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Archiv "Arzt und Patient im Gespräch: Wirklichkeit und Wege" (15.12.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

THEMEN DER ZEIT

"Kommunikationsstörungen und -defizite sind eines der Kernprobleme der heutigen Medizin"

Daß Arzt und Patient miteinander sprechen, ist schein- bar die selbstverständlichste Sache der Welt. Wozu also, könnte man fragen, hier eine Abhandlung über ,,Arzt und Patient im Gespräch''? Ganz abgesehen davon, daß noch niemals so viel über Kommunikation geredet wurde wie heute und das Schlagwort von der

"sprechenden Medizin" in aller Munde ist. Ein über- flüssiges Thema also?- Die Antwort ist diese Behaup- tung: Kommunikationsstörungen und -defizite sind eines der Kernprobleme der heutigen Medizin. Es soll ver- sucht werden, diese These im folgenden zu belegen.

N

atürlich gungsstörungen sind Verständi-zwischen Arzt und Patient so alt wie die Medizin selbst.

Denn das Miteinander-Sprechen beinhaltet immer auch das einander Mißverstehen. Im Gespräch zwi- schen Arzt und Patient gewinnen diese Störungen allerdings eine be- sondere Bedeutung und Tragweite.

Denn mit dem ständig wachsenden technischen, pharmakologischen und wissenschaftlichen Potential der Medizin wächst in gleichem Maße auch die Gefahr tiefgreifender Ver- ständigungsstörungen, die ihrerseits wiederum die sinnvolle Ausschöp- fung dieses Potentials erschweren.

So entwickelt sich ein circulus vitio- sus: Mit steigendem Fortschritt ha- ben Arzt und Patient es immer schwerer, sich im verstehenden Ge- spräch darüber zu verständigen, was für den Kranken nützlich, zurnutbar und aus der Perspektive seiner Wirklichkeit hilfreich ist.

Für das sich immer stärker ver- breitende Unbehagen, das vielfach die Begegnung zwischen Patient und Arzt belastet, ist ganz wesentlich die Verdrängung der Sprache durch das Riesengewicht der modernen High- Tech-Medizin verantwortlich. Am Ende dieser Entwicklung steht die Vision einer absolut sprachlosen Medizin. Paul Lüth beschreibt die- ses Phänomen wie folgt: "Wo unse- re moderne Medizin erfolgreich ist, in den schweren Fällen, ist sie stumm. Das Wort ist Schnörkel, Beilage, jedenfalls kein genuiner

Linus Geisler

Bestandteil der Therapie. Die The- rapie ist averbal. Das erzeugt das Unbehagen an der modernen, der erfolgreichen Medizin.''

Um gleich zu Anfang einem ge- läufigen Mißverständnis zu begeg- nen: Sprechende Medizin und High- Tech-Medizin stehen sich heute zwar scheinbar in einer scharfen Po- larisierung gegenüber, im Kern aber sind sie nichts Gegensätzliches. Im Gegenteil: Ihr Verhältnis zueinan- der bestimmt sich aus dem jeweili- gen Selbstverständnis der Medizin.

Aus dem Blickwinkel einer verste- henden ärztlichen Sichtweise ergän- zen sie sich. Im Idealfall resultiert daraus ein fruchtbares Zusammen- A-3568 (24) Dt. Ärztebl. 85, Heft 50, 15. Dezember 1988

spiel aus Sprechen, Verstehen und Handeln.

Die Sprache ist heute mehr denn je das wichtigste Instrument des Arztes. Mit der Sprache kann er nahezu alles, ohne die Sprache fast nichts bewirken. Und jede Medizin wird nur so gut sein wie die Sprache derer, die sie ausüben. Ludwig Witt- genstein bringt es in seinen logisch- philosophischen Abhandlungen auf die bestechend kurze Formel: , ,Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt."

