Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 3⏐⏐16. Januar 2009 39
M E D I Z I N
Mit Dilemma leben
Prinzipiell ist es natürlich sinnvoll, den Kolleginnen und Kollegen an der Front eine Empfehlung mitzugeben, wie sie dem schwierigen Krankheitsbild der Osteoporo- se entgegentreten können. Im Zentrum steht das Wort von Prof. Minne: Jede Osteoporose gehört therapiert;
aber auch Empfehlungen aus den USA (NAMS) www.guidelines.gov.
Wenn jetzt aber ausschließlich diejenigen behandelt werden, die innerhalb der nächsten zehn Jahre ein 30%iges Frakturrisiko für Wirbelkörper und Femur be- sitzen, dann wird es schwierig. Frauen, die zum Beispiel zwischen 50 und 60 Jahre alt sind und einen T-Wert von etwas besser als -4,0 besitzen, werden leitliniengerecht nicht behandelt, obwohl sie krank sind. Die unbehandel- te Osteoporose wird sicherlich fortschreiten und diese Patienten werden in den nächsten Jahren bei einem we- sentlich niedrigeren T-Wert landen. Natürlich ist die Therapie der Osteoporose sehr kostspielig, wenn man sie nur auf Biphosphonate ausrichtet. Aber die Folgekos- ten der Osteoporosekomplikationen betragen in der BRD über fünf Milliarden Euro/Jahr. Im Hinblick auf die Prophylaxe sollte man daher auch die neuen Empfehlungen der International Menopause Society (www.imsociety.org) zur Kenntnis nehmen. Ich selbst führe seit 1988 die DEXA-Knochendichtemessung durch und kann leider nicht bestätigen, dass die Thera- pie von Patienten mit T-Werten von -4 innerhalb einer kurzen Zeit so relevante Verbesserungen verursachen, dass eine wesentliche Reduktion des Frakturrisikos zu erwarten ist. Man lebt mit den Empfehlungen der DVO dann mit dem Dilemma, dem Patienten leitliniengerecht eine Therapie vorzuenthalten und riskiert damit Fraktu- ren, die durch eine frühzeitige Therapie hätten verhin- dert werden können.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0039a
Dr. med. Bernhard Hörr Zehntgasse 1 73207 Plochingen E-Mail: b.hoerr@hoerr-pet.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.
Im Individualfall unzuverlässig
Dem interessanten Update der Kollegen Baum und Pe- ters steht ein zeitgemäßeres Paradigma der Definition der Osteoporose entgegen: die Konsequenz der zivilisa- torisch bedingten Minderbeanspruchung (1) des Ske- letts. Der „Goldstandard“ DXA ist somit zur Frakturrisi- koabschätzung ungeeignet, weil es sich primär nicht um ein krankheitsbedingtes Defizit handelt. Dies gilt syno- nym für den überflüssigen Fettvorrat, den wir herumtra- gen. Systematische Fehler der DXA können zu erhebli- chen Unter- oder Überschätzungen des Mineralgehaltes am untersuchten Knochen führen (2). Die WHO-Defini- tion wurde falsch interpretiert. Ein Pionier der Densito- metrie, sagte dazu (3): „Es muss klar sein, dass die T- Score-Kriterien der Weltgesundheitsorganisation zur Anwendung in epidemiologischen Studien vorgeschla-
gen wurden, zum Vergleich zwischen Populationen. Sie waren nicht dafür gedacht, Diagnosen oder Therapie- entscheidungen zu treffen".
Schlanke oder anorektische Individuen haben in DXA-Messungen oft ein hohes „Frakturrisiko“, wäh- rend mittels quantitativer Computertomografie (QCT) am gleichen Wirbelkörper eine normale Bruchfestigkeit evident ist. Der T-Score ist deshalb zur Therapieent- scheidung bedenklich. Auch durch eine noch so über- wältigende Datenlage kann dies mit dem Hinweis auf den hohen „Evidenzgrad“ nicht relativiert werden, weil ja die Evidenzbasis bereits irreführend angelegt und in- terpretiert wurde.
Die Industrie hat in den vergangenen 20 Jahren fast ausschließlich DXA zur Evaluierung ihrer Osteoporose- mittel einsetzen lassen. Die Methode ist für große Stich- probenumfänge zweifellos repräsentativ und valide, im Individualfall aber unzuverlässig. Dies wird nur zum Teil durch die DVO-Leitlinien berücksichtigt, wenn die Methodik dementsprechend eingesetzt wird und der An- wender versteckte individuelle Messfehler erkennen kann. Beim Diabetes mellitus wäre ein Gerät zur Mes- sung des Glukosespiegels mit einer vergleichbar großen Fehlerbreite auffällig gefährlich.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0039b LITERATUR
1. Frost HM, Schneider P, Schneider R: Osteoporosis a disease requi- ring treatment or osteopenia a physiologic state? – Behandlungsbe- dürftige Osteoporose oder physiologische Osteopenie? – WHO Defi- nition im Gegensatz zum Utah Paradigma. Dtsch Med Wochenschr 2002; 127: 2570–4
2. Schneider P, Reiners Chr: Quantitative Bestimmung der Knochen- masse: heutiger Stand und Fallstricke der Methoden. Med Welt 1998; 49: 157–63.
