T H E M E N D E R Z E I T
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A162 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 4½½½½26. Januar 2001
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enn ein Patient nicht mehr entscheidungsfähig ist, muss – so der juristische Hauptgut- achter, Prof. Dr. jur. Jochen Taupitz, Universität Mannheim – nach gelten- der Rechtslage vom Arzt eine rechts- wirksame Einwilligung durch einen Stellvertreter des Patienten eingeholt werden. Dieser muss zuvor entwederdurch das Vormundschaftsgericht („Betreuer“) oder im Vorfeld durch den Betroffenen selbst („Vorsorgebe- vollmächtigter“) zur Wahrnehmung dieser Stellvertretung legitimiert wor- den sein. Damit sind also selbst die nächsten Angehörigen keineswegs
„automatisch“ entscheidungsbefugt.
Der Stellvertreter muss – wie sonst der Patient – vom Arzt hinreichend über die vorgesehenen Maßnahmen aufge- klärt werden.
Außerdem ist eine vormundschafts- gerichtliche Genehmigung vorgeschrie- ben, wenn aufgrund der vorgesehenen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme „. . . die begründete Gefahr besteht“, dass der Patient „stirbt oder
einen schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schaden erleidet“
(§ 1904 Abs. 1 BGB). Bei konsequenter Umsetzung dieser Rechtsvorschrift wären jährlich rund 100 000 bis 200 000 vormundschaftsgerichtliche Genehmi- gungsverfahren erforderlich. Zum Ver- gleich: Die Amtsgerichte klagen heute schon über Überlastung und bewälti- gen knapp 3 000 Fälle pro Jahr.
Verzichtet der Arzt auf die Erwirkung einer ge- richtlichen Genehmigung, liegt keine rechtswirksa- me Einwilligung vor:
Ausnahmen sind nur dann zulässig, wenn eine akute Notfallsituation besteht oder aber der Sterbeprozess des Patienten bereits einen irreversiblen Ver- lauf genommen hat. Kommt es zu einer Auseinander- setzung mit Angehörigen, drohen dem Arzt weit rei- chende zivil- und straf- rechtliche Konsequenzen – zum Beispiel Schadens- ersatzforderungen, Ver- urteilung wegen Körper- verletzung aufgrund „ei- genmächtiger“ oder gar
„aufgedrängter“ ärztlicher Heilbe- handlung.
Auch die Fachreferenten aus den Bereichen Medizin (Prof. Dr. med.
Ruth Mattheis, Vorsitzende der Ethik- Kommission der Ärztekammer Ber- lin), Medizinethik (Dr. med. Bettina Schöne-Seifert, Frankfurt/Main) und Rechtsprechung (Vorsitzender Richter
Werner Ruhl, OLG Frankfurt/Main) gingen auf dieses Problem ein. Über- einstimmend bestätigten sie die Plausi- bilität der statistischen Daten, die einen Eindruck vom tatsächlichen Ausmaß der Probleme vermitteln, die unter epidemiologisch-demographischen und forensischen Gesichtspunkten drohen.
Die geltenden Bestimmungen sind mit dem Betreuungsrechtsänderungs- gesetz zum 1. Januar 1999 in Kraft ge- treten. Zuvor war nach vorherrschen- der Rechtsauffassung der vom Be- troffenen eingesetzte „Vor-
sorgebevollmächtigte“
(§ 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB) auch bei medizi- nischen Risikomaßnah- men frei von der obliga- ten vormundschaftsge- richtlichen Aufsicht. Die erhebliche forensi- sche Sprengkraft dieser Neure- gelung wurde zunächst auch von ärztlicher Seite unter- schätzt, die Ver- schärfung der Rechtslage ver- einzelt sogar begrüßt, ob- gleich der hierdurch angeblich verbes- serte „Vertrauensschutz“ für den Pati- enten in der Rechtsrealität nur auf dem Papier bestand.