Die Wirklichkeit

Wirklichkeit und Wege des Ge- sprächs zwischen Arzt und Patient sind das Thema dieser Betrachtun- gen. Beschäftigen wir uns zunächst mit der Wirklichkeit. Dieses Unter- fangen hat nur Aussicht auf Erfolg, wenn es in einer selbstkritischen Hal- tung wurzelt. Fakten und eine kurze Auswahl authentischer Beispiele sind am besten geeignet, diese Wirk- lichkeit auszuleuchten:

Eine kürzlich bei 512 Patienten in der Bundesrepublik durchgeführ- te Untersuchung des sprachwissen- schaftlichen Instituts der Universität Harnburg (E. Oksaar) hat ergeben:

~ 93 Prozent aller Patienten sind der Ansicht, daß ihr Arzt zuwe- nig Zeit für sie hat,

~ 91 Prozent, daß er zuwenig mit ihnen redet,

~ 89 Prozent, daß er ihnen nicht genügend zuhört und auf ihre Fragen und Argumente nicht immer eingeht,

~ 87 Prozent, daß er zuviele Fachtermini verwendet und die Dia- gnose nicht ausführlich genug er- klärt,

~ 86 Prozent, daß er sie schein- bar durch verschiedene Signale ent- mutigt, Fragen zu stellen,

~ 78 Prozent, daß er im fal- schen Augenblick einen burschiko- sen oder familiären Ton anschlägt und ihnen den Eindruck vermittelt, sie nicht ernst zu nehmen.

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Mit anderen Worten: Mehr als Dreiviertel aller Patienten emp-

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finden die Gespräche mit ihrem Arzt als unbefriedigend.

Der Lehrbeauftragte für , ,Hu- manität in der Medizin" an der Uni- versität Los Angeles, Norman Cou- sins, befragte eintausend Patienten, welche Gründe sie bewogen hatten, ihren Arzt zu wechseln. Hier zwei ty- pische Antworten: , ,Ich hatte den Eindruck, mein Arzt wollte meine Beschwerdeschilderung gar nicht hören. Er schien es eilig zu haben, mich an die Apparatemedizin wei- terzuleiten." "Ich verstand gar nicht, was mir der Doktor erklärte, und war zu verwirrt und ängstlich, Fragen zu stellen.''

• Die Kunst des Zuhörenkön- nens ist für den Arzt noch wichtiger als das Sprechen.

..,. Die amerikanischen Soziolo-

gen Howard Beckan und Richard Frankl von der Wayne State Medical School in Detroit analysierten 74 heimlich mit der Videokamera auf- genommene Praxisgespräche. Fazit:

Im Durchschnitt wurde jeder Patient schon nach achtzehn Sekunden vom Arzt im Gespräch unterbrochen.

Nur ein Viertel der Patienten schaff- te es überhaupt, die Schilderung ih- rer Beschwerden bis ans Ende zu führen.

"Verhinderter Dialog"

Ein besonderes Kapitel der Kommunikation zwischen Arzt und Patient ist die Visite im Kranken- haus, von der Thomas Bernhard in seinem Buch "Der Atem" schreibt:

"Die Visite, der Höhepunkt an je- dem Tag, war gleichzeitig immer die größte Enttäuschung gewesen.'' Thomas Bliesen er, einer der führen- den Kenner der modernen Visiten- forschung, nennt die Visite im Kran- kenhaus schlichtweg "einen verhin- derten Dialog''.

Anhand von Analysen zahlrei- cher Visitengespräche hat Blieseuer einen Katalog der zwölf häufigsten Strategien aufgestellt, mittels derer Patienteninitiativen bei Visitenge- sprächen abgewiesen werden. Der Katalog beginnt mit den Techniken des Abriegelns, Überfahrens, Hin- haltens, Leerlaufenlassens und en- det mit den Methoden Abbiegen,

Verlagern, Herausreden, Abgleiten.

Verschärft wird die Problematik noch durch die scheinbare oder ver- meintliche Zeitnot. Untersuchungen in einem großen Hamburger Kran- kenhaus ergaben eine durchschnitt- liche Visitendauer von dreieinhalb Minuten pro Patient. Die Arztrede- zeit lag bei zwei Minuten pro Pa- tient. Nur ein Drittel des ärztlichen Gesprächsanteils richtete sich über- haupt an den Patienten. Auf Privat- stationen war eine etwas patienten- freundlichere Gesprächsführung zu beobachten.

