DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Fortschritte
in der Pädiatrischen Endokrinologie
Jahrestagung der European Society for Paediatric Endocrinology vom 25. bis 28. August 1991 in Berlin
I
n Berlin wurde vom 25. bis 28. Au- gust 1991 die 30. Jahrestagung der European Society for Pediatric Endocrinology durchgeführt (Präsi- dent: Volker Hesse, Berlin). An die- sem ersten europäischen Kinderärz- tekongreß im wiedervereinigten Ber- lin beteiligten sich 750 Teilnehmer aus insgesamt 37 Ländern. Neben den europäischen Ländern waren auch Wissenschaftler aus Australien, Japan, Indien, Iran, Saudi-Arabien und den USA vertreten.Die Europäische Gesellschaft für Kinderendokrinologie ist 1962 durch Professor Prader in Zürich ge- gründet worden und hat sich in den 30 Jahren ihres Bestehens zu einer besonders aktiven und erfolgreichen europäischen Fachgesellschaft ent- wickelt. Ziel der wissenschaftlichen Konzeption der Berliner ESPE-Ta- gung war es, auf breiter Basis die Fortschritte des Fachgebietes aufzu- zeigen.
Als Hauptthemen der Tagung wurden gewählt:
.... Frühdiagnose und Immunpatho- genese des kindlichen Diabetes mel- litus,
.... Klinische und therapeutische Be- deutung von Wachstumsfaktoren, ..,.. das Neuroendokrin-Immunsy- stem,
..,.. Struma im Kindesalter,
.... Hormone und Ernährung (Be- deutung von gastrointestinalen Hor- monen, Adipositas, Anorexia ner- vosa).
Spezielle Arbeitsgruppentagun- gen waren den Themen "Hypothyre- ose-Screening" und "Therapie mit Wachstumshormonen" gewidmet.
Neben Plenarvorträgen zu den The- men Kontrolle der Zellproliferation, Neuroendokrin-Immunsystem, en- demischer Kropf und endokrine Re- gulation des Appetitverhaltens wur- den in 64 Kurzreferaten und 156 Po- stern Ergebnisse aus fast allen Ge- bieten der Kinderendokrinologie (Wachstum, Wachstumshormonse- kretion, Wachstumsfaktoren, Ull- rich-Turner-Syndrom, Schilddrüsen- hormonstoffwechsel, Nebennieren- erkrankungen, Kalzium-Phosphor- Stoffwechsel, gonadale Störungen, Intersexualität und Pubertätsstörun- gen) vorgestellt.
Einige wesentliche Ergebnisse seien nachfolgend erwähnt:
Diabetes mellitus
So konnte aufgezeigt werden, daß das 64-K-Protein der ß-Zelle des Pankreas, gegen das sich der immu- nologische Angriff beim Typ I Dia-
betes mellitus richtet, ein Enzym ist, das bei der Produktion von Insulin und der Regulation der Insulinpro- duktion eine Rolle spielt (Kolb, Düs- seldorf). Mittels dieses gentechnolo- gisch leicht herstellbaren 64-K-Ei- weißproduktes kann ein Test für die Frühdiagnose des Diabetes mellitus entwickelt werden. Der Manifestati- onszeitpunkt des Diabetes kann al- lerdings derzeit nicht vorausgesagt werden.
Die Möglichkeit der Voraussage eines Typ-I-Diabetes anhand der Be- stimmung von Inselzell- oder In- sulin-Antikörperbestimmungen wird durch die Tatsache, daß derartige autoimmunologische Prozesse auch bei Menschen auftreten, die nicht an Diabetes erkranken, erschwert (B.
Weber, Berlin) .
lVachstumsfakioren
Die klinische Bedeutung der Wachstumsfaktorenforschung nimmt zu. So zeigten Zapf und Mitarbeiter (Zürich) anhand von Freiwilligenun- tersuchungen, daß gentechnisch her- gestelltes IGF-I (Insulin-like growth factor) bei Insulinresistenz thera- peutisch wirksam sein kann. Bei In- fusionsraten von 7, 14 und 20 flg über sechs Tage blieben die Blutzucker- werte unverändert, die Nüchtern-In- sulin- und C-Peptidspiegel sowie IgF-11 nahmen ab, wie auch die STH-Sekretion, die Serumtriglyzeri- de und der Quotient Gesamtchole- sterin zu HOL-Cholesterin.
IGF-I könnte beim Typ I und II Diabetes, bei Hypertriglyzeridämie und Adipositas wirksam sein. Die Wirksamkeit bei der Typ-A-Insulin- resistenz vom Typ A mit Acanthosis nigricans und Virilisierung wurde von P. Zenobi (Zürich) bei drei Pa- tienten bewiesen. Nach Injektion von 100 j.tg rh-IGF-I/kg iv. fallen die Glu- kose- beziehungsweise Insulinwerte auf 36 Prozent beziehungsweise 27 Prozent ab. Weitere Anwendungsge- biete für IGF-I dürften wahrschein- lich Knochen- und Gelenkerkran- kungen, die Wundheilung, Nieren- versagen und bestimmte Wachstums- störungen sein. IGF-I kann zur The- rapie des Laron-Kleinwuchses, bei Dt. Ärztebl. 89, Heft 45, 6. November 1992 (71) Ar3771
dem ein IGF-I-Mangel besteht, er- folgreich genutzt werden (Z. Laron, Tel Aviv, T. Romer, Warschau). Zu- nehmende praktische Bedeutung wird auch der Hautwachstumsfaktor (Epidermal growth factor, EGF) bei der Wund- und Ulkusheilung erlan- gen (D. A. Fisher, Los Angeles). Der Wachstumsfaktor Erythropoetin wird bereits seit fünf Jahren erfolg- reich zur Anämiebehandlung bei Pa- tienten mit chronischen Nierenver- sagen genutzt (J. W. Adamson, New York).