Da heute schon viele Stellvertre- terentscheidungen in Gesundheitsfra- gen offenkundig nicht auf der Grund- lage rechtswirksamer Einwilligungen erfolgen und sich die Beteiligten damit
63. Deutscher Juristentag
Juristentag berücksichtigt Bedenken der Ärzteschaft
Eine neue Diskussion um eine praktikable Reform der zivil-
rechtlichen Grundlagen für Vorausverfügungen und Stellvertreter- entscheidungen in Gesundheitsfragen ist unumgänglich.
1Klinik für Anästhesiologie und operative Intensiv- medizin der Christian-Albrechts-Universität, Kiel
2Akademie für Ethik in der Medizin, Göttingen
Prof. Taupitz: Nach geltendem Recht sind selbst die nächsten Angehörigen nicht au- tomatisch entscheidungsbefugt.
Volker Edwin Scharf
1C laudia Wedel Meinolfus Strätling
1, 2Der63. Deutsche Juristentag in Leipzig(26.
bis 29. September 2000) befasste sich mit Fra- gen zivilrechtlicher Regelungen zur Absiche- rung der Patientenautonomie am Ende des Le- bens. Aus ärztlicher Sicht galt es vor allem auf praktische Probleme hinzuweisen, die sich im Zusammenhang mit Vorausverfügungen von Patienten sowie insbesondere Stellvertreterent- scheidungen in Gesundheitsfragen ergeben.
Foto: Universität Mannheim
in einer sehr problematischen „juristi- schen Grauzone“ bewegen, wäre es für die Rechtssicherheit der Ärzte verhee- rend gewesen, wenn der Deutsche Ju- ristentag (DJT) dem Gesetzgeber und den für die „Rechtsfortentwicklung“
zuständigen Gerichten eine weitere, realitätsferne Verschärfung der Rechts- lage empfohlen hätte. Tatsächlich sah die ursprüngliche Beschlussvorlage eine Ausweitung des gerichtlichen Genehmigungserfordernisses vom
„schweren ge- sundheitlichen Schaden“ auf ein
„erhebliches Ri- siko“ vor. Schwer-
wiegender noch wäre der geplante Wegfall der „Zeitkomponente“ gewe- sen: Zurzeit erfordert lediglich ein drohender „länger dauernder Gesund- heitsschaden“ die gerichtliche Geneh- migung, wobei in den Kommentaren zum BGB – abhängig von der Schwere – meist von rund einem Jahr ausgegan- gen wird. Wäre diese Regelung entfal- len, hätten bereits mögliche Komplika- tionen von nur wenigen Stunden, Ta- gen oder Wochen Dauer ein gerichtli- ches Genehmigungsverfahren erzwin- gen können. Glücklicherweise wurde diese Beschlussvorlage bereits zu ei- nem frühen Zeitpunkt der Diskussion – nach Darstellung der Bedenken der Ärzteschaft – zurückgezogen.
Überprüfung durch das
Gericht keineswegs zwingend
Der DJT mochte dem Gesetzgeber ei- ne vollständige Streichung der erst 1999 eingeführten gerichtlichen Kon- trolle des Vorsorgebevollmächtigten aus rechtswissenschaftlichen Überle- gungen bisher nicht empfehlen. Er machte aber deutlich, dass die zurzeit vorgeschriebene Grundsätzlichkeit, mit der jede medizinisch risikobehaftete Stellvertreterentscheidung gerichtlich überprüft werden soll, auch rechtssy- stematisch keineswegs zwingend ist:
Sogar Entscheidungen, die den Tod des Patienten zur Folge haben, wie die Ablehnung lebensverlängernder Maß- nahmen, könnten nach dem Votum des Juristentages bei einer zukünftigen Gesetzesreform zum Teil von der Rou-
tinekontrolle ausgenommen werden, wenn kein Anhalt auf Missbrauch der Stellvertreterentscheidung erkennbar ist.
Für rechtssystematisch sinnvoll er- achtete der Juristentag die strengere Kontrolle eines durch ein Gericht ein- gesetzten Betreuers gegenüber einem vom Patienten als Vertrauensperson gewählten Vorsorgebevollmächtigten in Gesundheitsfragen. So empfahl der DJT für den Betreuer die Beibehaltung und Festschrei- bung der heuti- gen Gesetzeslage und gerichtlichen Rechtsfortent- wicklung. Demnach wären – wie bisher – alle Einwilligungen in medizinische Maßnahmen genehmigungspflichtig, bei denen das individuelle oder allge- meine Risiko hoch ist. Gleiches gilt für die Ablehnung oder Einstellung le- benserhaltender Maßnahmen.