Beispiel Intensivmedizin

Ein besonders schwieriges Feld der Begegnung zwischen Arzt und Patient ist die Intensivmedizin. Ihr Bild wird in der Öffentlichkeit, aber auch bei nicht wenigen Ärzten auch heute noch nicht unwesentlich von den Medien geprägt. Sie wird als Medizin beschrieben, die vom Ter- ror der Apparate und Geräte be- stimmt wird. Dies kommt in Begrif- fen wie "Todesstationen", "veran- staltete Depressionen'' oder , ,Mate- rialschlachten gegen den Tod'' zum Ausdruck.

Die Bedrohung des Menschen durch die viel zitierte "Apparateme- dizin'', der er dem Anschein nach gerade im Intensivbereich in mon- ströser Form ausgesetzt ist, scheint jedoch sehr viel mehr in der Wirk- lichkeit des Behandlungsteams und der Angehörigen zu existieren als in der des Patienten.

Sorgfältige und kritische Stu- dien an ehemaligen lntensivpatien- ten, wie sie unter anderem auch in Münster von Lawin und seinen Mit- arbeitern vorgelegt wurden, zeigen vielmehr, daß die Angst vor den Ap- paraten im allgemeinen nicht groß, oft gar nicht vorhanden ist. Häufig wird der technische Aufwand nicht als Bedrohung, sondern als sichern- des Element erlebt. Die entschei- dende Belastung des Patienten auf der Intensivstation bilden vielmehr die dort herrschenden Kommunika- tionsschwierigkeiten.

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Pauser und Mitarbeiter, die sich im Rahmen des "Wiener Mo- dells'' besonders mit der psychologi-

sehen Betreuung von Intensivpatien- ten beschäftigen, kommen zu dem eindeutigen Ergebnis, daß die höch- ste StreBbelastung auf der Intensiv- station für den Kranken nicht aus den Apparaten resultiert, sondern aus dem Kommunikations- und In- formationsmangel.

Typische Antworten· von Inten- sivpatienten auf die Frage, was sie am stärksten belastet habe, waren in dieser Studie:

...,.. "Daß mir nur oberflächlich

Informationen gegeben werden, was meinen Gesundheitszustand und meine Krankheit betrifft",

...,.. , ,daß ich nur so wenig und so

kurz Kontakt mit den Ärzten habe'',

...,.. "daß mir keiner sagt, was

die Ärzte als nächsten Schritt mit mir vorhaben''.

Der Journalist Hensel faßt sein eigenes Erleben der Intensivstation als Patient in dem Satz zusammen:

"Nicht die Apparate erschrecken den Patienten, sondern-manchmal - die Menschen, die die Apparate bedienen.'' Besser als viele Studien bringt der folgende, auf eine Tafel niedergeschriebene Satz eines intu- bierten und daher sprechunfähigen Patienten die Kommunikations- schwierigkeiten zwischen Arzt und Patient im Intensivbereich zum Aus- druck: "Herr Doktor, nicht so ei- lig."

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Nirgendwo sind Wahrhaftig- keit und Echtheit des ärztlichen Ge- sprächs so gefordert wie im Umgang mit dem onkologischen Patienten.

Die Wirklichkeit sieht vielfach an- ders aus.

Ein typisches Exempel schildert die Psychologin Annemarie Tausch in ihrem Buch "Gespräche gegen die Angst''. Eine Patientin mit Mammakarzinom, die darüber klag- te, daß ihr durch die Chemotherapie die Haare ausgefallen waren, bekam von ihrer Ärztin folgende Antwort:

"Ist denn Haarverlust ein Ich-Ver- Iust? Ich verstehe gar nicht, daß das Ich so in den Haaren liegt.''

