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Archiv "Psychiatrie – Zwangseinweisungen nehmen zu: Keine sachliche Diskussion" (21.01.2005)

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 3⏐⏐21. Januar 2005 AA121

ment für die Stärkung des Faches So- zialmedizin auch an den Hochschulen und Universitäten sein. Die Sozialversi- cherungsmedizin als ein Zweig der So- zialmedizin braucht ebenso wie die ku- rative Medizin eine wissenschaftliche Orientierung und eine entsprechende Einbindung des Faches in die studenti- sche Ausbildung und ärztliche Weiter- und Fortbildung.

Die bei den Sozialversicherungsträ- gern tätigen Ärztinnen und Ärzte könnten als regionale kompetente An- sprechpartner für alle Fragen der prak- tischen Sozialmedizin fungieren und dabei eng mit den niedergelassenen Ärzten und den Krankenhausärzten zu- sammenarbeiten einschließlich der Ak- quirierung und fachlichen Betreuung externer ärztlicher Gutachter.

Gerade in Zeiten knapper finanziel- ler Ressourcen ist eine rechtzeitige so- zialmedizinische Weichenstellung be- sonders wichtig. Diese sollte beim Hausarzt als „Lotse“ beginnen und führt über die Sozialversicherungsme- dizin als sozialmedizinischen „Gatekee- per“ zu den notwendigen sozialen Kompensationsmöglichkeiten in Form von Sozialversicherungsleistungen.

Mithin besteht auch künftig ein hoher Bedarf an einer unabhängigen und ob- jektiven sozialmedizinischen Bera- tungs- und Begutachtungskompetenz.

Nur sie sichert die berechtigten An- sprüche sowohl des Einzelnen als auch die Interessen der Solidargemeinschaft.

Dem Anspruch der Bevölkerung auf eine anbieterunabhängige fachliche so- zialmedizinische Beratung und Begut- achtung muss die Politik, gerade auch unter dem Aspekt des Verbraucher- schutzes, Rechnung tragen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2005; 102: A 119–121 [Heft 3]

Anschrift für die Verfasser:

Dr. med. Ina Ueberschär

Berufsverband der Sozialversicherungsärzte Deutschlands e.V.

c/o Abteilung Sozialmedizin der Landesversicherungs- anstalt Sachsen

Georg-Schumann-Straße 146, 04159 Leipzig E-Mail: Ina.Ueberschaer@lva-sachsen.de

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literatur- verzeichnis, das beim Verfasser erhältlich oder im Internet unter www.aerzteblatt.de/lit0305 abrufbar ist.

Keine sachliche Diskussion

Der Bericht belegt die laut Titelblatt behauptete „drastische Zunahme“ von Zwangseinweisungen nicht mit konkre- ten Zahlen. Die zitierten Auswertungen aus Gerichtsakten (Müller, 2003) lassen methodisch viele Fragen offen und stim- men nicht mit der dem Autor bekannten Datenlage vor Ort überein: Tatsächlich ist die Zahl der Zwangseinweisungen dieser Region weitgehend konstant und lag am Landeskrankenhaus Göttingen von 1990 bis 2000 nach Betreuungs- recht und Landesunterbringungsrecht (NPsychKG) zusammengenommen um 423 (range 344 bis 471) bzw. umge- rechnet 73 (59 bis 81) pro 100 000 Ein- wohner. Davon erfolgten 28 % (20 % bis 36 %) betreuungsrechtlich. Demge- genüber ist der prozentuale Anteil frei- williger Aufnahmen von 72 % auf 91 % der Fälle gestiegen. Auch am Landes- krankenhaus Wunstorf stiegen die Ra- ten 1990 bis 2000 zusammengefasst nur um den Faktor 1,4 an (von 85 auf 122).

