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Archiv "Zeitgeschichte: Kollegenvertreibung und spätes Gedenken" (13.11.2009)

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A 2294 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 46

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13. November 2009

ZEITGESCHICHTE

Kollegenvertreibung und spätes Gedenken

Die KV Berlin schließt ihr Forschungsprojekt über die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus ab.

M

it einer wissenschaftlichen Untersuchung über die Ber- liner Kassenärztliche Vereinigung in der NS-Zeit und einem voluminösen Gedenkbuch schließt die KV Berlin ein einzigartiges Forschungsprojekt ab. Die Ergebnisse wurden am 29.

Oktober von Dr. med. Angelika Prehn als KV-Vorsitzender und den Initiatoren des Projekts, Dr. med. Ro- man Skoblo und Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, sowie der wis- senschaftlichen Leiterin, Dr. Rebecca Schwoch, der Presse vorgestellt und am 3. November in einer bewegen- den Gedenkveranstaltung im Hause der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin gewürdigt. Zu den gut 200 Teilnehmern zählten auch Angehöri- ge der Opfer, Vertreter der jüdischen Gemeinde und die frühere Bundes- gesundheitsministerin Ulla Schmidt sowie zahlreiche Medizinhistoriker, dar unter Prof. Dr. Johanna Bleker, Berlin, die vor 20 Jahren eine Artikel- serie des Deutschen Ärzteblattes über die Medizin im Dritten Reich be- treute, in der Prof. Werner Friedrich Kümmel, Mainz, auch die Ausschal- tung jüdischer Kollegen behandelte.

Heutige Forschungen gehen über solche Anfänge natürlich weit hin - aus. In der Institutionengeschichte, die jetzt Schwoch zusammen mit Dr. Judith Hahn als Ergebnis des Berliner KV-Projektes vorlegt, wer- den die verworrene Organisation der Berliner Kassenärzteschaft vor und unmittelbar nach 1933, die Mitwirkung der organisierten Ärz- teschaft bei der Ausschaltung jüdi- scher und politisch verhasster („lin- ker“) Kollegen bis zur Gründung der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands (KVD) 1935 und die Rolle der Verwaltungsstelle Berlin innerhalb dieser KVD analysiert.

In welcher Organisationsform auch

immer, die Berliner KV nahm ihre Aufgabe dienstbeflissen, aktiv, ja übereifrig wahr und nutzte als Un- tergliederung der KVD ihren Er- messensspielraum extensiv aus. Es ist das besondere Verdienst des For- schungsprojektes, am Beispiel Ber- lin erstmals das Verhältnis einer Verwaltungsstelle zur KVD genau- er untersucht zu haben.

„Behandler“ statt Ärzte

Die Berliner Untergliederung war im Sinne der Nationalsozialisten höchst effektiv: Waren 1933 noch etwa 2 000 der 3 500 Berliner Kas- senärzte jüdischer Herkunft, so wa- ren es 1937 nur noch rund 1 000 unter den dann 2 800 Berliner Kas- senärzten. 1938, als alle jüdischen Ärzte die Approbation verloren und zu „Krankenbehandlern“ her - abgestuft wurden, gab es in Berlin

nur 400 solcher „Behandler“, 1942 waren noch 178 verblieben.

Das Berliner Forschungsprojekt geht auf eine Anregung des Landes- verbandes jüdischer Ärzte und Psy- chologen und dessen Vorsitzenden, Dr. med. Roman Skoblo, zurück.

Skoblo konnte 2001 den damaligen Vorsitzenden der KV Berlin (und Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung), Dr. med. Man- fred Richter-Reichhelm, für die Idee gewinnen, den Schicksalen der jüdi- schen Kollegen nachzugehen. Ge- startet wurde nach langwierigen Vor- arbeiten 2005. Die wissenschaftliche Leitung lag bei der Medizinhisto- rikerin Dr. phil. Rebecca Schwoch (anfangs am Berliner, heute am

Hamburger Institut für Geschichte und Ethik der Medizin tätig). Insbe- sondere die Recherchen zu den Bio- grafien der jüdischen Kassenärzte er- wiesen sich als sehr aufwendig und konnten nur durch die Mithilfe vieler Mitarbeiter, die nicht allzu sehr auf Geld und Zeit blickten, bewältigt werden. Das „Gedenkbuch“, das Schwoch und ihr Team nun vorlegen, umfasst mit 2 018 Biografien zwar nicht alle vertriebenen Kassenärzte, aber doch die allermeisten. Neben den biografischen Angaben aus dem wiederaufgetauchten alten Reichs- arztregister, das mithilfe eines Mitar- beiters des Deutschen Ärzte-Verla- ges digital recherchierbar gemacht wurde, sonstigen Akten, Nachrufen und Laudationes in Zeitschriften des In- und Auslandes wurden auch die Berichte von 89 Kindern und Enkeln jener Kassenärzte verarbeitet. Die in

Eine derart große Publikumsunterstützung ist in der Forschung ganz selten.

Projektleiterin Dr. Rebecca Schwoch

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13. November 2009 A 2295 alle Welt verstreuten Nachkommen

hatten von dem Projekt erfahren und brachten ihre Erinnerungen ein.

Doch schon die nüchternen Daten sprechen für sich, etwa die Adres- sen. Die lauten zum Beispiel bei dem 1898 geborenen und 1923 ap- probierten Dr. med. Herbert Alfred Jacob bis 1942: Berlin, Alte Schön- hauser Straße 5, dann: Berlin-Mitte, Große Hamburger Straße 26 (Sam- mellager), dann Theresienstadt (102.