Annemarie Tausch, die später selbst an Krebs starb, beschreibt in dem zitierten Buch, wie sie selbst über ihre Krankheit aufgeklärt wur- de: "Auch mir wurde die Diagnose Krebs im Krankenhaus mitgeteilt.

Die Ärztin kam zu der üblichen Visi- Dt. Ärztebl. 85, Heft 50, 15. Dezember 1988 (27) A-3569

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Gemeinsame Wirklichkeit finden Geschlossene Gespräche

Richtig fragen Fähigkeit zur Empathie Alle Botschaften erkennen

Aktiv zuhören Gesprächsrahmen optimieren

Sich selbst zuhören Fähigkeit zur Selbstkritik

Die neun Schritte zum erfolgreichen Gespräch zwischen Arzt und Patient te und berichtete kurz von dem Er-

gebnis der histologischen Untersu- chung. Dann begann sie sofort über die Behandlung zu reden. Sie stand am Fußende meines Bettes, nicht neben mir. Dann streckte mir die Schwester, die die Ärztin bei der Vi- site begleitete, wortlos das Fieber- thermometer hin. Für sie war nur wichtig, meine Temperatur vor- schriftsmäßig zu messen. Ich spürte deutlich, daß beide kaum an mei- nem Schmerz Anteil nahmen "

Das letzte Beispiel, das die Wirklichkeit des ärztlichen Ge- sprächs ausleuchten soll, betrifft die Angehörigen, die häufig immer noch in sträflicher Weise vernachläs- sigt werden. Was keine Bank, Flug- gesellschaft oder Versicherung sich auch mit dem unliebsamsten Kun- den erlauben würde, ist bei Angehö- rigen an der Tagesordnung Immer noch werden Informationen von großer Tragweite — zum Beispiel über die Art der Erkrankung des Angehörigen, über aufgetretene Komplikationen, den Verlauf oder sogar den Tod — in Eile, unerträglich verkürzt, zwischen Tür und Angel oder im Stehen auf Klinikfluren mit- geteilt. So der Ratschlag eines Neu- rologen (im Jahre 1985) an die Ehe- frau eines Patienten mit multipler Sklerose im Hinblick auf die zu er- wartenden Potenzschwierigkeiten:

„Ihr Mann hat MS, Sie sollten sich scheiden lassen!" Oder die Bemer- kung einer angehenden Ärztin zur Mutter eines vierzehnjährigen Mäd- chens mit apallischem Syndrom nach einem Reitunfall: „Das ist ein Kind zum Wegwerfen."

Natürlich sind manche dieser authentischen Beispiele Extreme und wurden nicht ausgewählt, weil sie häufige Situationen widerspie- geln, sondern weil sie die grundsätz- liche Problematik der Kommunika- tionsstörungen zwischen Arzt und Patient in besonders scharfem Licht erkennen lassen. Die Mehrzahl pro- blematischer und unbefriedigender Gespräche zwischen Arzt und Pa- tient verläuft jedoch viel undramati- scher. Und genau darin liegt ihre be- sondere Gefahr

Dazu Michael Hertel: „Wie oft induziert ein Arzt beim Patienten das Gefühl, er müsse auf die Frage

,wie geht es?' nur schnell und kurz

‚gut' antworten, um den geplagten Arzt nicht in Unannehmlichkeiten zu bringen. Denn würde er wahr- heitsgemäß sagen, es gehe ihm schlecht, müßte der Arzt insistieren, weiterfragen, erwägen, Hilfe su- chen. Und ob dieser Arzt in seiner Eile dabei noch guter Laune bleibt, wenn ihn der Patient so in Anspruch nimmt, das möchte so mancher Kranke bezweifeln. Es spielt sich al- so leicht in den Gesprächen zwi- schen Arzt und Kranken eine Be- gegnungsform ein, die nur ober- flächlich die Merkmale einer freund- lichen Kommunikation hat, in der Tiefe aber ohne Wahrheit und ohne Erfolgsaussichten ist."