Dabei behandeln beide Krankenhäuser viele demenzkranke Patienten und ver- zeichnen einen hohen Anteil betreu- ungsrechtlicher Beschlüsse. Ähnliche Befunde ergeben sich mit regionalen Unterschieden parallel an allen nie- dersächsischen Landeskrankenhäusern:

Von 1995 bis 2002 blieben alle Zwangs- einweisungen zusammen konstant, hin- gegen stieg der Anteil freiwilliger Auf- nahmen an rund 35 000 Fällen von 75 auf 82 Prozent. Niedersachsen mit sei- nen traditionell hohen Unterbringungs- raten kann im Verlauf als repräsen- tativ für die alten Bundesländer gel- ten, trotz erheblicher Unterschiede zwi-

schen Flächenländern und Stadtstaaten.

Rechtlich-administrative Veränderun- gen führen eher zu höheren Anwen- dungsraten. Diese aber beschreiben nicht allein den tatsächlichen Zwang, sondern auch dessen formalrechtliche Erfassung. So steigen die Raten in den neuen Ländern noch an. Niedrige Raten allein belegen noch kein geringes Aus- maß an Zwang, entscheidend sind the- rapeutische Gestaltung und rechtlich klare Handhabung. Müllers Behaup- tung eines „dramatischen Anstiegs“ der Zwangseinweisungen geht in dieser Form an der Realität vorbei. Seine Kri- tik an einer reinen Sicherheitsorientie- rung und an Rechtsänderungen, die „an Regelungen totalitärer Staaten“ erin- nern, ist völlig überzogen und zeigt, dass es dem Autor nicht vorrangig um eine sachliche Diskussion geht. Sein Beitrag ist in dieser Form nicht nur unzurei- chend empirisch abgesichert, sondern polemisch und für die Öffentlichkeit verunsichernd.

Literatur beim Verfasser Dr. med. Manfred Koller

Niedersächsisches Landeskrankenhaus Göttingen Rosdorfer Weg 70, 37081 Göttingen

Prof. Dr. med. A. Spengler

Niedersächsisches Landeskrankenhaus Wunstorf Südstraße 25, 31515 Wunstorf

Gutachten notwendig

Ein ganz wesentlicher Punkt ist vom Autor nicht ausreichend dargestellt wor- den. Unmittelbar nach einer Zwangs- einweisung haben wir als Klinik- psychiater uns gutachterlich zur Not- wendigkeit einer freiheitsentziehenden Maßnahme zu äußern. Von unseren Gutachten hängt es ab, ob aus einer Zwangseinweisung auch ein weiterer Aufenthalt gegen den Willen des Pati- enten wird. In einer Vielzahl von Fällen entfällt die weitere Unterbrin- gung, da die Patienten freiwillig blei- ben (insbesondere beim Konzept der Durchmischung und der offenen Tür).

Auf diese Weise kann, verantwortliches Handeln vorausgesetzt, die Häufigkeit der freiheitsentziehenden Maßnahmen gar nicht steigen, selbst wenn die so ge- nannten Zwangseinweisungen zunäh- men. Im Falle unserer Klinik ist im zu dem Beitrag

Psychiatrie

Zwangseinweisungen nehmen zu

von

Prof. Dr. med. Peter Müller in Heft 42/2004

DISKUSSION

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Übrigen weder ein Anstieg der Zwangs- einweisungen noch der weiteren Be- handlung unter Freiheitsentziehung zu verzeichnen.

Unverständlich ist der Seitenhieb ge- gen die offene Psychiatrie. Diese kann mithilfe eines elaborierten Behand- lungs- und Betreuungskonzeptes sehr wohl (und mit einer geringeren Quote an Unterbringungen) diese Klientel auf hohem fachlichen und menschlichen Niveau behandeln. Das klingt nicht nur gut, das ist auch gut.

Dr. med. R. Thissen

Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am St.-Nikolaus-Hospital, 66798 Wallerfangen/Saar

Voreilige Schlussfolgerungen

. . . Die Schlussfolgerungen, die Prof.