Alterstransport, 23. 2. 1944) und schließlich: Auschwitz (15. 5. 1944).

Finanziert wurde das For- schungsvorhaben durch Zuwendun- gen der Kassenärztlichen Bundes- vereinigung, der Bundesärztekam- mer, des Deutschen Ärzte-Verlages/

Deutschen Ärzteblattes und nicht zuletzt durch Spenden von mehr als 500 Ärzten, zumeist aus Berlin, aber auch von auswärts. Diese Ärz- tinnen und Ärzte brachten die er- staunliche Summe von 80 000 Euro auf. Eine derart große Publikums- unterstützung sei in der Forschung ganz selten, bemerkt Schwoch. Der Hamburger Medizinhistoriker Prof.

Dr. Heinz-Peter Schmiedebach spricht von einer ungewöhnlichen Finanzierung, „die aber auch das Projekt bekannt gemacht hat“.

Die KV Berlin unterstützte die Arbeiten ideell, personell und orga- nisatorisch. Im Foyer ihres Verwal- tungsgebäudes in der Masurenallee 6 A hat sie ein ungewöhnliches Ge- denkbuch installiert, bei dem die Namen der 2 018 Ärztinnen und Ärzte als leuchtende Laufschrift auf

die Fensterfront projiziert werden.

Das Bundesgesundheitsministeri- um steuerte einen Druckkostenzu- schuss für die beiden Buchveröf- fentlichungen bei. Auch persönlich hätten sich Ulla Schmidt, die bishe- rige Ministerin, und ihr Staatssekre- tär Dr. Klaus Theo Schröder stets für das Projekt verwandt, würdigten Prehn und Richter-Reichhelm.

Dankbar für die Initiative Schmidt bemängelte in ihrer Gruß- ansprache einmal mehr, dass die Vertreibung jüdischer Ärzte lange verschwiegen worden sei. Umso

dankbarer müsse man für die Initia- tive der KV Berlin sein. Jede Insti- tution, versicherte Projektleiterin Schwoch, die ihrer Vergangenheit nicht ausweiche, könne an morali- scher Legitimation nur gewinnen.

Schmiedebach bescheinigte For- schungen wie dem Berliner Unter- fangen, sowohl wissenschaftlichen als auch moralischen Erwartungen gerecht zu werden.

Sie kommen zudem einem ganz persönlichen Bedürfnis nach: Die jüdischen Gäste der Gedenkfeier am 3. November kamen immer wieder darauf zu sprechen, wie wichtig es sei, den Opfern ihre Na- men zurückzugeben, wie mit dem Gedenkbuch geschehen. Skoblo schloss denn auch mit der Feststel- lung, „dass mit dem heutigen Tage unseren Kollegen, derer wir hier gedenken, eine letzte Ungerechtig- keit nicht widerfahren wird – näm- lich die des Vergessens“. ■ Norbert Jachertz Etwa zeitgleich zu dem Gedenkbuch über die Ber-

liner jüdischen Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus sind drei weitere sorgfältig recherchierte Bücher erschienen, die sich aus re- gionaler Perspektive mit dem Schicksal jüdischer Ärzte im Nationalsozialismus befassen.

In Bayern war es die Kassenärztliche Vereinigung, in Hamburg die Ärztekammer und in Baden-Würt- temberg die Bezirksärztekammer Nordwürttem- berg, die die jeweiligen Forschungsprojekte finan- ziell unterstützten und so zu ihrer Realisierung beitrugen.

„Mit aller Kraft verdrängt. Entrechtung und Verfolgung ,nicht arischer’ Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945“ lautet der Titel zu der von An- na von Villiez vorgelegten Untersuchung (Döl- ling und Galitz Verlag 2009, broschiert, 24,90 Euro). Über ein Viertel der Hamburger Ärzte- schaft – 432 Ärztinnen und Ärzte – wurde in den Jahren nach 1933 in die Emigration ge-

zwungen oder wurde in den Vernichtungsla- gern im Osten umgebracht.

Gegenstand der Untersuchung von Susanne Rueß sind „Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus“ (Königshausen & Neu- mann, broschiert, 49,80 Euro). Jüdische Medi- ziner gab es zwar in Stuttgart weniger als in Berlin oder Hamburg; dies bietet der Autorin in dieser Dissertationsschrift aber die Gelegenheit, die einzelnen Lebenswege der 86 jüdischen Ärztinnen und Ärzten detaillierter zu verfolgen.

Ebenfalls im Buchhandel erhältlich ist die von Linda Lucia Damskis als Magisterarbeit vor- gelegte Untersuchung über das Schicksal ins- besondere der bayerischen jüdischen Ärztin- nen und Ärzte im Nationalsozialismus: „Zer- rissene Biographien – jüdische Ärzte zwi- schen nationalsozialistischer Verfolgung, Emi- gration und Wiedergutmachung (Allitera-Ver-

lag, 14,90 Euro). TG

ERINNERN AN ANDEREN ORTEN

Ulla Schmidt, Ex-Bundesgesundheitsministerin, nahm persönlich Anteil an dem Projekt. Ne- ben ihr (v.l.n.r.) stehen Roman Skoblo, Angelika Prehn und Manfred Richter-Reichhelm.

Fotos: Reinhold Schlitt

Schwoch, Rebecca (Hrsg.): Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im National - sozialismus. Ein Gedenkbuch. Hentrich & Hen- trich, Berlin 2009, 973 Seiten, 38 Euro

Hahn, Judith, Schwoch, Rebecca: Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassen - ärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus.

Hentrich & Hentrich, Berlin 2009, 227 Seiten, 19,80 Euro

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