die dazu er- forderliche Aufklärung und Einwilli- gung.

Neben dieser „einfachen" Euthana- sie gibt es die Sterbehilfe mit Le- bensverkürzung als Nebenwirkung, auch „indirekte" Euthanasie ge- nannt, und die passive Euthanasie oder Sterbehilfe durch Sterben- lassen.

Die Entwicklung der Intensivmedizin hat dazu geführt, daß sich alle schon bekannten Fragen um die Sterbehil- fe in zugespitzter und „letzter" Form stellen. Dazu kommen einige neue Fragen. Insbesondere unterscheidet sich die Situation des Arztes auf der Intensivstation von der etwa des All- gemeinpraktikers dadurch, daß er als „letzte Instanz" auch der letzten Entscheidung nicht mehr auswei- chen kann. Die Verfügung über den

„ganzen Apparat" impliziert mehr oder weniger die Versuchung zu perfektionistischem Denken und Handeln. Das technisch Mögliche wird leicht zum alleinigen Kriterium für die Indikation zum Einsatz des Apparates. Ein derartiges Vorgehen kann aber auch sinnlos, ja sogar in- human sein. Für manchen Arzt ist es jedoch gleichermaßen Beruhigung und Rechtfertigung, nunmehr „alles Menschenmögliche" im Kampf um das Leben des Patienten bis zum letzten Atemzug getan zu haben.

Demgegenüber wäre festzuhalten, daß die technisch mögliche Verlän- gerung der biologischen Existenz noch nicht „an sich" gut, wertvoll und erstrebenswert zu sein braucht.

Die Postulierung einer ethischen oder gar rechtlichen Pflicht des Arz- tes zu „künstlicher" Lebens- und

Leidensverlängerung „um jeden Preis" ist weder biologisch noch moralisch zu begründen und zu ver- antworten. Der Arzt muß um das Recht eines jeden Menschen auf ei- nen natürlichen und ihm gemäßen Tod wissen, und er muß die Grenzen des Lebens achten. Auch im Sterben ist die verfassungsrechtlich ge- schützte Würde des Menschen un- antastbar.

Für den Psychiater ergeben sich schwerwiegende Probleme bei den jetzt wieder aktuell gewordenen Be-

mühungen um eine gesetzliche Re- gelung der freiwilligen Euthanasie

im Sinne der Tötung auf Verlangen.

Der am 1. 1. 1976 in Kalifornien in Kraft getretene „Natural Death Act"

enthält noch keine umfassende ge- setzliche Regelung dieses Bereichs, ebenso wenig die kürzlich veröffent- lichten „Richtlinien für die Sterbe- hilfe" der Schweizerischen Akade- mie der Medizinischen Wissenschaf- ten. Zweifellos handelt es sich aber um wichtige Schritte auf dem Weg zu einer weitergehenden rechtlichen Normierung.

Wir stehen hier vor der neuerdings wieder lebhaft diskutierten Frage, ob es ein „Recht auf den persönli- chen Tod" als Grundrecht des Men- schen gibt. Durch die Verknüpfung dieser die freiwillige Euthanasie be- treffenden Frage mit der einer recht- lich mehr oder weniger kanalisierten

„Vernichtung lebensunwerten Le- bens" ist eine beträchtliche Verwir- rung entstanden. Sie stammt bereits aus dem Schrifttum der zwanziger Jahre, vor allem im Anschluß an die bekannte Initiative von Binding und Hoche. Seither hat es eine Reihe von Vorschlägen ähnlicher Art für eine gesetzliche Regelung gegeben. In Großbritannien wurde 1936 dem House of Lords ein Gesetzentwurf vorgelegt, der ein ziemlich umständ- liches Verfahren vorsah. Auch in den USA hatten sich die Parlamente ver- schiedener Staaten mit entspre- chenden Gesetzentwürfen zu befas- sen, die aber zunächst ohne Ergeb- nis blieben.

Eine vergleichende Betrachtung dieser verschiedenen Vorschläge zu einer gesetzlichen Regelung für die freiwillige Euthanasie zeigt ein- drucksvoll die Fragwürdigkeit und die Grenzen einer solchen Gesetz- gebung. Da ist zunächst das Pro- blem der Diagnose und der Progno- se, ganz ähnlich wie bei den Indika- tionen zum Schwangerschaftsab- bruch. Ob und wann eine Krankheit

„unheilbar", „hoffnungslos" ist, ob und wann sie zum Tode führen wird, läßt sich nun einmal sehr viel schwe- rer feststellen, als der Laie zu vermu- ten geneigt ist.

Gerade bei schweren und scheinbar eindeutigen Krankheitsbildern sieht

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sich der Arzt mit dem Problem der Freiwilligkeit in seiner psychiatri- schen wie auch ethischen Relevanz konfrontiert. Er weiß nur zu gut, daß es erstaunlich wenige Menschen gibt, die im vollen Bewußtsein der Tragweite ihrer Entscheidung hier und jetzt getötet werden wollen.

Frühere Willenserklärungen, in juri- stisch noch so einwandfreier Form, können dabei nicht maßgebend sein. Wenn es „ernst" wird, denken nun einmal viele Menschen ganz an- ders als in gesunden Tagen. Das ist eine schlichte Erfahrungstatsache.

