DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
KONGRESSBERICHT
Sogenannte „Consensus-Konfe- renzen" erfreuen sich in den USA zunehmender Beliebtheit. Wir sind deshalb den Kollegen Priv.- Doz. Dr. Kaufmann, Prof. Kubli, Priv.-Doz. Jonat und Prof. Maass besonders dankbar, daß sie zu ei- nem der umstrittensten Gebiete
„Der adjuvanten Behandlung des Mammakarzinoms" von der letzten Consensus-Konferenz in Bethesda klärende und leicht verständliche Vorschläge für unsere Leser zu- sammengefaßt haben. Der Beitrag erscheint außerhalb der von Prof.
Dr. Dr. Linder und Prof. Sack be- treuten Serie über „Diagnostik und Therapie bösartiger Erkrankun- gen" (siehe auch DEUTSCHES ÄRZTEBLATT, Heft 31/32 vom 2.
August 1985). Rudolf Gross
Z
wölf Mitglieder des Consen- sus Panels, welche aus ver- schiedenen Sparten der Me- dizin (Innere Medizin, Radiologie, Statistik, Epidemiologie, Patholo- gie, Familienplanung, Labor, Krankenpflege und Presse) stammten, fällten ihr Urteil nach einer zweitägigen Präsentation (9./11. September 1985) von Vor- trägen und ausgiebigen Diskus- sionen der zur Zeit wohl umfang- reichsten und bedeutendsten Stu- dien zum Thema der adjuvanten Chemotherapie des Mammakarzi- noms. Außerdem fanden sich drei Tage lang vor diesem Consensus- Treffen über 100 Studienleiter zu ihrem zweiten sogenannten „Tria- list-Meeting" zusammen, um ihre von R. Peto und Mitarbeitern (Uni- versity of Oxford, England) ge- meinsam ausgewerteten Studienzu diskutieren. Die hierbei gewon- nenen Ergebnisse sind sicherlich weitgehend mit in die Entschei- dung des Panels der Consensus- Konferenz eingegangen.
Das Ziel einer adjuvanten Thera- pie ist, das Überleben signifikant zu verlängern, wobei gleichzeitig eine akzeptable Lebensqualität erreicht werden muß. Dabei müs- sen folgende Probleme analysiert werden:
• Die Wirkung der Therapie hin- sichtlich des Gesamtüberlebens.
• Die Wirkung der Therapie auf das rezidivfreie Überleben. Ver- längerte Perioden rezidivfreien Überlebens sind bereits von Vor- teil, da die Überlebensqualität wahrscheinlich besser vor als nach einem Rezidiv ist. Außerdem bestehen einige Hinweise, daß sich längere rezidivfreie Überle- benszeiten auch in besseren Ge- samt-Überlebenszeiten ausdrük- ken.
Die Wirkung der Therapie auf die Lebensqualität.
Eine steigende Zahl von wichtigen prognostischen Faktoren, welche den Verlauf des Mammakarzi- noms ohne Therapie charakteri- sieren, konnte erkannt werden.
Diese schließen bereits gut be- kannte Faktoren, wie den histolo- gischen Befund der axillären Lymphknoten, die primäre Tumor- größe, den Steroid-Hormon-Re- zeptor-Status, den Menopausen- status oder das Alter sowie die hi- sto-pathologische Befundung mit
ein. Der histologische Status der axillären Lymphknoten bleibt al- lerdings der einzig wichtige pro- gnostische Faktor. Vier Lymph- knoten-Kategorien sind definiert worden (negativ; 1 bis 3 positiv; 4 bis 9; 10 oder mehr positiv). Das Panel konnte nach ausgiebiger Diskussion zu folgenden Fragen Stellung nehmen:
1. Haben adjuvante Chemothera- pie-Studien beim Mammakarzi- nom ein verbessertes Überleben in irgendeiner Gruppe von Patien- tinnen erbracht?
