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A1996 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 28–29⏐⏐17. Juli 2006
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ber „die erste Tote“ des Ärztestreiks berichtete die Bild-Zeitung am 13.Juni. Wegen Herzproblemen sei eine Frührentnerin Anfang Juni in die Uniklinik Göttingen eingeliefert worden, schrieb das Boulevardblatt. Trotz alar- mierender EKG-Werte sei die Frau jedoch nicht der angeord- neten Herzkatheter-Untersu- chung unterzogen worden, „da auch die Kardiologen streik- ten“.Wenig später verstarb sie.
Eine solche Berichterstat- tung steht beispielhaft für die Stimmungsmache, wie sie ver- einzelt gegen den Arbeits- kampf der Ärzte betrieben wird – zumal der angeführte Fall denkbar schlecht geeignet war, um den Streik zu diskredi- tieren. Denn wie seriöse Medi- en berichteten, hatte die Pati- entin eine stationäre Behand- lung zuvor abgelehnt, die ihr der behandelnde Arzt trotz des laufenden Streiks dringend empfohlen hatte. Die Aufnah- me war deswegen auf Anfang Juni verschoben worden.
Auf dem Rücken der Patienten?
Trotzdem trugen ähnliche Be- richte während des fast 14- wöchigen Ärztestreiks an den Unikliniken zu einer Debatte über vermeintliche Verletzun- gen ethischer Verpflichtungen durch die Ärzte bei. Mit Be- ginn des Ausstandes an kom- munalen Kliniken ist nun eine Fortsetzung dieser Diskussion zu erwarten. Bereits einen Tag nach Beginn der Streiks äußer- te der Deutsche Städtetag har- sche Kritik an den streikenden Ärzten, deren Proteste er als
„völlig überzogen“ bezeichne- te. „Ich habe die große Sorge, dass der Konflikt auf dem Rücken der Patienten ausge- tragen wird“, sagte Dr. Helmut Fogt, Sozialdezernent des Deutschen Städtetages, der Berliner Zeitung.
Dabei achten die ärztlichen Leitungen bestreikter Klini- ken peinlich genau auf die not- wendige Versorgung Hilfsbe- dürftiger. Am Tübinger Uni- klinikum etwa tagte während des Streiks allmorgendlich ei- ne Kommission, der neben Professoren aller Fachberei-
che auch Vertreter der Strei- kenden angehörten. Gemein- sam entschied man über not- wendige und aufschiebbare Operationen. Im Berliner Ta- gesspiegel lobte der Ärztliche Direktor, Prof. Dr. Michael Bamberg, dieses Vorgehen als
„sehr gut und sehr verantwort- lich“. Ähnliches berichtete der Anästhesist und Sprecher der Jenaer Uniklinik, Dr. Mark Si- mon, gegenüber dem Deut- schen Ärzteblatt. Wie auch in anderen Städten habe es in Je- na zu Beginn der Proteste eine Notfallvereinbarung zwischen dem Marburger Bund (MB) und der Klinikleitung gege- ben. In Jena seien die entspre- chenden Festlegungen „sehr großzügig“ ausgelegt worden.
Wie in Tübingen wurden die OP-Programme gemeinsam mit den Stationen zusammen- gestellt. „Für uns war klar, dass Tumorpatienten zum Bei- spiel immer operiert werden“, betonte Simon: „Niemand war oder ist durch die Proteste in seiner Gesundheit gefährdet.“
Der Kritik tat das keinen Abbruch. „Ethisch bedenk- lich“ nannte etwa der Ärztliche Direktor der Universitätskli- nik Magdeburg den Arbeits- kampf. Im Internetforum des Zentrums für Medizinische
Ethik der Ruhr-Universität Bochum führte die Frage nach den ethischen Grenzen des Ausstandes Mitte des Monats ebenfalls zu einer Kontroverse.
Dabei wurde deutlich: Ethi- sche Grundsätze wurden wäh- rend der Streiks wohl nicht ver- letzt, höchstens individuelle moralische Auffassungen. Dar- auf verwies etwa der US- Bioethiker Dr. Erich Löwy. Ein jeder habe persönliche Moral- begriffe, dies sei aber nicht mit Ethik gleichzusetzen: „Ethik versucht ja gerade, einen ge- meinsamen Nenner zwischen verschiedenen Moralbegriffen herzustellen.“
Vermeiden sinnlosen Leidens An der moralischen Aufrich- tigkeit des MB wurden aber im Internetforum erhebliche Zweifel geäußert. „Extrem problematisch“ sei der Ein- druck, dass die Klinikärztege- werkschaft nicht an strukturel- len Veränderungen interessiert sei, beklagte ein Diskussions- teilnehmer, der an einer Klinik in Nordrhein-Westfalen in der Verwaltung tätig ist: „Wenn Ärzte im Wissen, dass die Mit- tel im Gesundheitswesen limi- tiert sind, 30 Prozent mehr Ge- halt fordern, dann nehmen sie
billigend in Kauf, dass diese Mittel beim Pflegepersonal eingespart werden.“
Dr. Lothar Pilgenröder, Anästhesist aus Nordrhein- Westfalen mit 40-jähriger Be- rufserfahrung, zeigte für die streikenden Ärzte zwar Ver- ständnis, an der Streikführung aber übte auch er Kritik. Die letzten Wochen hätten gezeigt, dass der MB an einer Ände- rung der Strukturen im Ge- sundheitswesen kein Interesse habe. Die Gewerkschaft habe auf mehr Gehalt und eine Ver- besserung der Arbeitsbedin- gungen bestanden, ohne die drängenden Probleme zu the- matisieren: Abbau der Hierar- chien in den Kliniken,interpro- fessionelle Zusammenarbeit mit der Pflege und Weiterbil- dung des Nachwuchses.
Wenn also, wie Bioethiker Löwy feststellt, ein grundsätzli- ches Kriterium in der Ethikde- batte „das Vermeiden sinnlo- sen Leidens“ ist, dann ließe sich auch daraus eine Kritik an dem Streik formulieren. Zwar werden in den Kliniken lebens- wichtige Versorgungen auf- rechterhalten. Das Leiden ei- nes Patienten mit nicht lebens- bedrohlicher Erkrankung, des- sen Schmerzen durch den Auf- schub einer Operation über Wochen verlängert werden, muss vom (medizin)ethischen Standpunkt aus aber hinrei- chend begründet werden; etwa mit dem Ziel einer nachhalti- gen Verbesserung von Pflege und medizinischer Versorgung für künftige Patienten. Die Höhe des Gehalts eines Teils der Klinikbelegschaft würde nicht ausreichen; verbesserte Arbeitsbedingungen für Ärzte nur dann, wenn sie nachhaltig die Sicherheit der Patienten ge- währleisten.
Löwy und andere Diskussi- onsteilnehmer wiesen in der Debatte daher auf alternative Formen des Ärztestreiks hin.
„Warum arbeiten wir nicht alle einfach normal weiter, unter- lassen aber das Abrechnen der Diagnosebezogenen Fallgrup- pen?“, fragte eine Ärztin. In diesem Fall würde Druck auf die Träger ausgeübt,die Patien- ten wären aber weiter gut ver- sorgt. Harald C. Neuber S T A T U S
Ethik im Arbeitskampf
Dürfen Ärzte streiken?
Foto:Eberhard Hahne