DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Aktuelle Politik
Programmatische KBV-Vertreterversammlung in Aachen
Kassenärzte brauchen ihre
kraftvolle Genossenschaft "KV"
heute dringender denn je
D
ie sachverständigen Spre- cher der Ärzteschaft han- deln richtig, der vordergrün- digen Kostendämpfungspolitik, in der sich politische Instanzen unterschiedlichster Couleur of- fenbar völlig einig sind, immer wieder eine patientenzentrierte und arztspezifische medizini- sche Orientierung der Gesund- heitspolitik entgegenzusetzen.So in beispielhafter Weise ge- schehen bei der Vertreterver- sammlung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung am 14. Mai in Aachen, am Vortag der Eröff- nung des 87. Deutschen Ärzteta- ges.
Noch nie ist die ärztliche Versor- gung der Sozialversicherten von Außenstehenden so einseitig unter dem Blickwinkel der Ko- stendämpfung betrachtet wor- den wie heute, kritisierte der KBV-Vorsitzende, Dr. Hans Wolf Muschallik. Von der offiziellen Bonner Sozialpolitik muß man sogar als von einer Politik der Kosten verlagerung sprechen:
Der Krankenversicherung wer- den durch politische Entschei- dungen Mittel in Milliardenhöhe entzogen, nur um die Renten- versicherung zu stützen. Unter diesen Bedingungen wird es im- mer schwerer werden, den Um- fang und die Qualität der ärzt- lichen Versorgung unserer Be- völkerung zu erhalten.
Protest gegen Politik der ‚Kostenverlagerung'
Grundsatzbeschluss zur Entbürokratisierung
Gegen aberwitzige
‚Bedarfsplanungen' in Sorge um wachsendes
Akademikerproletariat Selbstverwaltung vor neuer Bewährungsprobe
So intensiv sich die Politiker um die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung kümmern, so scheu verleugnen sie die so- ziale Bedeutung der — wahrlich mit ungeheuren Ausbildungsko- sten bewirkten — Ärzteschwem- me und die brisanten Folgen ei- nes entstehenden „Akademiker- proletariats" — eine Entwick- lung, die jeden Politiker aufs höchste alarmieren und zum Handeln veranlassen müsse, wie Muschallik prononciert vortrug.
Wenn es aber um eine Regle- mentierung des Einsatzes von medizinischen Geräten geht, sind Gesetzesentwerfer ver- schiedenen politischen Glau- bens ganz schnell auf dem Plan,
wobei sogar bisher „heilige"
Grundsätze marktwirtschaft- licher Ordnung mehr oder weni- ger unbedenklich über Bord ge- worfen werden. Nach der von der früheren Regierungskoali- tion gesetzlich eingeführten kassenärztlichen „Bedarfspla- nung" würde die geplante Investitionslenkung für Erwerb und Nutzung medizinisch-tech- nischer Großgeräte einen neuen aberwitzigen Verwaltungsauf- wand erzwingen, gegen den sich die Kassenärzteschaft ve- hement zur Wehr setzen wird.
(Dr. Muschalliks „Bericht zur La- ge" ist ab Seite 1681 schwer- punktartig referiert.
Der Wille, sich der heute schon vorhandenen Gefahr der Büro- kratisierung entgegenzustem- men, die das empfindliche Gleichgewicht zwischen Frei- heit und Ordnung in der kassen- ärztlichen Berufsausübung stö- ren könnte, wurde im Rahmen der KBV-Vertreterversammlung auch in einer Diskussionsveran- staltung deutlich, die dem The- ma „Kassenärztliche Selbstver- waltung im Spännungsfeld von Freiberuflichkeit und Bürokra- tie" gewidmet war. (Im einzel- nen wird darüber ab Seite 1690 berichtet).