2. Welche Rolle spielt die endo- krine Therapie in der adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms?
3. Wann sollten Frauen mit histo- logisch negativen Lymphknoten adjuvante Therapie erhalten?
4. Gibt es signifikante Nebenwir- kungen einer adjuvanten Thera- pie?
5. Welche Richtung soll die zu- künftige Forschung gehen?
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Prämenopausale Frauen (älter als 50 Jahre)
Die adjuvante Chemotherapie hat eine hoch signifikante Verbesse- rung des rezidivfreien Überlebens und eine signifikante Verringe- rung der Mortalität bei histolo- gisch positiven Lymphknoten er- bracht. Die adjuvante Che- motherapie kann nun als eine Standardbehandlung für diese Pa- tientinnen betrachtet werden, auch wenn eine weitere Verbes- serung der Effektivität noch er- zielt werden muß. Viele Studien haben gezeigt, daß die Kombina- tions-Chemotherapie einer Mono- therapie überlegen ist. Das am häufigsten angewandte und ana- lysierte Schema ist das CMF- Schema. Eine optimale Dauer der adjuvanten Therapie wurde noch nicht definiert.
Postmenopausale Frauen (älter als 50 Jahre)
Die Wirksamkeit der adjuvanten Chemotherapie für postmeno- pausale Frauen ist weniger gut bewiesen. Unter Berücksichti- gung aller randomisierten Studien
Adjuvante Hormon-
und Chemotherapie beim Mammakarzinom
Bericht über das 4. Consensus-Treffen zum Thema „Mammakarzinom"
am National Institute of Health, Washington D. C.
Manfred Kaufmann, Walter Jonat, Heinrich Maass und Fred. Kubli
248 (42) Heft 5 vom 29. Januar 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
N+ N- Lymphknotenstatus Alter
prämenopausal (< 50 Jahre)
Chemotherapie evtl. Chemotherapie in high risk Situation postmenopausal
50 Jahre)
R+: Tamoxifen R—: evtl. Chemo- therapie
keine adjuvante Therapie (R+: evtl. Tamoxifen) Tabelle: Therapieempfehlungen Consensus-Meeting
„Adjuvante Chemotherapie beim Mammakarzinom", Bethesda USA, September 1985
R = Hormonrezeptor
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Therapie des Mammakarzinoms
ist eine Verbesserung des rezidiv- freien und Gesamtüberlebens bei nodal positiven Frauen gering, aber dennoch statistisch signifi- kant. Wenn die Chemotherapie bei postmenopausalen Frauen eingesetzt wird, sollte sie in der gleichen Intensität und Dauer wie bei prämenopausalen Patientin- nen angewandt werden.
ad 2
Entscheidungen über eine adju- vante Hormontherapie sollten mit Kenntnis der Östrogen- und Pro- gesteron-Rezeptoren beim Pri- märtumor einhergehen.
Prämenopausale Frauen
Eine adjuvante Hormontherapie allein oder in Kombination mit zy- totoxischer Chemotherapie hat sich als nicht sehr wirksam bei prämenopausalen Frauen mit po- sitiven Lymphknoten erwiesen.
Jedoch zeigen einige Studien, daß entweder eine Ovarektomie oder Tamoxifen eine gewisse Besserung erzielen können, so daß hier klinische Studien ge- rechtfertigt sind.
Postmenopausale Frauen
Bei postmenopausalen Frauen mit positiven Hormonrezeptoren und positiven axillären Lymph- knoten haben sehr viele Studien einen signifikanten Effekt von Ta- moxifen auf das rezidivfreie Über- leben gezeigt. Eine Übersicht al- ler randomisierten Tamoxifen- Studien zeigt ebenfalls eine signi- fikante Wirkung und eine wirk- liche existente Verbesserung des gesamten Überlebens. Dieser Nutzen von Tamoxifen für Frauen über 50 Jahre ist um so mehr von Bedeutung, da er sogar ohne ern- ste Kurzzeit-Toxizität erzielbar ist.
Tamoxifen sollte als Standard- Therapie für postmenopausale Patientinnen mit positiven axillä- ren Lymphknoten und positiven Hormon-Rezeptoren gelten.