Den diesjährigen Henning-An- dersen-Preis für das beste Abstract erhielt Dr. G. Theintz (Universitäts- Kinderklinik Genf) für den Nach- weis, daß die größte Knochenmasse bei Frauen (entgegen der bisherigen Ansicht) nicht mit 30-40 Jahren, sondern bereits mit 16 Jahren er- reicht wird.
Neuroendokrin-
I Immunsystem
Der Erforschung des Neuro- endokrin-Immunsystems wird zu- nehmende Aufmerksamkeit gewid- met. Prüfungsstreß, Trauma und Depression führen zu einer Suppres- sion der Immunabwehr. Die Fähig- keit, einen Stressor zu bewältigen, ist die wichtigste Seite bei der neuro- endokrinen Streßreaktion. Die Epi- physe steuert die Proliferationsrate von Granulozyten und Makrophagen im Knochenmark. Immunzellen ha- ben die Fähigkeit, Rezeptoren für zahlreiche Neuropeptide zu expri- mieren. So hemmt zum Beispiel ACTH die Antikörperproduktion, die Lymphokin- und die beta-Inter- feronsekretion durch die T-Lympho- cyten. D. Gupta, Tübingen, wies nach, daß der Profilerationshöhe- punkt der Granulozyten und Makro- phagen-Vorläuferzellen eine gleich- artige Tagesrhythmik wie das Mela- tonin aufvveist. Streß bei der Mutter bewirkt im Tierversuch eine Mangel- versorgung des Feten (Ursache Sau- erstoffmangel der Plazenta, atypi- sche Metabolitenzusammensetzung).
Der Fet gerät in Streß, die Wachs- tumshormonausschüttung wird ver- mindert, Lernfunktion und Lernka-
pazität werden beeinträchtigt. Nega- tive Langzeiteffekte sind auch beim Menschen nicht ausgeschlossen (W.
Rohde, Berlin).
r Endemische Struma In Europa sind derzeit noch et- wa 20 bis 30 Millionen Menschen von einem Jodmangel betroffen (F.
Delange, Brüssel). Ein Jodmangel kann während der Schwangerschaft die Hirnentwicklung des Feten be- einflussen. Weitere Risikoperioden sind vor allem das Neugeborenenal- ter und die Pubertät. Der tägliche Jodbedarf beträgt beim Säugling 40 bis 50 p.g/Tag und steigt dann auf 150 14/Tag bei Jugendlichen und Er- wachsenen an. Eine wirksame Form der Jodprophylaxe wurde bereits 1985 auf dem Gebiet der neuen Bun- desländer eingeführt, wo wie im Westteil Deutschlands eine Jodman- gelsituation bestand. Durch die Jo- dierung von 84 Prozent des Haus- haltsalzes (32 mg KI03/kg und gleichzeitig Jodierung von Tierfut- tergemischen) ging die Neugebore- nenstruma von fünf bis zwölf Prozent auf unter ein Prozent zurück, die Häufigkeit der Pubertätstruma redu- zierte sich um 15,7 bis 35 Prozent (Hesse und Mitarbeiter Berlin/Jena/
Chemnitz). Die Strumafrequenz fiel bei Erwachsenen in Sachsen um acht bis elf Prozent ab (Bauch, Chem- nitz).
Appetitregulation, Adipositas,
Anorexia nervosa
Die Regulation des Appetitver- haltens erfolgt mittels des zentral ge- steuerten Nahrungsaufnahmetriebs.
Hierbei scheint eine Wechselbezie- hung zwischen Dynorphin und Dop- amin zur Regelung der Fettaufnah- me und von Neuropeptid Y und Nor- epinephrin für die Kohlenhydrat- aufnahme zu bestehen. Mehrere Neuropeptide (CRF, Cholezystoki- nin, Bombesin, Gastrin Releasing Peptid, Glukagon, Somatostatin, Amylin) hemmen den Nahrungsauf-
nahmebetrieb (J. E. Morley, St. Lou- is). Bei der Adipositas scheinen nur fünf bis 25 Prozent genetisch bedingt zu sein. Umweltstreß könnte über leichte Kortisolerhöhungen zur Adi- positas beitragen (K. E. Bergmann, Berlin).
Bei Anorexia nervosa wurden zahlreiche endokrine und sonstige Anomalien nachgewiesen, zum Bei- spiel der Verlust der Regulation des Temperatur- und Schlafrhythmus über die Hypothalamus-Hypophy- sen-Nebennierenachse, fehlendes Ansprechen auf erhöhte Plasma- osmolarität, Übersättigungsreaktion auf eine Lipid-Protein-Mahlzeit in- folge gesteigerter Cholezystokinin- aktivität sowie eine Gehirnschrump- fung. Diese neueren Erkenntnisse werden bei der zukünftigen Lang- zeitbehandlung berücksichtigt (E. H.
Ellinwood, Durham).
Das wissenschaftliche Pro- gramm wurde durch ein Gesamt- Berliner Rahmenprogramm, das die neuen Möglichkeiten Berlins auf- zeigte, ergänzt (Empfang im Perga- monmuseum, Konzert im Schau- spielhaus).
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. habil. V. Hesse Krankenhaus Lichtenberg ICinderkrankenhaus Lindenhof Gotlindestr. 2-20
0-1130 Berlin Ar3774 (74) Dt. Ärztebl. 89, Heft 45, 6. November 1992