Die Folgen

Kommunikationsstörungen und -defizite in der Medizin weisen eine fatale Besonderheit auf, die es be- sonders schwer macht, sie wirksam anzugehen: Sie sind den Gesprächs- beteiligten als Problem häufig über- haupt nicht bewußt. Viele Ärzte fühlen nur unterschwellig, daß ihre Gespräche unbefriedigend verlau- fen, unbefriedigend für den Patien- ten und unbefriedigend für sie selbst. Unbefriedigend für den

Kranken, weil er sich mit seinem Problem, seiner Situation oder sei- nem Konflikt nicht verstanden oder angenommen fühlt, weil er spürt, daß der Arzt seine Krankheit anders versteht, als er sie selbst erlebt, daß seine Welt und die des Arztes nicht die gleichen sind. Der Arzt bleibt ebenso unbefriedigt zurück, weil er sich mit seiner Sicht der Krankheit seines Patienten offenbar nicht wirk- lich verständlich machen konnte, denn: Der Patient folgt ihm nicht oder nur unzureichend; er sträubt sich gegen offensichtlich sinnvolle Untersuchungs- und Behandlungs- maßnahmen, seine Therapietreue läßt zu wünschen übrig.

Diese Gespräche ermüden und erschöpfen den Arzt, machen ihn lustlos und aggressiv, denn auch er erkennt oder spürt zumindest unter- gründig, daß die Wirklichkeit seines Kranken und seine Wirklichkeit nicht identisch sind. Dann empfin- det er das Sprechen als Last, eine Bürde, die ihm tagtäglich aufgela- den wird und mit der er sich über die Runden schleppt. Und es bleibt ihm die Einsicht verschlossen, daß die Sprache sein wichtigstes Instrument ist, daß Sprechen und Gesprochenes zu hören und zu verstehen, ein ein- zigartiges Privileg des Menschen ist, daß eine Medizin, die sich nicht aller Möglichkeiten der sprachlichen und A-3570 (28) Dt. Ärztebi. 85, Heft 50, 15. Dezember 1988

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nichtsprachlichen Kommunikation bedient, immer unzulänglich bleiben muß, daß eine sprachlose Medizin letztlich eine inhumane Medizin ist.

Wolfgang Cyran bringt es in seinem Essay über die emotionale Sprachlo- sigkeit des Arztes auf den Punkt:

„Für das Gespräch gibt es keinen Ersatz."

Eine kritische Analyse der ge- zeigten Beispiele macht deutlich, daß sich praktisch alle Kommunika- tionsstörungen in der Medizin auf drei Grundursachen zurückführen lassen:

• 1. Nichterkennen, daß das Gespräch wichtigstes Instrument des Arztes ist;

• 2. Unzureichende Kenntnis- se in Gesprächstechnik und Kom- munikationspsychologie;

• 3. Störungen der Arzt-Pa- tienten-Beziehung.

Es liegt auf der Hand, daß es ei- ne fatale Abhängigkeit dieser drei Faktoren untereinander in Art eines circulus vitiosus gibt.

Wer wie der Allgemeinmedizi- ner, der Internist oder Frauenarzt die überwiegende Zeit mit seinen Patienten sprechend verbringt, muß auch sprechen können. Er muß ler- nen, das Instrument Sprache besser und erfolgreicher anzuwenden. Ver- kennt er dies, wird er vielleicht eines Tages inmitten vieler teurer Geräte mehr Zeit zum Sprechen mit Patien- ten haben, als ihm lieb ist. Es ist ein erstaunliches Phänomen, daß Ein- sichten, die in anderen Berufen, de- ren Grundlage das Sprechen mit Menschen ist, längst Selbstverständ- lichkeiten sind, in der Medizin so schwer Eingang finden.