Die optimale Dauer der Tamoxi- fen-Behandlung bleibt noch zu bestimmen. Es scheint jedoch so, daß eine längere Tamoxifen-Gabe (zum Beispiel wenigstens zwei
Jahre) effektiver sein mag. Zusätz- lich bleibt festzustellen, daß Ta- moxifen den größten Gewinn bei Patientinnen mit vier oder mehr positiven Lymphknoten zeigt.
ad 3
Eine routinemäßige Gabe einer adjuvanten systemischen Thera- pie bei Frauen mit histologisch negativen Lymphknoten kann zur Zeit nicht empfohlen werden. Die Prognose für Frauen mit negati- ven Lymphknoten ist relativ gut (65 bis 80 Prozent überleben 10 Jahre). Jedoch zeigen einige die- ser Patientinnen ein erhöhtes Re- zidivrisiko, so daß eine Che- motherapie indiziert sein kann.
ad 4
Die akute Toxizität von adjuvanter Chemotherapie ist gut bekannt und schließt einen unterschied- lichen Grad von Leukopenie, Übelkeit, Erbrechen, Abgeschla- genheit und Haarverlust mit ein.
Amenorrhoe tritt häufig als Ergeb- nis einer zytotoxischen Therapie auf und ist kaum reversibel bei Frauen über 40 Jahre. Die psycho- logischen, sozialen und ökonomi- schen Belastungen sind für die Patientin und ihre Familie enorm.
Ausgeprägte Langzeit-Toxizität einer Chemotherapie ist extrem selten, obwohl einige Studien ei- ne große Anzahl von Patienten über lange Zeit verfolgt haben. Es gibt jedoch bis jetzt bei Patientin- nen, welche adjuvante Che-
motherapie erhielten, keinen Hin- weis für ein erhöhtes Risiko, ei- nen Zweittumor zu entwickeln.
Tamoxifen wird von den Patientin- nen außerordentlich gut toleriert.
Geringe Kurzzeit-Nebenwirkun- gen sind allerdings bekannt. Eine mögliche Langzeit-Toxizität von Tamoxifen ist unbekannt und er- scheint zur Zeit bei einem Follow- up von acht Jahren nicht zu beste- hen.
Insgesamt muß festgestellt wer- den, daß die erreichten verbesser- ten Überlebensdaten durch eta- blierte adjuvante Therapiepro- gramme beim Mammakarzinom signifikant das Risiko ernster To- xizitäten überwiegen.
ad 5
Viele Probleme der adjuvanten Therapie des Mammakarzinoms bleiben ungelöst und müssen in kontrollierten Studien untersucht werden, welche
> eine Neudefinition von Stadien und prognostischen Untergrup- pen,
I> den Einsatz der adjuvanten Chemo- und/oder endokrinen Therapie bei nodal negativen Pa- tientinnen und
I> wirklich neue und effektivere Chemotherapie-Schemata für no- dal positive Patientinnen beinhal ten.
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 5 vom 29. Januar 1986 (45) 249
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KONGRESSBERICHT
Mammakarzinom
Schlußfolgerungen:
Adjuvante Chemo- und Hormon- Therapien sind effektive Behand- lungen für Mammakarzinom-Pa- tientinnen. Eine optimale Thera- pie ist jedoch noch nicht für ir- gendeine Untergruppe von Pa- tientinnen bestimmt. Deshalb wird von allen Patientinnen und ihren Ärzten gefordert, an kon- trollierten klinischen Studien teil- zunehmen.
Außerhalb von klinischen Studien können basierend auf den For- schungsergebnissen auf dem Consensus-Treffen 1985 folgende Aussagen gemacht werden (Ta- belle):
Für prämenopausale nodal positi- ve Frauen, unabhängig vom Hor- monrezeptor-Status, sollte eine
Kombinations-Chemotherapie Standard-Therapie werden.
Für prämenopausale nodal nega- tive Patientinnen wird eine adju- vante Therapie nicht generell empfohlen. Für bestimmte high risk Patientinnen dieser Gruppe kann eine Chemotherapie in Be- tracht kommen.
Für postmenopausale nodal posi- tive Frauen und bei Hormon-Re- zeptor-positiven Befunden ist Ta-
moxifen die Therapie der Wahl.
