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Archiv "Stiefkind Präventiv-Medizin: Vorbeugung nicht utopisch" (27.09.1979)

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Präventiv-Medizin

Was ist denn überhaupt mäßig? Will man erst durch monströse wissen- schaftliche Forschungen eine Tole- ranzgrenze suchen, und da man ei- ne solche nicht finden kann, weil es keine gibt, sie durch Gesetz festle- gen, dann haben Alkohol und Tabak längst ihre Schuldigkeit getan, wir brauchen dann die Toleranzgrenze nicht mehr.

Es gilt vor allem, die beiden folgen- den Grundfragen zu beantworten:

1. Will der Staat, die Öffentlichkeit, die Gesellschaft überhaupt etwas unternehmen oder nur Scheinge- fechte liefern? Bisher sieht es da wenig ermutigend aus. Pflicht ist be- kanntlich, was der andere tun soll.

2. Kann der Staat, die Gesellschaft überhaupt etwas tun? Da sieht es nun bös aus. Ich habe einmal in mei- nen Volkshochschulkursen zusam- men mit meinen Hörern auszurech- nen versucht, wie viele Einwohner unseres Staates mit dem Alkohol- und Tabakgewerbe direkt oder indi- rekt liiert und daran interessiert sind. Also Fabrik-, Brauerei-, Bren- nerei-, Verkaufsladenbesitzer oder Pächter aller Art, Gastwirte vom Kiosk über die Kneipe zum Grand- hotel, deren Zulieferer wie Handwer- ker, Bäcker, Fleischer, Landwirte, Fabriken für Einrichtung, Fässer, Flaschen, Tanks usw., alle Wein- bauern, Malz- und Hopfenbauern, Bauern-Schnapsbrenner, deren An- gestellte, Aktionäre, Gesellschafter, Banken usw. und dazu noch sämtli- che Angehörigen und Abhängigen dieser Kategorien. Zu all diesen kommt noch die Zahl der aus ideolo- gischen Gründen unbedingt an ih- ren Gewohnheiten Festhaltenden.

Wir kamen zu keiner brauchbaren Zahl. Aber es ist sehr wahrschein- lich, daß weit mehr als die Hälfte der Einwohner, sicher der Stimmbe- rechtigten zu den am Weiterbeste- hen des jetzigen Zustandes Interes- sierten gehört.

Es bestünde daher keine Aussicht, auch nur das kleinste Gesetz in Richtung Prohibition durchzubrin- gen. Schon gar nicht die Durchfüh- rung eines solchen Gesetzes, die

schon in den USA infolge der maßlo- sen Bestechlichkeit aller Beteiligten unmöglich war ...

Aus dem allem ist ersichtlich, daß der Staat, die Regierung oder die Volksvertretung schon aus parla- mentarischen und Verfassungs- gründen entsprechende einschnei- dende Maßnahmen nicht durchfüh- ren kann. Aber selbst wenn sie es aus gesetzgeberischer Sicht könnte, so könnte sie es trotzdem nicht aus wirtschaftlichen und wirtschaftspo- litischen Gründen ...

Demnach würde der Staat vor der Alternative stehen: entweder Ge- sundheit kaputt oder Wirtschaft ka- putt. Es ist also ungefähr dasselbe wie bei der Kernreaktorschlacht. Es gibt nämlich gar keine Alternative.

Zwar ist nach Schopenhauer Ge- sundheit nicht alles. Aber ohne Ge- sundheit ist alles nichts, auch die Wirtschaft.

... Die Bundeswehr, oft die Schule der Nation genannt, zu einer wirkli- chen Schule der Nation gerade auch in dieser Beziehung zu machen müßte bei gutem Willen wohl mög- lich sein.

Hier könnte einerseits durch wirk- lich geeignete Gesundheitserzieher und andererseits durch gesetzliche Maßnahmen eine totale Enthaltsam- keit durchgesetzt werden, was ja auch schon aus militärischen Grün- den äußerst wichtig wäre. Jeder or- dentliche Bundeswehrangehörige wäre dann eine wichtige Keimzelle.

Zu schön, um wahr zu sein.

Ganz ohne Zwang geht dies natür- lich nicht. Und da ist wieder die Frei- heit des Grundgesetzes! Und woher sollte man die vielen geeigneten Ge- sundheitserzieher nehmen, die ja al- le Idealisten und Vorbilder sein müßten ...