Müller zieht – zunehmende Beschrän- kungen der individuellen Freiheits- rechte und Rechtsänderungen, die an Regelungen totalitärer Staaten erin- nern –, erscheinen mir jedoch vorei- lig. Der Autor diskutiert eine Vielzahl von sehr unterschiedlichen Gründen wie Vergütungsrahmen im ambulan- ten Bereich, Risikobereitschaft, Zeit- geist und Gesetzesänderungen und schnürt daraus ein gemeinsames Paket mit den genannten Schlussfolgerun- gen. Tatsächlich weisen die Daten je- doch die typischen Probleme der beob- achtenden Epidemiologie und einige weitere mehr auf: Wir wissen bisher wenig über regionale Ungleichheiten sowie deren Gründe und Auswirkun- gen, der Einfluss der zweifellos sehr zahlreichen möglichen konfundieren- den Variablen auf die untersuchte Ziel- größe (Zwangseinweisungsrate) ist nicht untersucht. Nicht alle Argumente des Autors sind unbedingt schlüssig. Es sei unbestritten, dass manche Einweisun- gen mit intensiver ambulanter und engmaschiger Betreuung vermieden werden könnten. Es ist jedoch nicht oh- ne weiteres ersichtlich, warum daraus Zwangseinweisungen resultieren sol- len.Was die Rechtsprechung anbetrifft, wird im europäischen Rahmen eher ei- ne gegenläufige Tendenz beobachtet und von Psychiatern mit Sorge kom- mentiert: Die unfreiwillige Einweisung wird zunehmend rechtlich getrennt von

der (Zwangs-)Behandlung, mit der Fol- ge, dass Patienten in Krankenhäusern untergebracht werden, die dort aber nicht behandelt werden dürfen. Der Er- wähnung wert ist auch, dass eine in den USA durchgeführte randomisierte kon- trollierte Studie über die in dem Artikel ebenfalls kritisch angesprochene ambu- lante Zwangsbehandlung (North-Caro- lina-Studie) Hinweise dafür brachte, dass die Lebensqualität bei Durch- führung einer ambulanten Zwangsbe- handlung eher steigt. Üblicherweise pflegt man bei einer epidemiologischen Datenlage wie der hier vorliegenden zu schließen, dass weitere Klärung nur durch randomisierte kontrollierte Studi- en zu erlangen sei. Dies ist in diesem Fall aus ethischen und rechtlichen Gründen nicht möglich. Trotzdem sind weitere empirische Daten sicher erforderlich.

Um zu klareren Schlussfolgerungen hin- sichtlich der gestiegenen Unterbrin- gungsraten zu gelangen, bedarf es

Œweiterer flächendeckender epide- miologischer Daten,

einer kritischen Evaluation der je- weiligen Indikation der Zwangseinwei- sung (nur wenn sich die Indikationsstel- lung tatsächlich geändert hat, ist die Hy- pothese des Autors zutreffend!),

Žmultivariater Analysen künftiger epidemiologischer Daten.

Literatur beim Verfasser

Prof. Dr. med. Tilman Steinert

Zentrum für Psychiatrie Weissenau, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm, 88214 Ravensburg-Weissenau

Erforderliche Sorgfalt

Zum Verständnis der Darlegung ist es notwendig, die Entwicklung der durch- schnittlichen Verweildauer und des An- teils wiederholter Einweisungen des gleichen Personenkreises mitzuteilen.