3. Dequeker J: Bone Density is not a good predictor of hip fracture.
BMJ 2001; 323: 795–9.
Prof. Dr. med. Dipl.-Min. Peter Schneider Universitätsklinikum
Klinik und Polokilinik für Nuklearmedizin Josef-Schneider-Straße 2
97080 Würzburg
Interessenkonflikt
Der Autor ist Mitglied der Organisation „Reko“ (Regionaler Expertenkreis Osteoporose).
Schlusswort
Wir freuen uns sehr über das breite Echo zu unserem CME-Artikel und danken allen kritischen Lesern für ih- re Zuschriften. Derzeit wird an einem Update der zu- grunde liegenden Leitlinie gearbeitet, sodass diese Kommentare mit einfließen können.
Zu Pfeiffer und Minne: Die Assoziation zwischen Sturz- häufigkeit und Frakturraten ist unstrittig und wurde so- wohl in der Leitlinie als auch unserem Artikel entspre- chend berücksichtigt. Dennoch fehlt bisher der Nach- weis, dass Übungsprogramme die Frakturrate senken.
Die zitierten Studien beziehen sich auf epidemiologi- sche Daten und nicht auf Interventionen. Wir sind uns sicher einig, dass hier entsprechende Untersuchungen, die allerdings mangels Interesse der Industrie durch öf- fentliche Gelder zu finanzieren wären, notwendig sind.
40 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 106⏐⏐Heft 3⏐⏐16. Januar 2009
M E D I Z I N
Hier gilt es, beim Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Deutschen Forschungsgemeinschaft sowie bei Stiftungen Überzeugungsarbeit zu leisten.
Aus Platzgründen war ein Eingehen auf spezielle Maßnahmen wie Orthesen oder auch Kyphoplastie/Ver- tebroplastie nicht möglich. Wir danken für den ergän- zenden Hinweis von Pfeiffer und Minne und stimmen ihm diesbezüglich zu.
Zu Schute: Der Hinweis auf die gegebenenfalls erfor- derliche Basismedikation wurde aus didaktischen Grün- den an den Anfang des Therapie-Kapitels gestellt, so- dass hier keine Zweifel über deren Notwendigkeit auf- kommen sollten.
Im Rahmen der Gesundheitsuntersuchung Checkup 35 ist eine Dokumentation von Größe und Gewicht ne- ben der Bestimmung weiterer kardiovaskulärer Risiko- faktoren durchaus sinnvoll, allerdings ist das Erfragen früherer Messergebnisse der Körpergröße mit so großen Unschärfen verbunden, dass dieser Parameter in der Leitlinie nicht mehr als Screening-Instrument empfoh- len wurde. Unspezifische Rückenbeschwerden sind in der Bevölkerung sehr häufig und zeigen keine Assozia- tion mit verminderter Knochendichte ohne Frakturen, sodass sie keine Indikation zur spezifischen Diagnostik darstellen. Zum empfohlenen Vorgehen sei hier auf die Leitlinie Kreuzschmerzen der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) verwiesen.
Zu Hörr: Bei Patienten, die nahe an der Grenze zu ei- ner spezifischen Therapie stehen, sollte immer der Ge- samtkontext besonders sorgfältig beleuchtet und dann ei- ne gemeinsame Entscheidung getroffen werden. Die sinnvolle Anwendung von Leitlinien steht nach allge- meinem Konsens einer begründeten Einzelfallentschei-
dung nicht im Wege. Dabei sind aber auch die Kosten und Risiken einer langfristigen Medikalisierung zu be- denken. Bei einem Frakturrisiko unter 30 % für die näch- sten zehn Jahre kommt man schnell in den Bereich eines ungünstigen Kosten-Nutzen-Risikoverhältnisses. Im Zweifelsfalle kann man durchaus unter engmaschiger Beobachtung den weiteren Verlauf abwarten und Basis- maßnahmen intensivieren. Eine demnächst erscheinende Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) zur postmenopausalen Hor- montherapie wird auch die Validität der von Hörr zitier- ten Leitlinien und Empfehlungen bewerten.
Zu Schneider: Da fast alle großen Therapiestudien auf der Basis von DXA-Messwerten durchgeführt wur- den und nur wenige Daten zu Therapieeffekten bei an- deren Messverfahren vorliegen, können die evidenzba- sierten Empfehlungen nur mit den DXA-Werten verse- hen werden. Theoretische Überlegungen helfen hier we- nig weiter. Im Einzelfall, zum Beispiel bei ungeklärter Frakturneigung, kann man den Einsatz anderer Messverfahren allerdings durchaus rechtfertigen.
DOI: 10.3238/arztebl.2009.0040
LITERATUR
1. Becker A, Niebling W, Chenot JF, Kochen MM: Degam-Leitlinie Kreuzschmerzen. 2006 Omikron publishing Düsseldorf.
http://www.degam.de/leitlinien/LL_Kreuz_Internet_druck.pdf
Prof. Dr. med. Klaus M. Peters Rhein-Sieg-Klinik
Höhenstraße 30 51588 Nümbrecht E-Mail: kpeters@dbkg.de
Interessenkonflikt
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.