Die Kassenärztliche Bundesver- einigung hat eine aktive Entbü-
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DEUTSCHES ARZTEBLATT KBV-Vertreterversammlung
rokratisierungs-Strategie ent- wickelt, die darauf abzielt, das partnerschaftliche Verhältnis zwischen dem Kassenarzt und seiner Selbstverwaltung auf-
rechtzuerhalten. Eine solche Partnerschaft ist, wie es in einer von den Delegierten einstimmig verabschiedeten Resolution — der „Aachener Erklärung" — heißt, eine der Voraussetzungen für die innerärztliche Solidarität, auf der das kassenärztliche Ver- sorgungssystem notwendiger- weise beruht (Wortlaut der „Aa- chener Erklärung" Seite 1680).
In diesem Sinne steht die kas- senärztliche Selbstverwaltung vor einer erneuten Bewährungs- probe. Die „Entbürokratisie- rungspolitik" zielt — wie KBV- Hauptgeschäftsführer Dr. med.
Eckart Fiedler unterstrich — dar- auf ab, den „Bürokratie-Rah- men" des kassenärztlichen Wir- kens so klein wie möglich zu halten und dirigistische Eingriffe in die freiberufliche Tätigkeit des Kassenarztes abzuwehren.
Dazu macht die „Aachener Er- klärung" Grundsatzaussagen und gibt Empfehlungen zur kas- senärztlichen Selbstverwaltung.
Energische Forderungen richte- te die Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Bun desvereinigung in diesem Sinne aber auch an „die Politik": Die Tendenz in der Gesetzgebung, den Kassenärztlichen Vereini- gungen unter dem Vorwand ei- ner Stärkung der Selbstverant- wortung ständig neue Kontroll- aufgaben zu übertragen, ver- dient heftige Kritik. Die damit bewirkte Reglementierung der Berufsausübung des einzelnen Arztes untergräbt die ärztliche Freiberuflichkeit und führt zu ei- ner abträglichen Bürokratisie- rung und Fremdbestimmung der ärztlichen Tätigkeit, wie es in der Erklärung heißt.
Als Auswuchs der Bürokratie muß auch eine uneingeschränk- te Datenerhebung und Daten- verarbeitung im Gesundheits-
wesen gelten, welche die Per- sönlichkeitsrechte der Versi- cherten auszuhöhlen drohen.
Der Schutz der Intim- und Per- sönlichkeitssphäre des einzel- nen Bürgers muß aber garan- tiert bleiben.
Andererseits darf man nicht et- wa hinter jeder notwendigen Ordnungsmaßnahme bürokrati- schen Zwang argwöhnen, wie Muschallik während der Vertre- terversammlung mahnte, und etwa in kurzsichtiger Vertretung reiner Gruppeninteressen dazu auffordern, die eigene Selbst- verwaltung zu zerschlagen. Für die heutige kraftvolle Genossen-
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Ein Heer arbeitsloser Ärzte kann keine Stütze unseres Gesundheitswesens sein.
Darüber hinaus müßte der heute ganz allgemein er- kennbare Trend hin zu ei- nem 'Akademikerproleta- riat' eigentlich jeden Politi- ker alarmieren und zum Handeln veranlassen.
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Hans Wolf Muschallik schaft der Kassenärzte haben Generationen von Ärzten vor uns gekämpft. Wir werden sie heute und in naher Zukunft drin- gender brauchen denn je, wie Muschallik unter dem anhalten- den Beifall der Vertreterver- sammlung betonte. Jeder ein- zelne Kassenarzt ist aufgerufen, anstehende Entscheidungen mitzuprägen und mitzutragen.Lange vor dieser Sitzung der Vertreterversammlung hatte die Kassenärztliche Bundesvereini- gung den nordrhein-westfäli- schen Arbeitsminister, Prof. Dr.