. . . Allerdings müsste den im Artikel wohl unter dem Allgemeinbegriff „Ver- sorgungsstruktur“ gefassten behördli- chen Aktivitäten besondere Aufmerk- samkeit gewidmet werden, etwa durch den Häufigkeitsvergleich zwischen ver- schiedenen Amtsbezirken. Folgendes Beispiel aus Niedersachsen verdeutlicht die Problematik: Eine Patientin mit jahr- zehntelang bekannter Wahnerkrankung, familiär und nachbarschaftlich stabil ein- gebunden, in fach- wie hausärztlicher Betreuung, wird wegen eines (nicht krankheitsbedingten) Armbruches in der nahe gelegenen Klinik aufgenom- men. Dabei wird auf die von ihr erteil- te umfassende Vorsorgevollmacht wie auch die durch das Schmerzereignis bedingte Exazerbation der bekannten Wahnerkrankung hingewiesen. Wenige Tage später flattert dem erstaunten Ehe- mann ein Schreiben der städtischen „Be- treuungsstelle“ ins Haus, in dem katego- risch festgestellt wird, seine Frau sei un- ter Betreuung zu stellen und er selbst als Betreuer vorzuschlagen. Ferner erhält er die saftige Rechnung eines Kranken- hauspsychologen für ein ohne Kontakt mit behandelnden Ärzten oder An- gehörigen sowie unter Bruch der Schweigepflicht der Behörde zugeleite- tes Gutachten. Dieses dürfe er zwar bezahlen, keineswegs aber einsehen. Auf die sub- stanziierte Mitteilung des Fehlens aller Anordnungs- gründe reagiert die Behörde auffällig rechts- und fakten- resistent und teilt mit, die Be- treuung sei erforderlich, da- mit die Patientin umgehend in eine psychiatrische Klinik zwangseingewiesen werde.

Dies ergebe sich aus bewuss- tem Gutachten, das dem Ehe- mann jedoch – trotz seiner umfassenden Vorsorgevoll- machten – nicht bekannt ge- geben werde, ehe er nicht als Betreuer installiert wäre. Der Mann wird hellhörig und ver- T H E M E N D E R Z E I T

A

A122 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 3⏐⏐21. Januar 2005

Prof. Dr. med. Peter Müller vertrat die Auffassung, dass die Zahl unfreiwilliger Krankenhauseinweisungen psychisch Kranker deutlich zugenommen hat (DÄ, Heft 42/2004).

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weigert seine Mitwirkung. Die Behörde beantragt beim Amtsgericht die Ent- mündigung der Patientin; das Gericht stellt das Verfahren als offenbar unbe- gründet ein. Handelt es sich um den Ein- zelfall einer hyperaktiven Behörde, oder steckt Methode dahinter? Anders als der privat unentgeltlich tätige Auftragneh- mer dürfte ein Betreuer für die so ge- nannte „erforderliche“ Sorgfalt haften.

Die hier vorzugsweise eingesetzten An- gehörigen sind aber regelmäßig gar nicht in der Lage zu beurteilen, was konkret „erforderlich“ sein mag. Wenn Behörden also flächendeckend An- gehörige in Betreuerstellungen drän- gen und sodann schlankerhand zur Zwangseinweisung der Betreuten auf- fordern, bekommen diese ein Problem:

Weigern sie sich, dem unbegründeten Ansinnen Folge zu leisten, und „pas- siert“ dann etwas, kann dies als An- scheinsbeweis dafür gewertet werden, die Zwangseinweisung sei eben doch

„erforderlich“ gewesen. Im Falle etwa einer folgenreichen Selbstbeschädigung des Betreuten dürfte der Betreuer dann schrankenlos haften, etwa im Regress der zahlungspflichtigen Sozialkassen.

Dr. med. Stefan F. J. Langer Guineastraße 14, 13351 Berlin

Offene Fragen

Der Artikel zeigt mögliche Hintergrün- de in kritischer Weise auf, lässt aller- dings den Eindruck entstehen, dass die Zunahme der Klinikaufnahmen im Rah- men der gerichtlichen Genehmigungen völlig ohne positive Konsequenzen bleibt. – Interessant wären auch Details zur Zeitdauer der „Unterbringungen“;

sind die Behandlungzeiten im Rahmen der „Zwangseinweisungen“ gleich ge- blieben, länger oder kürzer im Durch- schnitt? Gibt es Veränderungen der Auf- nahmezahlen in anderen Bereichen:

beispielsweise in „nicht-psychiatrischen Abteilungen“ nach Haus- und Ver- kehrsunfällen demenzerkrankter Pati- entinnen, nach suizidalem Verhalten, mit deliranter Symptomatik . . . oder im polizeilichen Gewahrsam?

