A2518 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 39⏐⏐29. September 2006
P O L I T I K
T
erri Schiavo ist überall: Als die Amerikanerin, die 15 Jahre im Wachkoma gelegen hatte, Ostern 2005 nach der Einstellung der künst- lichen Ernährung und einem schier endlosen juristischen Tauziehen starb, hatte ihr Fall nicht nur Präsi- dent George Bush und die obersten US-Gerichte beschäftigt, sondern die gesamte Weltöffentlichkeit.Fälle wie die von Terri Schiavo gibt es auch in Deutschland: Beim Deutschen Juristentag in Stuttgart schilderte der Münchener Rechtsan- walt Wolfgang Putz unter anderem das Schicksal einer 75-jährigen Ko-
mapatientin, die weiter künstlich ernährt wurde, obwohl bei der zuckerkranken Frau bereits ein Bein abgestorben war und die Ärzte eine Operation ablehnten, weil keine Nar- kose mehr gemacht werden konnte.
Auf Intervention des Anwalts wurde die Patientin in ein anderes Kranken- haus verlegt, wo sie nach Einstellung der künstlichen Ernährung starb.
Solche Extremfälle sind es, die in Umfragen die Zustimmungswerte der deutschen Bevölkerung zu akti- ver Sterbehilfe in die Höhe schnellen
lassen. Und auch wenn Kirchen, Poli- tik und Ärzte vor einem Abrutschen in eine Gesellschaft warnen, die Schwerstkranke durch aktive Sterbe- hilfe entsorgt, und stattdessen für eine Stärkung der Palliativ- und Schmerz- medizin plädieren, bleibt die Frage:
Wie viel Medizin ist sinnvoll, und wo liegen die Grenzen zwischen einem erlaubten Behandlungsabbruch und der verbotenen aktiven Sterbehilfe?
Der Juristentag appellierte in mit großer Mehrheit verabschiedeten Empfehlungen an den Gesetzgeber, dem Willen der Patienten mehr Ge- wicht zu verleihen und Ärzten mehr
Rechtssicherheit zu verschaffen. Die Menschen sollen künftig per Patien- tenverfügung selbst über ihr Ende be- stimmen können, forderten die Dele- gierten. Schon vor der Sterbephase sollen Mediziner auf Behandlungen verzichten können oder lebenserhal- tende Maßnahmen beenden dürfen, wenn der Patient oder sein Bevoll- mächtigter dies ausdrücklich verlangt hat. In der Politik ist eine so weit- reichende Gültigkeit von Patienten- verfügungen umstritten. Und insbe- sondere die katholische Kirche wen-
det sich gegen einen Automatismus der Anerkennung: In jedem einzelnen Fall müssten die Lebensäußerungen des nicht mehr bewussten Patienten interpretiert werden, so der Moral- theologe Dietmar Mieth. Wenn eine Verfügung den Verzicht auf lebenser- haltende Maßnahmen beinhalte, dür- fe sie nur für Fälle gelten, in denen die bestehende Krankheit trotz medizini- scher Behandlung irreversibel und tödlich verlaufe.
Doch der Juristentag ging sogar noch einen Schritt weiter: Eine Mehrheit befürwortete, dass Men- schen nicht mehr bestraft werden, wenn sie es unterlassen, einen ande- ren nach einem freiverantwortlichen Selbsttötungsversuch zu retten. Zu- dem sollen Ärzte beim Suizid eines Schwerstkranken helfen dürfen, wenn dessen Leiden nicht ausrei- chend gelindert werden kann und er sich freiverantwortlich dafür ent- scheidet. Letzteres widerspricht dem geltenden ärztlichen Standes- recht und – so formulierte es der Präsident der Bundesärztekammer, Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, im Vorfeld – auch dem ethischen Selbstverständnis des Arztberufs.
Zwar sind die Empfehlungen des Juristentages nicht verbindlich, doch haben sie Einfluss auf die rechtspoli- tische Diskussion. Sollte sich die Po- sition zur Suizidproblematik durch- setzen, würden Sterbehilfeorganisa- tionen nach Schweizer Vorbild in Deutschland legal. Im vergangenen Jahr hatte die Schweizer Sterbehilfe- organisation „Dignitas“ in Hannover ein erstes deutsches Büro eröffnet.
In der Alpenrepublik leistete sie 2004 rund 105 Personen Beihilfe zur Selbsttötung, davon waren 80 Pro-
zent Ausländer. I
Christoph Arens/KNA
DEUTSCHER JURISTENTAG
Patientenverfügungen als verbindlich anerkennen
Ärzte sollen beim Suizid eines Schwerkranken helfen dürfen, wenn dessen Leiden nicht ausreichend gelindert werden kann und er sich freiverantwortlich dafür entscheidet.
Der Juristen- tag appellierte an den Gesetz- geber, dem Willen des Patienten mehr Gewicht zu verleihen.
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