Mancher dürfte sich auch fragen, ob es sinnvoll und überhaupt zumutbar ist, auf die angestammten Genüsse zu verzichten, wenn man täglich und stündlich mit der Möglichkeit rech- nen muß, entweder dem Verkehrs- mord zum Opfer zu fallen oder von

herabfallenden Flugzeugen oder Sa- telliten erschlagen zu werden, oder anstelle von Raucherkrebs am Strahlenkrebs zu sterben.

Nachdem ich dies geschrieben ha- be, lese ich in der Zeitung: „Prost!

Wein schützt vor Herzinfarkt. Regel- mäßiges Weintrinken kann den Herzinfarkt verhüten. Zu diesem Er- gebnis kam der Britische Medizini- sche Forschungsrat" usw.

Schade, daß es nicht wenigstens der deutsche Forschungsrat geschafft hat. So wird jeder Anlauf zu einer vernünftigen Gesundheitserziehung geradezu sabotiert.

Dr. med. Rudolf Reichert 7821 Höchenschwand- Oberweschnegg

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Vorbeugung nicht utopisch

Ohne Zweifel liegt die Zukunft der Medizin in der Prophylaxe; denn die so häufig gewordenen Zivilisations- krankheiten lassen sich wirksam nur durch Verhütung bekämpfen. Doch hier ist die Medizin nicht allein ge- fordert. Was nützen die besten me- dizinischen Forschungsergebnisse, wenn keine praktischen Folgerun- gen daraus gezogen werden?

Es ist z. B. längst erwiesen, daß Lun- genkrebs und andere Krankheiten vom Zigarettenrauchen kommen;

doch sind die Maßnahmen gegen das Rauchen wirksam genug?

Sicherlich ist es schwer, eingefahre- ne Lebensgewohnheiten der Bevöl- kerung zu ändern. In der Verhütung des Übergewichts sind zwar gewisse Erfolge bei jüngeren Frauen zu er- zielen, weil hier das Schönheitsideal als Bundesgenosse der Ärzte auf- tritt, in der Regel aber wird jemand, der körperlich arbeiten muß, nur schwer zum Fasten zu überreden sein; denn Essen ist ja lebensnot- wendig.

2510 Heft 39 vom 27. September 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Wieviel einfacher müßte doch dem- gegenüber die Gesundheitserzie- hung bezüglich des Rauchens sein!

Zunächst einmal ist Rauchen nicht lebensnotwendig; im Gegenteil, Rauchen ist absolut gesundheits- schädlich, auch in kleinen Dosen.

Weiterhin ist nur ein Teil der Bevöl- kerung vom Nikotin abhängig. Man könnte also die Nichtraucher, die ja oft vom Zigarettenrauch belästigt werden, als Bundesgenossen ge- winnen. Wird diese Chance genutzt?

Man muß diese Frage verneinen, wenn man sieht, wie die vielerorts entstehenden aktiven Nichtraucher- gruppen mit großem Idealismus und viel Opfer an Freizeit ohne genügen- de finanzielle Unterstützung gegen eine überall sichtbare Zigarettenre- klame ankämpfen müssen. Gegen ein Verbot dieser Reklame werden immer wieder marktwirtschaftliche Bedenken ins Feld geführt.

Darf es aber für solche Volksgifte wie Nikotin überhaupt dieselbe Frei- heit des Marktes geben wie für an- dere Wi rtschaftsg üter?

Können wir so liberal sein, daß wir es jedem überlassen, sich nach Be- lieben krank zu machen?

Warum sind denn Haschisch und andere Rauschmittel verboten?

Unsere Gesellschaft ist nicht über- wiegend liberal, sondern sozial; denn die Allgemeinheit muß für die Schäden aufkommen. ·

Die Vorschläge von Prof. F. Schmidt sollten ernsthaft diskutiert werden. Ein "Rehabilitationszuschlag" (viel- leicht besser "Gesundheitszu- schlag") ist z. B. durchaus realisier- bar, da Tabak und Alkohol vom Zoll erfaßt werden. Auch erscheint mir die Abwertung des Rauchans als Drogenkonsum nicht so utopisch wie beispielsweise das Bestreben, alle Bürger durch energiegerechte Ernährung auf Normalgewicht zu bringen.