Dazu schreibt Bliesener in sei- nem Buch „Die ärztliche Visite — Chance zum Gespräch": „Wer Computer, Wertpapiere oder Beta- blocker verkaufen will, erhält ge- wöhnlich ein besseres Training in Gesprächsführung als ein Arzt, der einem Patienten bei der Gesundung helfen möchte. Es gibt hochspeziali- sierte professionelle Redetrainings für Vertreter, Verkäufer und Refe- renten aller Produktbereiche. Für den Arzt gibt es eine solche Rede- schulung nicht. Der Arzt bleibt mit

seinen Problemen in der Gesprächs- führung weitgehend allein."

Professionalität und Spezialisie- rung nehmen in allen Sparten der Medizin immer stärker zu. In der Fähigkeit, mit Patienten zu spre- chen, kommen viele Ärzte aber kaum über den Status des Amateurs hinaus Selbstverständlich gibt es auch unter den Ärzten auf diesem Gebiet Naturtalente, aber sie haben eher Seltenheitswert. Die ärztliche Fähigkeit, mit Patienten verstehend und erfolgreich zu sprechen, darf nicht das Zufallsprodukt aus Bega- bung, Eigeninitiative oder zufälliger Prägung durch Vorbilder sein. Spre- chende Medizin läßt sich auch nicht schon dadurch verwirklichen, daß sie honoriert wird, so löblich auch die Ansätze des neuen Einheitlichen Bewertungsmaßstabes sein mögen.

Wege

Welches sind nun die Wege, um das Problem der gestörten sprach- lichen Beziehungen zwischen Arzt und Patient zu lösen und dem Ziel näher zu kommen, daß sich beide als gleichwertige Partner sprechend und hörend besser verstehen?

Um Mißverständnissen vorzu- beugen: Das Ziel des Weges ist nicht etwa, den Arzt in einer Art zweitem Bildungsweg auch noch zum Psycho- logen oder Psychotherapeuten zu schulen, ihn „kleine Psychothera- pie" betreiben zu lassen, die be- kanntlich meist schwieriger als die große Psychotherapie ist. Es geht auch 'nicht um die Aneignung ge- sprächstechnischer Tricks oder gar um Manipulation durch Rhetorik.

Das Ziel ist sehr viel bescheidener — aber gleichwohl anspruchsvoll: Der Arzt, gleichgültig in welcher Fach- disziplin, muß lernen, seine tagtäg- liche Aufgabe, mit seinen Kranken zu sprechen, besser als bisher zu lö- sen.

• Denn nur wenn Arzt und Pa- tient sich gegenseitig verstehen, ver- mögen sie auch das gesundheitliche Problem, das sie zusammengeführt hat, gemeinsam und besser zu be- wältigen. Voraussetzung einer ver- stehenden Medizin ist eine sprechen- de und zuhörende Medizin. Jeder er-

lebt seine Welt nur in seiner eigenen Wirklichkeit. Verstehen ist die Fä- higkeit, dieses Phänomen der ver- schiedenen Wirklichkeiten zu erken- nen und zu akzeptieren und eine ge- meinsame Wirklichkeit zu finden.

Die einzige Brücke in die Wirklich- keit des anderen ist das Gespräch.

Das wesentliche Ziel des ärztlichen Gesprächs besteht darin, mit dem Patienten zusammen eine gemeinsa- me Wirklichkeit zu finden. Diese Identität der Wirklichkeit von Arzt und Patient eröffnet dann alle Mög- lichkeiten, in einem gemeinsamen Bezugssystem zu kommunizieren und sich gegenseitig zu begreifen.

Der Weg zum verstehenden und erfolgreichen Gespräch zwischen Arzt und Patient kann nur schritt- weise zurückgelegt werden. Er wird und soll immer ein individueller Weg sein. Er beinhaltet aber immer auch eine Reihe unerläßlicher Schritte. Diese sind — in Grenzen — durchaus lehrbar und damit lernbar.

Sie gehören mindestens so vordring- lich in den Gegenstandskatalog des angehenden Arztes wie der übrige Wissensstoff, dessen Halbwertszeit bekanntlich zwischen fünf und zehn Jahren liegt.

