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Archiv "NS-„Euthanasie“: Gedenken, forschen, dokumentieren – aber wo?" (09.01.2012)

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A 24 Deutsches Ärzteblatt

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Jg. 109

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Heft 1–2

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9. Januar 2012

D

ie Bemühungen um einen angemessenen Gedenkort für die Opfer der NS-„Euthanasie“

verliefen bisher äußert zäh. Das liegt am Ort, an divergierenden In- teressen, am Schwarze-Peter-Spiel von Bund und Land. Am 10. No- vember 2011 nun hat sich der Bun- destag für eine „Aufwertung“, so die Formel des Berichterstatters, Marco Wanderwitz (CDU/CSU), des bestehenden Gedenkorts in der Tiergartenstraße 4 in Berlin ausge- sprochen. Die Bundesregierung soll den Auftrag des Parlaments ge- meinsam mit dem Land Berlin um- setzen und dabei die Stiftungen

„Denkmal für die ermordeten Ju- den Europas“ sowie „Topographie des Terrors“ einbeziehen. Im Haus- halt von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) werden 2012 für den Gedenkort 500 000 Euro bereitgestellt. Der Bundestag beschloss einstimmig. Lediglich die „Linke“ enthielt sich. Sie plä- diert zwar auch für den Gedenkort.

Ihre Vorschläge gehen aber über die „Aufwertung“, auf die sich die übrigen Fraktionen verständigen konnten, hinaus; sie spricht sich für ein „Dokumentationszentrum“ und gegen die „Auslagerung der Infor- mation“ in die „Topographie“ aus.

Es gibt eine verworrene (Interessen-)Lage

In der Berliner Tiergartenstraße 4, einer „arisierten“ Villa, saßen die Schreibtischtäter. Verwaltungsbeam- te und Ärzte planten und organisier- ten mit einer ausgefeilten Logistik den Massenmord an Geisteskranken und Behinderten, dem 1940 und 1941 etwa 70 000 hilflose Men- schen zum Opfer fielen: die später sogenannte Aktion T4. Umgebracht wurden die Wehrlosen in den Gas- kammern in sechs Mordanstalten, fünf davon in Deutschland, eine in Österreich. Neben und nach T4 wurden Patienten in Krankenhäu- sern, „Kinderfachabteilungen“ und Heimen durch Medikamente und Hungerkost getötet oder – im be- setzten Osten – von mobilen Ein- satzgruppen durch Auspuffgase oder Exekution umgebracht. Die Rede ist von 200 000 Opfern, ande- re sprechen von 300 000.

An der Stelle der T4-Villa steht heute teils die Berliner Philharmo- nie, teils eine Bushaltestelle für die Freunde abendlichen Musikgenus- ses. 1987 erinnerte erstmals eine in einen Doppeldeckerbus gezwängte Ausstellung auf dem Busparkplatz an den ursprünglichen Ort. Sie war organisiert von einer Geschichts- werkstatt um den Historiker und Journalisten Götz Aly. Im Gefolge der Ausstellung wurde 1991 eine Gedenktafel in den Boden einge - lassen, ergänzt seit 2008 um eine Infotafel. Zum Ensemble gehört schließlich noch ein zweckentfrem- detes Objekt von Richard Serra (zwei gewaltige, sich einander zu- neigende Stahlplatten namens „Ber- lin Junction“), das viel mit der ge- teilten Stadt, aber nichts mit der

„Euthanasie“ zu tun hat. Weitere Gedenkorte, teils verbunden mit päd agogischen Angeboten, gibt es in den früheren Mordanstalten, so in Brandenburg (Havel), auf das in Berlin gern verwiesen wird, gele- gentlich auch in Kliniken mit belas- teter Vergangenheit.

Runder Tisch bei der „Topographie des Terrors“

Seit vier Jahren versammeln sich in Berlin Opfer- und Behinderten- verbände, Historiker und Ärzte um einen Runden Tisch, den die „To- pographie des Terrors“ organisiert.