Selbstverständlich gibt es Persön- lichkeiten, die zu ihrer früher und nach reiflicher Überlegung getroffe- nen Entscheidung stehen, die au- ßerdem das Glück haben, im kriti- schen Moment über ihre volle Ein- willigungsfähigkeit zu verfügen.

Aber kann man solche Ausnahmen zur Grundlage einer allgemein-ver- bindlichen, einer gesetzlichen Rege- lung machen? Kann der Arzt eine solche Regelung sich wünschen?

Psychische Krankheit

und psychiatrische Versorgung In vielen Ländern bemüht man sich seit Jahren um eine Neuordnung und Verbesserung der psychiatri- schen Versorgung. In der Bundesre- publik wurden diese Bestrebungen erst durch eine Initiative des Deut- schen Bundestags im Jahre 1970 konkretisiert. Eine Sachverständi- gen-Kommission erhielt den Auf- trag, eine Enquäte zur Situation der Psychiatrie durchzuführen. Sie legte im November 1975 einen umfangrei- chen Bericht vor.

Die Fülle der hier gesammelten Da- ten vermittelt erstmalig einen brei- ten Überblick über den derzeitigen Stand der psychiatrischen Versor- gung, über die bestehenden Mängel, und es werden eine Fülle von Anre- gungen zur Verbesserung der beste- henden Verhältnisse gegeben.

Wenn einzelne Daten dieser Be- standsaufnahme umstritten waren und sind, so ist das zunächst einmal eine Aufforderung zur Überprüfung und gegebenfalls Korrektur. Völlige

Übereinstimmung besteht aber da- hingehend, daß wir es mit einer vor- dringlich und in vieler Hinsicht ver- besserungsbedürftigen Mangelsi- tuation zu tun haben.

Zu den Merkwürdigkeiten dieser Be- standsaufnahme gehört zum Bei- spiel die Feststellung, daß jeder drit- te Bundesbürger bereits einmal in seinem Leben irgendeine psychi- sche Krankheit durchgemacht habe oder noch darunter leide. Also jeder dritte Bürger geisteskrank und da- mit auch Objekt der psychiatrischen Versorgung? Wenn diese Feststel- lung richtig wäre, dann gilt sie na- türlich gleichermaßen für alle Län- der mit einem vergleichbaren sozia- len und ökonomischen Standard.

Diese bemerkenswerten Zahlenan- gaben erklären sich ganz einfach dadurch, daß man neurotisch oder psychosozial bedingte Verhaltens- störungen in mehr oder weniger großzügiger Weise in den Begriff der

„psychischen Krankheit" einbezo- gen hat.

Dieses Problem scheint mir eine hervorragende praktische – und ethische – Bedeutung zu haben, und es stellt ganz sicher keine national bedingte Eigenheit dar. Wir Psychia- ter müssen uns wohl etwas einge- hender mit dem Begriff der psychi- schen Krankheit unter Berücksichti- gung der finanziellen und personel- len Möglichkeiten in einem gegebe- nen System der gesundheitlichen Fürsorge und Vorsorge auseinan- dersetzen. Wenn man jeden dritten Bürger zu einem psychisch Kranken stempelt, dann muß der verantwort- liche Politiker in Angst und Schrek- ken sich überlegen, ob Investitionen in diesem Versorgungsbereich über- haupt noch einen Sinn haben. Das fast beliebig manipulierbare Operie- ren mit derartigen Zahlen im Grenz- bereich von psychischer Versor- gung und Sozialhilfe im weitesten Sinn, kann sich auf die notwendige Kapazitäts- und Investitionsberech- nung zur Verbesserung der psychi- schen Versorgung nur verwirrend und negativ auswirken.

Als bundesdeutsche Besonderheit ist hier noch anzumerken, daß in

dem Enquäte-Bericht eine psycho- therapeutisch/psychosomatische Versorgung neben und über der psychiatrischen Versorgung gefor- dert wird. In gewissem Sinne ist das eine Konsequenz der grenzenlosen Ausweitung des Begriffs der psychi- schen Krankheit.

Wir haben es hier mit einem ausge- sprochen ethischen Problem zu tun.

Je mehr wir die breiten und kaum abgrenzbaren Randzonen der Psychiatrie als Aufgabe in die psych- iatrische Versorgung einbeziehen, um so weniger werden wir für den engeren Bereich der psychisch Kranken tun und erreichen können.

Psychiatrische Versorgung ist zwei- fellos ein Teilgebiet sozialer Fürsor- ge und Vorsorge. Die verbreitete Tendenz zu direkter oder indirekter Ausweitung dieses Teilbereichs kann sich nur zum Nachteil der Kranken, insbesondere der mehr oder weniger chronisch Kranken und der auf Dauer Pflegebedürftigen auswirken. Das Niveau der Versor- gung gerade dieses Personenkrei- ses ist aber einer der kritischsten Maßstäbe für das Gesamtniveau ge- sundheitlicher und sozialer Fürsor- ge in einem Lande.

Literatur beim Sonderdruck Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. Dr. h. c.

Helmut E. Ehrhardt Ortenbergstraße 8 3550 Marburg

ZITAT

Bewährt

„Das gegliederte System un- serer Krankenkassen hat sich so gut bewährt, daß ich nicht die geringste Veranlas- sung sehe, davon abzuwei- chen."

Udo Fiebig, Lünen MdB, Gesundheitspolitischer Ob- mann der SPD-Bundestags- fraktion.

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