Die heutige Medizin kann sich nicht mehr der immer dringender werdenden Aufgabe entziehen, die scheinbare Polarität zwischen spre- chender Medizin und High-Tech- Medizin aufzulösen. Sonst läuft sie Gefahr, nur noch Mediziner, aber keine Ärzte heranzubilden. Lieber noch heute als morgen muß das Aus- bildungs- und Weiterbildungskon- zept des Arztes der Grunderkennt- nis Rechnung tragen, daß jeder Fortschritt in der Medizin sich in menschlichen Kategorien nur durch die Sprache umsetzen läßt.

Wie könnte der Weg aus der Theorie in den klinischen Alltag aus- sehen, an dessen Ende die Fähigkeit zum verstehenden Gespräch steht?

Ich will versuchen, das in meinem Buch „Arzt und Patient — Begeg- nung im Gespräch" entwickelte Konzept in einem kurzen Abriß dar- zustellen (siehe Abbildung).

111 Der erste Schritt ist die selbstkritische Analyse der Qualität und Effizienz der eigenen Gesprä- Dt. Ärztebl. 85, Heft 50, 15. Dezember 1988 (31) A-3573

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che. Es ist zugegebenermaßen der schwierigste, aber auch der entschei- dende Schritt. Sein Resultat kann das Erschrecken sein über einge- fleischte Phrasen, prunkvolle, aber brüchige Fassaden oder den Mangel an Echtheit und Wahrhaftigkeit in den bisherigen Gesprächen.

❑ Der nächste Schritt besteht einfach darin, sich selbst zuzuhören.

Welche Terminologie verwende ich?

Ist meine Fragetechnik erfolgreich?

Bin ich fähig, aktiv zuzuhören? Ver- wende ich kommunikative Unver- bindlichkeiten und Abweisungsstra- tegien? Erzeuge ich Mißverständnis- se oder Ängste? Empfinde ich selbst meine Sprache als echt?

❑ Die weitere Etappe hat die Optimierung des Gesprächsrahmens zum Ziel. Wenn Ort, Zeit und Kli- ma eines Gesprächs nicht stimmen, stimmt das Gespräch meist ebenfalls nicht.

❑ Ein wesentliches Merkmal des guten Arztes ist seine gute Zu- hörtechnik Aktives Zuhören zählt zu den wichtigsten ärztlichen Fähig- keiten im Gespräch. Aktives Zuhö- ren setzt Interesse, Bereitschaft und Fähigkeit, zuzuhören und völlige Präsenz voraus. Wer aktives Zuhö- ren erlernt hat, wird erkennen, daß er durch Zuhören oft mehr erfährt als durch Fragen, und daß aktives Zuhören Zeit spart und Nichtzuhö- ren Zeit kostet.

❑ Der nächste Schritt im Lern- prozeß ist eine Analyse der Botschaf- ten im Gespräch. Sie geht von der Erkenntnis aus, daß jede Nachricht in der Regel nicht eine, sondern mehrere Botschaften enthält: Sach- information, Selbstoffenbarung, Be- ziehungsaspekte und Appell.

Die Fähigkeit zur Empathie ist eine Grundvoraussetzung des verstehenden Gesprächs. Empathie bedeutet, das Erleben eines anderen so vollständig und genau nachzuvoll- ziehen, als ob es das eigene wäre, ohne jemals diesen „Als-ob-Status"

zu verlassen. Ohne Empathie sind wirkliches Verstehen und Echtheit im Gespräch nicht zu erreichen.

❑ Die nächsten Schritte gelten einer optimalen Gesprächstechnik.

Sie beinhalten das Erlernen einer richtigen Fragetechnik und das Füh- ren strukturierter Gespräche, die for- mal, inhaltlich und thematisch ein geschlossenes Ganzes bilden. Im Kern umfaßt jedes Gespräch die Phasen Eröffnung — Adaption — Thematisierung — Abschluß, wobei der Gesprächseröffnung besondere Bedeutung zukommt.