Für postmenopausale nodal posi- tive Frauen und bei negativem Hormonrezeptor kann eine Che- motherapie in Betracht kommen:
ist jedoch nicht als Standard- Therapie zu empfehlen.
Für postmenopausale nodal nega- tive Frauen — unabhängig vom Hormonrezeptor — besteht keine Indikation für eine routinemäßig durchzuführende adjuvante The- rapie.
Anschrift für die Verfasser:
Privatdozent Dr. med.
Manfred Kaufmann Universitäts-Frauenklinik Voßstraße 9
6900 Heidelberg
Das Fach Biomedizinische Tech- nik ist heute in der Bundesrepu- blik in einem breiten Spektrum von Forschung, Lehre und Dienst- leistung im Rahmen der Kranken- versorgung vertreten. Es reicht von eigenständigen Instituten für Biomedizinische Technik an Technischen Hochschulen ohne medizinische Fakultät über Abtei- lungen als Einrichtungen der For- schung und Lehre, Arbeitsgrup- pen, Lehrstühle und Hochschul- lehrer, die in gewissem Maße auch Dienstleistungen für die Krankenversorgung erbringen, an medizinischen Fakultäten bis zu reinen, der Verwaltung unterstell- ten Dienstleistungseinrichtungen ohne Möglichkeit und Auftrag zu wissenschaftlicher Forschung und Lehre an Nichthochschulkli- niken.
Wenn auch manchmal die Medi- zintechnik einzig und allein als Dienstleistungsbetrieb mit direk- ter Unterstellung unter den Klini- kumsvorstand gesehen und ge- wünscht wird, ist die Dienstlei- stungsfunktion der Medizintech- nik, insbesondere an Hochschu- len, ein heikles Thema, da sich wissenschaftliche Aufgaben in Forschung und Lehre nicht pro- blemlos mit den Pflichten einer reinen Gerätereparaturwerkstatt in der Klinik vereinbaren lassen.
Kreative Forschung benötigt mehr Freiraum
Eine kreative Forschung — und die europäische Medizintechnik hat sich durchaus ideenreich gezeigt
— erfordert eine gewisse Mindest- breite der in der forschenden In- stitution vertretenen Disziplin, ei- ne Breite, die bei der Tätigkeit nur einzelner Ingenieure oder Physi-
ker in einer klinischen Abteilung nicht gegeben ist. Der Freiraum, den Kreativität benötigt und aus dem sie allein zu erwarten ist, ist nur dann vorhanden, wenn die Tä- tigkeit nicht unmittelbar produkt- spezifisch und nicht allein patien- tenorientiert gesehen werden muß, wie es bei einer reinen Dienstleistungstätigkeit in der Kli- nik notwendigerweise der Fall sein muß. Da die weitere Entwick- lung der Medizin heute und in ab- sehbarer Zukunft auch von der Weiterentwicklung der Medizin- technik abhängt, darf die Medizi- nische Technik sich nicht nur in Dienstleistungen erschöpfen, sondern muß als wissenschaft- liches Fach und forschende Insti- tution an der Hochschule vertre- ten sein.
Biomedizinische Technik in medizinischen Fakultäten nur schwach vertreten
Doch bisher ist die biomedizini- sche Technik nur an etwa einem Viertel der medizinischen Fakultä- ten vertreten. Als Gründe sind im wesentlichen zu nennen:
> Die Mittelverknappung zu ei- nem Zeitpunkt, als die Bedeutung des Faches erkannt wurde, stand der Institutionalisierung entge- gen.
• Die Medizintechnik ist eine an- gewandte Wissenschaft, was ihr wissenschaftliches Ansehen an klassischen Universitäten mögli- cherweise beeinflußt.
> Die auf dem Gebiet zu beob- achtende und sachlich notwendi- ge Spezialisierung erschwert die Berufung geeigneter Persönlich- keiten mit breitem Überblick über das Fach für die Leitung von Insti- tuten.
Biomedizinische Technik zwischen Forschung und Dienstleistung
Kurzbericht von der 19. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische Technik, Stuttgart 1985
250 (46) Heft 5 vom 29. Januar 1986 83. Jahrgang Ausgabe A