Medizinaldirektor Dr. med. H. Dannenberg Georg-Büchner-Straße 34 6500 Mainz 42

Krisenähnliche Situation

Mit Ihrer Arbeit im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT Heft 17 vom 26. 4.

1979 sprechen Sie mir direkt aus dem Herzen. Es ist wirklich an der Zeit, die Stimme zu erheben. Die Vernachlässigung der präventiven Medizin in der jüngeren Vergangen- heit hat eine krisenähnliche Situa- tion herbeigeführt, und das nicht nur bei uns. Es ist allmählich offen- kundig, daß der gesellschaftliche Aufwand für die Gesundheit in kei- nem rechten Verhältnis mehr zum Ergebnis steht. Wo bleiben die ent- sprechenden Steigerungen an Ge- sundheit, Leistungsfähigkeit und Lebenserwartung in den breiten Be- völkerungsschichten? Zehren wir nicht noch von den Früchten der präventiven Arbeit unserer Väter, die uns mit antiepidemischen und hy- gienischen Maßnahmen einen Vor- schuß gaben, der bis heute vorhielt?

Unter diesem Gesichtspunkt sollten wir weiterdenken und die Prioritäten der Zukunft setzen: Die kurative Me- dizin nur durch den präventiven Be- reich ergänzen? Man treibt Nicht- schwimmer ins tiefe Wasser, und wir stehen mit Rettungsringen daneben (Optimum: Pro Person ein Retter und ein Rettungsring). Die Fragwür- digkeit ist mir bewußt, wie wohl alle Verg Ieiche schlechthin.

Welche Erwägungen mögen wohl die Krankenkassen veranlassen, den Menschen wichtige Schutzimpfun- gen zu verwehren, oder wie soll man verstehen, daß die Kosten von Ma- sern-, Mumps- oder Tetanusimp- fungen grundsätzlich nicht erstattet werden? (Die Diskussionen über die eventuelle Fragwürdigkeit dieser im- munprophylaktischen Maßnahmen sind doch wohl als abgeschlossen anzusehen.)

..,. Wie viele Kinderzähne sollen noch verfaulen während der zähflüs- sigen philosophischen Auseinan- dersetzungen über die Trinkwas- serfluoridierung (Kariesreduktion 70%)?

..,. Warum wirkt die Medizin nur un- zureichend mit bei der gesundheits- gerechten Gestaltung der Kinder-

Spektrum der Woche Aufsätze ·Notizen Präventiv-Medizin

garten- und Schulverpflegung, bei der Gemeinschaftsverpflegung in den Betrieben, bei der Siedlungspla- nung, Freizeitgestaltung und ande- ren hygienischen Fragestellungen?

·Ich möchte Ihre Forderungen um einige weitere ergänzen:

1. Übernahme der Kosten für weite- re Schutzimpfungen (Masern, Mumps, Röteln, Tetanus und ande- re) durch die Krankenkassen bzw.

Berufsgenossenschaften;

2. Rasche Einführung derTrinkwas- serfluoridierung;

3. Umfassendere Berücksichtigung der gesundheitlichen Gesichtspunk- te bei der Gemeinschaftsverpfle- gung, der Siedlungsplanung, Frei- zeitgestaltung ·und anderen hygieni- schen Fragen unseres Lebens in der medizinischen Forschung und Praxis;

4. Zusätzliches Praktikumsangebot im öffentlichen Gesundheitsdienst bei möglicher Einführung des prak- tischen Jahres für Medizinstudiums- bewerber.

D

Dr. Dietrich Borris Schwarzenbergstraße 4 8070 lngolstadt

Die bösen Zeichen der Zeit erkannt

Wer als junger Mediziner die Gedan- ken und Forderungen von Professor Dr. Schmidt im DEUTSCHEN ÄRZ- TEBLATI liest, müßte begeistert sein. Hier wirkt ein Mediziner, der wie selten einer die bösen Zeichen der Zeit erkannt hat und mit einer selbst für Ärzte ungewöhnlichen Klarheit das notwendigerweise zu Tuende weiß und fordert. Eine Mas- sierung von Grundwahrheiten, die alles andere als banal klingen. Hier wird eine Fahne aufgerichtet, hinter die auch der schon weißhaarige Me- dicus sich mit Einsatzbereitschaft stellen kann. Die Überlegungen Pro-

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 39 vom 27. September 1979 2511

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