Friedhelm Farthmann (SPD), eingeladen, vor dem Parlament
der Kassenärzte einen Vortrag zu halten zum Thema „Die Ent- wicklung des Systems der sozia- len Sicherung im Hinblick auf die gesetzliche Krankenversi- cherung und die Stellung einer freien Ärzteschaft in ihr". Und sie blieb bei dieser Einladung auch, nachdem Minister Farth- mann sich in sensationeller Wei- se an die Spitze einer publizisti- schen Kampagne gegen angeb- lich zu unbedenkliche oder gar fahrlässige kassenärztliche Arz- neiverordnungen gestellt hatte.
Farthmann seinerseits blieb ebenfalls bei seiner Zusage und nutzte die Gelegenheit, nicht nur seine Grundpositionen „im Hinblick auf die gesetzliche Krankenversicherung und die Stellung einer freien Ärzteschaft in ihr" aufzuzeigen, sondern auch auf seine publizistische Aktivität in Sachen Arzneiver- ordnungen einzugehen, die nicht nur die nordrheinische Kassenärzteschaft, deren „zu- ständiger Minister" er ist, so sehr enttäuscht und empört hat.
(Farthmanns Vortrag ist ab Seite 1686 referiert.)
Dem unvoreingenommenen Be- obachter erschien die Auseinan- dersetzung um seine eigenwilli- ge Interpretation von Marketing- daten der pharmazeutischen In- dustrie unfruchtbar, weil Farth- mann sachlichen Argumenten kassenärztlicher Sprecher in rei- ner Abwehr- und Rechtferti- gungshaltung begegnete, die den Schluß zuläßt: Er wird öf- fentlich nie etwas von seinen Äußerungen zurücknehmen, die allerdings, wie er mehrfach be- tonte, in der Publizistik keines- wegs so wiedergegeben worden seien, wie er sie getan habe.
Vor der Vertreterversammlung kritisierte er jetzt energisch die Erwartungs- und Anspruchshal- tung vieler Sozialversicherter, was gewiß Beifall verdiente; ihr zu begegnen wußte er aber auch kein anderes „Rezept", als die Ärzte aufzufordern, solcher
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Anspruchshaltung von Patien- ten „standhaft entgegenzutre- ten" und ihr nicht mit dem Re- zeptblock zu entsprechen.
Ein paar Besonderheiten des Referates von Prof. Farthmann seien hier noch hervorgehoben:
> seine progressiven Gedan- ken über ein Malus/Bonus-Sy- stem in der Finanzierung der ge- setzlichen Krankenversiche- rung,
I> seine traditionelle Forderung nach vorstationärer Diagnostik und nachstationärer Therapie am Krankenhaus
I> und vor allem sein Bekennt- nis, daß er eine größere politi- sche Chance darin sehe, das Problem der Ärzteschwemme
„bei der Zulassung" anzugehen.
Hier schloß sich der Kreis des vordergründig-politischen Ko- stendenkens: Zuviele Kassen- ärzte würden schließlich zuviele Leistungen erbringen...
Angesichts der Herausforderun- gen durch Arztzahl und Kosten- druck werden die Kassenärzt- lichen Vereinigungen tatsäch- lich dringlich darüber nachzu- denken haben, wie sie eine noch stärkere innovative Mobili- tät entwickeln könnten. Mu- schallik meinte damit einen Strukturwandel im ambulanten ärztlichen Bereich, „der Mitwir- kungsmöglichkeiten fortentwik- kelt und langfristig dazu bei- trägt, daß das wirtschaftliche und solidarische Verhältnis un- ter den Generationen in der Ba- lance bleibt". DÄ
Bildszenen aus der Vertreterversamm- lung: Das Plenum (oben) — Der nord- rhein-westfälische Arbeitsminister, Prof. Dr. Friedhelm Farthmann, zwi- schen Dr. Hans Wolf Muschallik und Sa- nitätsrat Dr. Josef Schmitz-Formes, den Ersten und Zweiten Vorsitzenden der KBV, links daneben Vorstandsmitglied Dr. Jens Doering, rechts Hauptge- schäftsführer Dr. Eckart Fiedler — Eine Abstimmung (unten)