A 932 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 108|
Heft 17|
29. April 2011VERSORGUNG VON KREBSPATIENTEN
Menschliche Zuwendung aufwerten
Die Qualität der Versorgung von Krebspatienten hinkt medizinischen Innovationen hinterher. Auch psychoonkologische Aspekte werden zu wenig berücksichtigt.
M
it der Diagnose eines Mali- gnoms leben circa vier Mil- lionen Menschen in Deutschland, Prävalenz und Inzidenz werden weiter zunehmen. Derzeit wird die Rate der jährlichen Neuerkrankun- gen auf etwa 560 pro 100 000 Ein- wohner geschätzt. Da die Lebenser- wartung steigt, rechnet das Institut für Krebsepidemiologie (Lübeck) bis zum Jahr 2050 mit einer Zu - nahme der Malignominzidenz um 50 Prozent auf 850 pro 100 000 Ein- wohner. Es wird also immer mehr Krebspatienten zu versorgen geben.Ökonomische Anreize sollten die Qualität fördern
Derzeit aber stünden Grundlagen- forschung und klinische Forschung in einem Missverhältnis zur Ver - sorgungsforschung, also der Frage, wie Innovationen den Patienten er- reichen könnten, lautet der Tenor einer Veranstaltung zum Thema Versorgung von onkologischen Pa- tienten in Köln. Prozessinnovatio- nen halten nicht mit medizinischen Weiterentwicklungen Schritt. Ei- nen Grund dafür sieht Wilfried Ja- cobs, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg, in fal- schen ökonomischen Anreizen.
„Die Leiden der Patienten wer- den umso intensiver behandelt, je mehr sich die Versorgung wirt- schaftlich lohnt“, sagte Jacobs. „Je- de halbwegs erkennbare Diagnose wird aufgeführt, denn die Vergü- tung orientiert sich an der Zahl der Diagnosen, nicht an der Qualität der Versorgung.“
Diese aber könne sich gerade durch Unterlassen einer therapeuti- schen Intervention zugunsten des Beobachtens mit intensiver Bera- tung des Patienten auszeichnen.
Beim Prostatakarzinom zum Bei- spiel könne eine aktive Überwa- chung bei bestimmten Patienten die
beste Option sein. Nur: Abwarten bringe kein Geld. „Zu einer besse- ren Versorgung von Krebspatienten gehört, dass der Faktor Zeit ökono- misiert wird, also das Informieren, Beraten, Trösten“, erklärte Jacobs.
Für die Beurteilung der Qualität der Versorgung müsse die gute Beglei- tung des Patienten stärker gewichtet und besser honoriert werden als bisher. Hier könne der Wettbewerb im Gesundheitswesen regulierend wirken: „Wir sollten die Zentren und Ärzte, die eine hohe Versor- gungsqualität nachweisen, auch gut bezahlen, und zur Qualität gehört unter anderem genügend Zeit für Krebspatienten“, meint Jacobs. So werde häufig das Persönlichkeits- profil der Patienten zuwenig in die Betreuung einbezogen. Außerdem fehle es teilweise an Transparenz über Fallzahlen und Ergebnisse.
So sind kürzlich bei einer Veran- staltung in Berlin über die Arbeit am Nationalen Krebsplan teilwei- se Widerstände deutlich geworden, die geplante Etablierung regionaler Krebsregister flächendeckend um- zusetzen. Mit deren Hilfe ließe sich unter anderem die Versor- gungsqualität besser einschätzen.
„Ist sie nicht zufriedenstellend, sollten Zentrumszertifikate ab - erkannt werden können“, forderte Jacobs. Die Politik müsse die Rahmenbedingungen schaffen, um die berechtigten Interessen der Pa- tienten zur Messlatte des Handelns zu machen, nicht die Zufriedenheit der Leistungserbringer.
Die Diagnose Krebs bedeutet „ei- nen Sturz aus der normalen Wirk- lichkeit“. So beschreibt die Allge- meinmedizinerin Dr. med. Andrea Petermann-Meyer mit psychoon - kologischer Schwerpunktpraxis in Aachen ihre Erfahrung. Eine Befra- gung von 296 Krebspatienten habe ergeben, dass sich 61 Prozent un-
mittelbar nach der Diagnose um die Familie sorgten, 54 Prozent be- schäftige die Angst vor dem Tod, 35 Prozent die Angst vor einem durch die Operation veränderten Äußeren, und 32 Prozent fürchteten sich vor Schmerzen. In einer Freiburger Umfrage unter mehr als 600 onko- logischen Patienten wünschten sich 25,6 Prozent ausführlichere Ge- spräche mit dem Arzt oder der Ärz- tin, 24,4 Prozent fühlten sich mit ih- ren Sorgen nicht ernst genommen, 21,3 Prozent hatten Informations- bedarf zu Vor- und Nachteilen der verschiedenen Therapien, und jeder fünfte wünschte sich mehr Bera- tung zu ganzheitlichen Konzepten.
Bei empathischer Beratung weniger Psychotherapie nötig
Denn nach der Diagnose Krebs stünden viele Entscheidungen über Beginn und Art der Behandlung an, zumal sich Patienten nach einer The- rapie subjektiv erst einmal schlechter fühlten als zuvor.Dies gelte es, in die Beratungen einzubeziehen. Petermann-Meyer berichtete über eine Studie aus den USA mit 123 Krebsüberlebenden.
40 Sekunden, in denen zu sätzlich zu Informationen über die Erkran- kung auch Mitgefühl zum Aus- druck gebracht und deutlich wurde, dass die Ärztin oder der Arzt die Sorgen ernst nimmt, waren mit sig- nifikant weniger Angst assoziiert.
„Es ist nicht notwendig, unbedingt Lösungen anzubieten, aber es ist wichtig, Patienten mit ihren Emo- tionen ernst zu nehmen“, sagte Pe- termann-Meyer. Durch eine angst- reduzierende Begleitung lasse sich der Bedarf an Psychotherapien
senken. ■
Dr. rer. nat. Nicola Siegmund-Schultze
MCC-Fachkonfererenz Onkologie in Köln: Patienten- zentrierte Gesundheitsversorgung – Status quo und Ausblick