Diese sowie die Stiftung „Denk- mal für die ermordeten Juden Europas“ organisierten 2009 zu- dem eine Konferenz im Berliner Martin-Gropius-Bau. Deren Teil- nehmer sprachen sich dafür aus, an der Tiergartenstraße 4 einen „Ort des Gedenkens wie der Informa - tion“ zu schaffen. Eine solche For- mel findet man auch im Beschluss des Bundestages. Es spricht vieles dafür, dass die einen darunter et- was anderes verstehen als die an- deren. Dem Gedenken am Ort der Täter stimmen zwar alle zu. Doch die Bandbreite der geforderten In- formation reicht von einigen Info- tafeln am Ort, über Ausstellungen in der „Topographie“ oder beim Holocaust-Denkmal bis hin zu ei- genen Räumen neben der Philhar- monie. Auf eine möglichst sparsa- me Variante deutet der Bundes- NS-„EUTHANASIE“

Gedenken, forschen, dokumentieren

– aber wo?

Der Bundestag empfiehlt, den Gedenkort an der Tiergartenstraße

in Berlin aufzuwerten.

Jetzt ist das Land am Zuge.

Ein Kompromiss deutet sich an.

Foto: picture alliance

T H E M E N D E R Z E I T

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Deutsches Ärzteblatt

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9. Januar 2012 A 25 tagsbeschluss hin, für die umfas-

sendste setzt sich der Arbeits- kreis zur Erforschung der national- sozialistischen „Euthanasie“ und Zwangssterilisation ein: Die Rea - lisierung eines Dokumentations- und Gedenkortes an historischer Stelle sei eine nationale Aufgabe, betont Dr. med. Gerrit Hohendorf, München, vom Arbeitskreis, und sei mit Bundesmitteln zu fördern.

Auch die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), tritt dafür ein, „dass neben dem Ort des Gedenkens ein solcher der wis- senschaftlich abgesicherten Doku- mentation und Information ent- steht“, so Prof. Dr. med. Dr. rer.

soc. Frank Schneider, Aachen, im Gespräch mit dem Deutschen Ärzte- blatt.

Psychiater: Aberkennung der Ehrenmitgliedschaft

Die DGPPN spielt bei dem Thema neben dem „Runden Tisch“ eine be- sondere Rolle. Sie hat unter Schnei- ders Ägide und fortgesetzt durch den derzeitigen Präsidenten der Ge- sellschaft, Prof. Dr. med. Peter Fal- kai, Göttingen, eine viel beachtete Initiative zur Aufarbeitung der NS- Vergangenheit gestartet. So hat sie im Vorjahr eine Gedenkveranstal- tung während des Jahreskongresses der Gesellschaft ausgerichtet, fort- gesetzt in diesem Jahr mit der Vor- stellung von Täter-Biografien; die- se mündete in die Aberkennung der DGPPN-Ehrenmitgliedschaften von Prof. Dr. med. Friedrich Mauz und Prof. Dr. med. Friedrich Panse, beide T4-Gutachter, beide nach dem Krieg gleichwohl zu Ehren gekom- men. Die Gesellschaft hat zudem einen Spendenaufruf initiiert, dem sich eine Vielzahl von ärztlichen Vereinigungen angeschlossen hat (Spendenkonto DGPPN, 5252, bei Sal. Oppenheim, BLZ 37030200, Stichwort Spendenaufruf). Mit den Spenden, bisher ungefähr 30 000 Euro, sollen zum Beispiel eine (Wander-)Ausstellung oder die Er- forschung von Opfer- und Täterbio- grafien gefördert werden. Schnei- der weist darauf hin, dass in „Eu- thanasie“ und Zwangssterilisation nicht allein Psychiater verwickelt

waren, sondern auch Ärzte weiterer Fachgebiete. Auch sei das Thema in einen größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhang zu stellen. Tatsäch- lich haben sich in jüngster Zeit mehrere Fachgesellschaften ihrer Vergangenheit in der NS-Zeit ge- stellt, so die der Kinderärzte, der Chirurgen oder der Urologen.