Walter Endrikat Hofholzallee 66, 24109 Kiel

Vorsorgevollmacht notwendig

Als Psychiaterin,die selbst ein halbes Dut- zend Mal von psychiatrischen Zwangs- maßnahmen betroffen war, möchte ich Ihnen und dem DÄ ausdrücklich da- für danken, dass Sie sich des Themas, das meiner Erfahrung nach in Fach- kreisen häufig tabuisiert und viel zu sel- ten diskutiert wird, angenommen und dazu noch ein eindringliches Titelbild gestaltet haben. Ich möchte allerdings ergänzen, dass nicht nur die Ursachen diskutiert werden müssen, sondern auch ein Nachdenken über die Folgen begin- nen sollte. Gern wird von Psychiaterin- nen und Psychiatern (auch mir selbst, bevor hautnahe Erfahrung einen Pro- zess des Umdenkens einleitete) be- lächelt, wenn Psychiatrieerfahrene auf die traumatisierende Wirkung solch ei- ner Gewalterfahrung hinweisen. Ohne im Rahmen eines Leserbriefes näher darauf eingehen zu können, möchte ich die These aufstellen, dass durch Zwang bei psychisch kranken Menschen manch ein Chronifizierungsprozess eingeleitet und gefördert wird. Forschung zur Frage der psychischen Folgen von Zwangs- maßnahmen tut Not.

Die Schwelle für Zwangseinweisun- gen sinkt meiner Meinung nach auch bei den beteiligten Ärzten immer mehr, zum einen durch den von Ihnen beschriebe- nen Zeitdruck, zum anderen durch die beruhigende Überzeugung, ja nur zum Wohle der Betroffenen zu handeln. Dies spiegelt sich in den häufig sehr nachlässi- gen Gefährdungsbegründungen, die mir durch meine Tätigkeit in der staatlichen Besuchskommission immer wieder be- gegnen. Oft benennen sie eben keine konkrete Gefahr, sondern leiten diese unmittelbar aus der Erkrankung ab. Da heißt es dann lapidar: „gefährdet sich durch Realitätsverlust“ oder noch deut- licher: „will sich nicht richtig behandeln lassen und gefährdet sich durch Chro- nifizierung“. Die Reihe solcher Bei- spiele ließe sich beliebig fortsetzen, Rechte von Patienten werden offenbar kaum noch wahrgenommen. Man stelle sich nur einmal vor, ähnliche Rechts- maßstäbe würden zur Behandlung häu- figer somatischer Erkrankungen heran- gezogen.

Die geplante Änderung des Betreu- ungsrechtes wird durch die vorgesehene

„Generalvertretungsmacht“ von An- gehörigen zwar sicher dazu beitragen, dass die Unterbringungszahlen sinken.

Für die Betroffenen bedeutet dies aber einen deutlich geringeren rechtlichen Schutz. In psychosozialen Krisensitua- tionen werden Arzt und Angehörige dann „unter sich“ aushandeln können, wem eine psychiatrische Diagnose zu- steht. Das „gesunde“ Familienmitglied kann dann, nach entsprechender ärztli- cher Bescheinigung, den Behandlungs- vertrag mit dem Krankenhaus in Vertre- tung abschließen.Wenn das Gesetz wirk- lich so verabschiedet wird, ist jedem psy- chisch Kranken dringend zu einer Vor- sorgevollmacht zu raten.

Ermutigt hat mich Ihr Hinweis, dass allein klinikinterne Maßnahmen schon zu einer deutlichen Reduzierung von Zwangseinweisungen führen. Ich halte es für dringend erforderlich, dass Zwangs- maßnahmen in ihrer Häufigkeit und Durchführung durch das Qualitätsma- nagement erfasst werden und dass Nut- zer und Öffentlichkeit über die Ergeb- nisse informiert werden. Dann wird es wohl nicht mehr ohne weiteres möglich sein, dass eine große Klinik über Jahre circa 20 Prozent ihrer Patienten (d. h.

mehr als 1 000 Menschen im Jahr) ohne deren Zustimmung behandelt, ohne dass dies zu verstärkten Veränderungsbe- mühungen führt.