❑ Mit dem letzten Schritt wird das eigentliche Ziel des Gesprächs erreicht: Das Finden einer gemeinsa- men Wirklichkeit zwischen Arzt und Patient. Er erfordert ein grundle- gendes Umdenken: Umdenken ein- mal, weil wir lernen müssen, unsere meist tiefverwurzelten Vorstellun- gen darüber, was Wirklichkeit ist, radikal zu ändern, Umdenken auch, weil sich durch diesen neuen Wirk- lichkeitsbegriff der Zugang zum Pa- tienten vollkommen verändert. Das Finden einer gemeinsamen Wirk- lichkeit von Arzt und Patient im Ge- spräch bildet die höchstmögliche Stufe.

• Besser als bisher müssen wir als Ärzte lernen und lehren, daß der Mensch den Menschen ohne Spra- che nicht erreichen kann und daß ei- ne Medizin, die ihre Sprache nicht beherrscht, eine Medizin ohne den Menschen ist. Es ist wohl kein Zu- fall, daß sich eine der treffendsten Formulierungen, was Sprache be- deutet, bei Dolf Sternberger im

„Wörterbuch des Unmenschen"

findet:

„Sprechend ist der ganze Mensch gegenwärtig, und so kann es nicht ausbleiben, daß sich in der Sprache alles Menschliche bezeugt, niederschlägt und ablagert. Das Menschliche, das Allzu-Menschliche und auch das Unmenschliche."

Literatur

L. Geisler: Arzt und Patient — Begegnung im Gespräch — Wirklichkeit und Wege, Phar- ma-Verlag Frankfurt am Main, 1987 (ISBN 3-926681-02-0)

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. Linus Geisler St. -Barbara-Hospital 4390 Gladbeck

Tumor-Nachsorge

Zwanzig Jahre

„Klinik Bad Trissl"

Da die Tumor-Nachsorge nur ei- ne „spezielle Form der Vorsorge" ist, sollte sie nicht schematisiert, sondern risiko-orientiert der Persönlichkeit des Kranken und seiner Umgebung angepaßt werden. Von dieser Uberle- gung ausgehend, bezeichnete es Pro- fessor Dr. Josef Zander, Direktor der 1. Universitäts-Frauenklinik Mün- chen, anläßlich des zwanzigjährigen Bestehens der Krebs-Nachsorgekli- nik Bad Trissl (bei Oberaudorf/Inn) als „dringend erforderlich, daß auch hier die Kriterien für eine Individuali- sierung erarbeitet werden—in der Be- schränkung auf das jeweils für den Menschen Notwendige".

Die klinische Nachsorge in Bad Trissl umfaßt sechs Schwerpunkte:

Sicherung des Behandlungserfolges der Primärtherapie; Erkennen und Behandlung unerwünschter Thera- piefolgen; Diagnose und Therapie von Zweiterkrankungen, einge- schlossen Zweittumoren; Früherken- nung und Behandlung von Rezidiven und Metastasen; psychologische Füh- rung von Krebskranken und deren psychische und soziale Rehabilita- tion; Dokumentation im Klinik-, Pra- xis- und Krebsregister.

1968 hatten der bayerische Ärz- tekammer-Präsident Professor Dr.

Hans Joachim Sewering und Vertre- ter der Allgemeinen Ortskranken- kassen sehr vorsichtig eine Modell- klinik angeregt. Heute ist die Klinik in Bad Trissl mit ihren 290 Betten und 210 Fachkräften an das Tumor- zentrum München „angebunden".

Im Pflegedienst wurden die Schwestern durch Einführung einer

„Stationssekretärin" von pflege- fremden Aufgaben entlastet. Ein pro- fessionell arbeitender Sozialdienst hilft denP atientinnen, mit beruflichen und häuslichen Sorgen zurechtzu- kommen Die von dem Medizinjour- nalisten Dr. med. Georg Schreiber er- fundene und alle drei Wochen mode- rierte „Klinik-Talkshow" hat sich in- zwischen 210mal als „Therapeuti- kum von außen" bewährt. KG A-3574 (32) Dt. Ärztebl. 85, Heft 50, 15. Dezember 1988

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