Die DGPPN ist bereit, für eine Ausstellung 100 000 Euro beizu- steuern, so sich denn ein Ausstel- lungsmacher und der passende Ort finden. Vor allem aber finanziert sie über einen Zeitraum von zehn Jah- ren die Stelle eines wissenschaftli- chen Mitarbeiters, etabliert beim Medizinhistorischen Institut der Universität Gießen. Dessen Leiter, Prof. Dr. Volker Roelcke, steht auch einer Kommission zur Aufarbei- tung der Geschichte der DGPPN und deren Vorgängerinnen vor. Die Aufarbeitung ist zweigeteilt. Prof.

Dr. Hans-Walter Schmuhl, Biele- feld, bearbeitet unter anderem die

Beteiligung von Repräsentanten der Gesellschaft an Zwangssterilisa - tionen und Krankentötungen. Eine Monografie soll Anfang 2013 vor- liegen. Prof. Dr. Rakefet Zalashik, Heidelberg, geht dem Schicksal als „jüdisch“ und/oder „politisch unzuverlässig“ stigmatisierter Mit- glieder der Gesellschaft nach. Ei- ne Monografie dazu ist nicht vor 2014/2015 zu erwarten.

Die Aktivitäten der DGPPN ha- ben auch bei der Beschlussfassung des Bundestages eine Rolle ge- spielt. Nebenbei: Ein Beleg dafür, dass sich anhaltendes bürgerschaft- liches Engagement doch lohnt. Jetzt ist Berlin am Zuge. Das Land wer- de gemeinsam mit dem Bund im Jahr 2012 einen Gestaltungswettbe- werb für den „Gedenk- und Infor- mationsort T4“ ausloben, bestätigte die Senatskanzlei für Kultur auf An frage, allerdings vorbehaltlich der Genehmigung des Haushaltes 2012/2013 durch das Abgeordne- tenhaus. Es handele sich nicht um ein „Mahnmal“ oder eine „Denk- malsetzung“, versicherte die Spre- cherin der Senatskanzlei, sondern um einen künstlerisch gestalteten Gedenkort, „der Informationen über diesen Ort und seine Ge- schichte“ integriere, jedoch „die Planung eines neuen Gebäudes oder anderen Baukörpers auf dem Vor- platz der Philharmonie“ ausschlie- ße. Die „Topographie des Terrors“

sowie die Stiftung „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, die beratend tätig seien, „würden im Rahmen ihrer sonstigen Veranstal- tungs- und Ausstellungstätigkeit“

auf die Thematik eingehen.

Als Gegner einer Gedenkstätte wird hinter vorgehaltener Hand in Berlin häufig die Philharmonie ge- nannt. Die Stiftung Berliner Phil- harmoniker versichert indes auf Nachfrage „sie sei offen für jede konstruktive Diskussion“. Sie wer- de Pläne für ein „Denkmal“ unter- stützen, „wenn sie denn konkret werden“. Da die Tiergartenstraße 4 sich in unmittelbarer Nähe zur heu- tigen Philharmonie befunden habe,

„macht die Errichtung eines Denk- mals selbstverständlich auch hier

nur Sinn“.

Norbert Jachertz Friedrich Mauz

(1900–1979), wirk- te wie Panse als Gutachter für die

„Aktion T4“, der in den Jahren 1940 und 1941 etwa 70 000 Menschen zum Opfer fielen.

Foto: Bildarchiv Foto Marburg

Friedrich Panse (1899–1973), übte wie Mauz in der Nachkriegszeit das Amt des Präsiden- ten der Deutschen

Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenheilkunde aus.

Foto: Archiv

T H E M E N D E R Z E I T

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