Margret Osterfeld Kreuzstraße 28, 44139 Dortmund

Ursache nicht erkannt

Dass sich die „therapeutischen Mög- lichkeiten bei psychischen Erkrankun- gen deutlich verbessern“, Zwangsein- weisungen aber ebenso „deutlich zuge- nommen“, sich verdreifacht haben, be- merkte Prof. Müller wohl zu Recht. Nur bei der Ursache griff er deutlich dane- ben. Er sieht sie in der angeblich un- zulänglichen ambulanten Versorgung.

„Niedergelassene Ärzte sind“, schreibt er, „zu intensiver ambulanter Therapie nicht in der Lage.“ Kassenärztlich sol- len sie ihre Patienten „durchschnittlich 1,7-mal im Quartal sehen können“ und, falls darüber hinausgehend, versuchen, sie gesetzwidrig abzukassieren. Der Au- tor dieser Zuschrift weist die Behaup- T H E M E N D E R Z E I T

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tung als haltlose Schmähung zurück. So bescheiden die Vergütung psychiatri- scher Leistungen (im Vergleich zu psy- choanalytischen) ist, hat der Autor die- ser Zeilen während 35-jähriger nerven- kassenärztlicher Tätigkeit nicht einmal einem Patienten die ärztlich angemes- sene und sei es mitunter tägliche Zu- wendung vorenthalten müssen oder diese in Rechnung gestellt . . .

Dr. med. Friedrich Weinberger Maximilianstraße 6, 82319 Starnberg

Fragen

Wenn man im direkten Kontakt mit Pa- tienten arbeitet, stellt sich manches an- ders dar, und es ergeben sich Fragen:

> Welchen Einfluss hat die Verbes- serung der psychiatrischen Versorgung in der jüngeren Vergangenheit darauf, dass mancher schwer und chronisch psychisch kranke Mensch überhaupt erst „entdeckt“, behandelt und dann eben auch manchmal „zwangsbehan- delt“ wurde?

> Was bedeutet es für die Versor- gung schwer und chronisch psychisch kranker Patienten, dass niedergelasse- ne Nervenärzte „als Folge der Budge- tierung ihre Patienten durchschnittlich 1,7-mal im Quartal sehen können“ und dass sie überwiegend neurologisch oder psychotherapeutisch arbeiten?

> Welche Effekte hat der Abbau von Langzeitstationen in den psychiatri- schen Krankenhäusern, der sich ja mit der Einführung des neuen Betreuungs- rechtes überschnitt, auf die Notwendig- keit zwangsweiser Wiederaufnahmen?

> War das hohe Gut der Freiheit wirklich immer besser geschützt, als für die Unterbringung nach PsychKG die Unterschriften zweier approbierter Ärzte notwendig waren, auch wenn die- se nicht psychiatrisch erfahren sein mussten und über keine entsprechende Weiterbildung verfügten, sodass ihre

„Gutachten“ bei Fachkollegen mitun- ter für Erstaunen sorgten?

> Setzt nicht die skizzierte Alternati- ve zur Zwangseinweisung, bei der man sich „intensiv kümmern und ein Restri- siko zu tragen bereit sein“ muss, wenig- stens eine partielle, wie auch immer ge- artete Behandlungsbereitschaft voraus,

die eben nicht bei allen akut psychoti- schen Patienten vorhanden ist?

Die Würde und die Rechte der be- troffenen psychisch kranken Menschen bei Zwangsunterbringungen zu beach- ten und zu wahren ist eine Aufgabe al- ler am Verfahren Beteiligten, die mögli-

cherweise nicht immer optimal gelingt.

