nach seiner Abnabelung unabhängig vom Gewicht primär zu versorgen.
Andere Kollegen wehrten sich gegen die Schlußfolgerung, sie hät- ten sich mit Blick auf die Statistik von juristischen Definitionen leiten lassen. So wies Prof. Dr. Karl Bilek, Direktor der Universitätsfrauenkli- nik Leipzig, auf folgendes hin: Wenn ein Kind unter 1000 Gramm mit nur einem Lebenszeichen reanimiert wurde, danach auch nur vorüberge- hend zwei Lebenszeichen zeigte, schließlich aber doch starb, dann sei es als „gestorbener Säugling" gemel- det worden und habe insofern die entsprechende Statistik auch „bela- stet". Allerdings habe es nie eine Anweisung oder Druck staatlicher Stellen gegeben, die Statistik zu schönen. Prof. Dr. sc. med. Hans- Joachim Woraschk, Leiter der Abtei- lung Geburtshilfe der Universitäts- frauenklinik Halle, wies auf die
„Kommissionen zur Senkung der Säuglingssterblichkeit" hin. Dort sei- en die Umstände jedes Todesfalles analysiert und (auch mit dem verant- wortlichen Arzt) ausgewertet worden.
Keine andere
ethische Einstellung
Eher kurz streifte der „Spiegel"
auch Aspekte des Themas, die aus Sicht vieler Geburtshelfer und Päd- iater aber wesentlich sind: Die gerin- gen Überlebenschancen, die Frühge- borene in den 60er Jahren hatten, und die zum Teil heute noch unter- schiedlichen Haltungen von Ge- burtshelfern und Pädiatern zu Früh- geborenen. Gerade hier gehen die Einschätzungen, ob und welche Un- terschiede zwischen der DDR und der damaligen Bundesrepublik be- standen, aber weit auseinander.
„In den 60er Jahren gab es keine Chancen für Kinder unter 1000 Gramm — weder im Osten noch im Westen", stellte Prof. Dr. Dietrich Berg fest, Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Gynäko- logie und Geburtshilfe. Die Vorwürfe des „Spiegel" seien möglicherweise im Einzelfall berechtigt. Aber: „Eine grundsätzlich andere ethische Ein- stellung als bei uns kann ich daraus nicht ableiten." Prof. Dr. Volker von
Loewenich, bis 1991 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Perinata- le Medizin, ist der Auffassung, daß die
„Einstellung zu sehr kleinen Kindern an der Grenze der Lebensfähigkeit in der DDR der westdeutschen etwas hintergehinkt ist" — allerdings nur bis zum Ende der 60er Jahre und auch nur tendenziell. Unterschiede gäbe es bis heute in West wie Ost allerdings in der Einstellung von Geburtshelfern ei- nerseits und Pädiatern andererseits;
hier müsse der Austausch noch ver- bessert werden.
Einige ostdeutsche Ärzte beto- nen nicht nur, daß in ihren Kliniken niemals Frühgeborene ertränkt, son- dern allenfalls nach der notwendigen Versorgung gestorben seien. Sie sind sogar der Auffassung, daß die DDR der Bundesrepublik zeitweise überle- gen gewesen sei: Mitte der 70er Jahre sei in der DDR die Bereitschaft, Kin- derärzte im Kreißsaal hinzuzuziehen, deutlich größer gewesen als in der Bundesrepublik, äußerte Dr. med.
Hartmut Böttcher, Abteilungsober- arzt der Neonatologischen Abteilung der Frauenklinik am Städtischen Kli- nikum St. Georg, Leipzig. Dr. med.
Christoph Vogtmann weist darauf hin, daß die DDR-Ärzte wegen der guten Organisation der neonatologi- schen Betreuung oft von westdeut- schen Kollegen beneidet worden seien.
Dennoch: Die thüringische Lan- desregierung leitete eine landesweite Untersuchung an den Krankenhäu- sern ein, wo Frauen entbinden kön- nen. Außerdem hat die Staatsanwalt- schaft Erfurt Ermittlungen aufge- nommen Inzwischen hat die ange- gangene Medizinische Akademie Er- furt auf der Grundlage der Kranken- und Geburtenbücher eine Liste der Früh- und Totgeburten in den Jahren 1964 und 1965 sowie zwischen 1980 und 1990 erstellt. Sie soll der Staatsan- waltschaft gegebenenfalls den schnel- len Zugriff auf Krankenblätter im Ar- chiv ermöglichen. Die Behauptungen der Hebamme im „Spiegel" hatten sich auf diese Zeiten bezogen. Außer- dem hat sich auf Bitten des Ministeri- ums auch der Ausschuß Vergangen- heitsbewältigung der Ärztekammer Thüringen der Vorwürfe angenom- men und will sie gründlich prüfen.
Sabine Dauth/Dr. Gerhard di Pol
Berufsrecht
Ärzte dürfen
nicht „umherziehen"
Welche Leistungen darf ein nie- dergelassener Arzt außerhalb seiner Praxis erbringen, ohne mit der Be- rufsordnung in Konflikt zu kommen?
Mit dieser Frage befaßten sich die Rechtsberater der Ärztekammern auf einer Tagung in Berlin. Im Vor- dergrund der Diskussion standen Bestimmungen der Musterberufs- ordnung, wonach es Ärzten verboten ist, ihre ambulante ärztliche Tätig- keit im „Umherziehen" auszuüben, Zweigpraxen zu unterhalten und für ihre ärztliche Tätigkeit zu werben.
Wenngleich heutzutage kein Arzt mehr auf die Idee käme, seine Heilkunst öffentlich auf Marktplät- zen anzubieten, gibt es dennoch Si- tuationen, die zu berufsrechtlichen Kollisionen führen könnten. Zum Beispiel: die Betreuung von Mitglie- dern eines Sportvereins in gesund- heitlichen Fragen außerhalb der Sprechstunden. Nach Auffassung der Rechtsberater ist dies zulässig, solange der Arzt dabei nicht Patien- ten für seine Praxis „anwirbt" und seine Heilkunst nur in dem Umfang ausübt, der durch _den Beratungs- zweck geboten ist Ähnliches gilt für die Beratung von Fitneßcentern und dergleichen.
Was ebenfalls vorkommt: Ein Arzt oder mehrere Ärzte einer Ge- meinschaftspraxis erbringen be- stimmte medizinisch-technische Lei- stungen außerhalb ihrer unmittelba- ren Praxisräume in einem „Appara- tezentrum". Dagegen spricht aus Sicht der Rechtsberater nichts, wenn dort kein „Erstkontakt" mit dem Pa- tienten stattfindet. In dem geschil- derten Fall handele es sich insofern um eine zulässige „ausgelagerte Pra- xisstätte", aber nicht um eine verbo- tene Zweigsprechstunde.
Würden demgegenüber aber Ärzte mit ihrem medizinisch-techni- schen Gerät von Praxis zu Praxis zie- hen, um dort die Patienten des Pra- xisinhabers zu untersuchen, läge ein eindeutiger Verstoß gegen die Be- rufsordnung vor. JM A1 -762 (22) Dt. Ärztebl. 89, Heft 10, 6. März 1992