Eine Ausweitung der Genehmi- gungspflicht auf Entscheidungen der Eltern für ihre minderjährigen Kinder wurde nach Darlegung ärztlicher Be- denken nicht empfohlen. Gleichwohl wurde Regelungsbedarf gesehen: „Die rechtlichen und ethischen Fragen, die sich bei Entscheidungen über lebens- erhaltende Maßnahmen bei Minder- jährigen ergeben und die sich insbe- sondere bei schwerbehinderten Neu- geborenen stellen, bedürfen einer ge- sonderten Erörterung und Entschei- dung. Der Gesetzgeber sollte die Kri- terien der Einwilligungsfähigkeit bei Minderjährigen gesetzlich näher re- geln.“
Um Gerichte, Krankenhäuser und Ärzte zu entlasten, wurde eine weitere Stärkung und Propagierung der eigen- verantwortlichen Vorsorge der Patien- ten als sinnvoll angesehen. Dabei soll- ten jedoch keine überflüssigen Hür- den aufgebaut werden. Gleichwohl gelte es, „Wirksamkeitsvoraussetzun- gen“ für Vorausverfügungen des Pati- enten zu definieren, damit Arzt und Patient sich gegenseitig auf die grundsätzliche Verbindlichkeit des Verfügten verlassen können. So wurde eine Aufklärung der Betroffenen durch Ärzte oder Beratungsstellen im Zusammenhang mit der persönlichen Vorsorge für den Fall einer späteren
Entscheidungsunfähigkeit für sinnvoll erachtet. Zugleich sei es notwendig, diese Aufklärung gesondert zu hono- rieren: „Die Patientenverfügung und die Bestellung eines Gesundheitsbe- vollmächtigten sind wichtige Instru- mente der Selbstbestimmung am Ende des Lebens. Eine qualifizierte Bera- tung bei der Abfassung von Patienten- verfügungen und bei der Erteilung ei- ner Gesundheitsvollmacht kann nur geleistet werden, wenn diese Leistung angemessen vergütet wird.“ Der Pati- ent muss allerdings – analog zur Ein- willigungsaufklärung – auch die Mög- lichkeit haben, auf eine solche Auf- klärung zu verzichten.
Gefragt sind konkrete Lösungsvorschläge
Die Verhandlungen des 63. Deutschen Juristentages machten deutlich, dass eine neuerliche Diskussion um eine praktikable Reform der zivilrechtli- chen Grundlagen für Vorausverfügun- gen von Patienten und Stellvertre- terentscheidungen in Gesundheitsfra- gen unumgänglich ist. Auch andere in diesen Fragen betroffene und kompe- tente Fachgesellschaften, Organisatio- nen und Expertengremien aus Medi- zin und Rechtswissenschaft sind gefor- dert, dem Gesetzgeber mittelfristig so- wie in möglichst „konzertierter Form“
konkrete Vorschläge zur Lösung der Probleme zu unterbreiten. Diese müs- sen interdisziplinär-wissenschaftlichen Ansprüchen und Erkenntnissen ge- recht werden sowie den legitimen, bis- weilen auch konkurrierenden Interes- sen aller Beteiligten Rechnung tragen.
❚Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2001; 98: A 162–163 [Heft 4]
Das Literaturverzeichnis kann über die Internet-Seiten des Deutschen Ärzteblattes (www.aerzteblatt.de) auf- gerufen werden.
Anschrift für die Verfasser:
Volker Edwin Scharf Klinik für Anaesthesiologie und operative Intensivmedizin der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Schwanenweg 21
24105 Kiel
E-Mail: scharf@anaesthesie.uni-kiel.de T H E M E N D E R Z E I T
Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 98½½½½Heft 4½½½½26. Januar 2001 AA163