Uns aber – wie in dem Artikel gesche- hen – pauschal in die geistige Nähe von totalitären Staaten zu rücken ist nicht angemessen.

Dr. med. Jutta Bernick

Sozialpsychiatrischer Dienst,Wolfshof 10, 37154 Northeim Dr. med. Klaus-Peter Frentrup

Am Reinsgraben 1, 37085 Göttingen

Schlusswort

Geprügelt wird der Bote einer schlech- ten Nachricht, die man nicht schätzt.

Die Prügelmethoden: Gegenbehaup- tungen, alles sei nicht so, empirisch nicht gesichert, universitäre Weltfremd- heit, die Mitteilung verunglimpfe; und wenn sie doch stimme, sei Zwang auch gut, usw.

Ja, die Nachricht schätzen wir nicht.

Sie macht betroffen. Dem stimme ich zu, deshalb habe ich die Fakten publi- ziert. Sie müssen uns Sorge machen und nachdenklich werden lassen. Zur Sache:

Methodisch sind nach eigener Erfah- rung klinikinterne Statistiken (die Kol- ler und Spengler anführen) manchmal lückenhaft. Deshalb haben wir bezüg- lich PsychKG eine Vollerhebung bei

den Ordnungsämtern (die alle Einwei- sungsanträge bearbeiten) gemacht. Die Betreuungseinweisungen basieren auf den Akten der genannten Vormund- schaftsgerichte. Die Orte sind in den Publikationen genannt, die Daten sind damit nachprüfbar, teilweise im Inter- net abrufbar. Das ist empirisch gesichert. Herrn Koller habe ich nach unserer ersten Veröf- fentlichung 2001 vorgeschla- gen, seine anderen (und teil- weise sogar höheren) Zahlen und insbesondere seine Erhe- bungsmethoden zu publizie- ren. Er hat es nicht getan.

Zum Ergebnis: In Deutsch- land gibt es eine Zunahme von Unfreiheit, auf verschiedenen Ebenen. Und wir Psychiater wirken daran teilweise mit.

Natürlich ist Zwang manchmal unumgänglich. Der Anstieg ist das Problem. Inzwischen sind bezüglich unfreiwilliger Klinikeinwei- sungen unsere Ergebnisse durch eine Publikation bundesweiter und inter- nationaler Zahlen von Salize und Dressing bestätigt worden (Brit. J.

Psychiatry 2004, S. 163–168). Deutsch- land ist dabei neben Österreich und Finnland Spitzenreiter, mit deutlichem Anstieg.

Der Entwurf des Betreuungsrechts- änderungsgesetzes schreibt in der Be- gründung: „Die Betreuungsfallzahlen sind erheblich gestiegen. Die Kosten sind . . . explosionsartig gestiegen.“ Ne- dopil et al. protestieren mit Recht ge- gen alleinige Kostendämpfungsbemü- hungen (Nervenarzt 2004, S. 526–528).

Zum Maßregelvollzug hat Spengler selbst kürzlich im Ärzteblatt (Heft 41/2004) einen „ungebremsten Zu- wachs“ mit „Trend zum Wegschließen“

beklagt.

Bagatellisierungsversuche helfen nicht weiter. Frau Osterfeld benennt zutref- fend „Die Schwelle für Zwangsein- weisungen sinkt . . .“. Wir können nicht den Kopf in den Sand stecken, sondern müssen in unserem jeweiligen berufli- chen Feld Hintergründe sorgfältig prü- fen und überdenken.

Prof. Dr. med. Peter Müller

Universitätsklinik Psychiatrie und Psychotherapie Von-Siebold-Straße 5, 37075 Göttingen T H E M E N D E R Z E I T

A

A124 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 102⏐⏐Heft 3⏐⏐21. Januar 2005

Der an Schizophrenie erkrankte Ulrich T. malte dieses Bild „Ohne Titel“ (Katze, 1978) während eines sta- tionären Aufenthalts in der Psychiatrie.

Foto:Eberhard Hahne

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