Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 106|
Heft 43|
23. Oktober 2009 A 2141 NS-EUTHANASIE IN WEISSRUSSLANDKaum bekannte Geschichte
Ein Mahnmal erinnert an 1 200 ermordete Patienten und zeugt zugleich von einem versöhnenden Projekt.
M
ogilew liegt etwa 200 Kilo- meter südöstlich von Minsk, eine Bezirkshauptstadt mit 370 000 Einwohnern am Dnjepr, ein Ort in Weißrussland. Weißrussland hat im Zweiten Weltkrieg unter der deut- schen Besatzung stark gelitten.Umso bemerkenswerter ist es, dass unlängst in Mogilew ein belarus- sisch-deutsches Projekt, das die
„gemeinsame, nicht einfache Ge- schichte“ (so ein lokaler Funktio- när) thematisiert, vollendet werden konnte – ein Mahnmal, das an die Ermordung von 1 200 psychiatri- schen Patienten in den Jahren 1941 und 1942 erinnert. Der übermanns- hohe Gedenkstein, der am 2. Juli unter großer öffentlicher Anteilnah- me enthüllt wurde, steht vor der psychiatrischen Klinik, dort, wo 1941 die Autos des Einsatzkom- mandos 8 der Einsatzgruppe B das Gas in den Todesraum pufften.
Während der deutschen Besat- zung wurde auch auf Weißrussland (wie auf alle besetzten Ostgebiete) die „Euthanasie“ von psychisch Kranken und Behinderten ausge- dehnt. So auch auf die Anstalt in Mogilew. Bei der ersten Mordakti- on wurden die Patienten durch Aus- puffgase getötet, bei der zweiten er- schossen oder mit Handgranaten getötet. Das Mordgeschäft besorg- ten Kommandos der SS-Einsatz- gruppe B, kommandiert von SS- Brigadeführer Arthur Nebe, der auch Chef der deutschen Kriminal- polizei war. Nebe, der für 40 000 Morde in Weißrussland verant- wortlich gewesen sein soll, unter- hielt auch – Schizophrenie der Ge- schichte – Kontakte zum deutschen Widerstand und wurde nach dem 20. Juli 1944 hingerichtet.
Parallel zu den „Euthanasie“- Morden liefen die Mordaktionen gegen Juden. Bei der Gedenkfeier in Mogilew erinnerte der Vorsitzen- de der jüdischen Gemeinde, Gold-
berg, daran, dass bei Kriegsbeginn in Mogilew und Umgebung rund 20 500 Juden gelebt hätten, elf Pro- zent der damaligen Bevölkerung, mehr als die Hälfte sei von den Be- satzern umgebracht worden. Unter ihnen befand sich auch der Chefarzt der Psychiatrischen Klinik, Dr. M.
M. Klipzan. Sein Nachfolger, Dr. A.
N. Stepanow, kooperierte hingegen mit den Besatzern, indem er ihnen Patientenlisten lieferte. Er wurde nach der Befreiung zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt.
Das Mahnmal ist Teil eines um- fassenderen Projekts, das der Aufar- beitung einer auch im Land selbst kaum bekannten Geschichte dient.
Im Nebeneffekt, so hofft man, könnte das öffentliche Interesse auf die Verbesserung der heutigen psychiatrischen Versorgung gelenkt werden. Die Initiative ging von deutscher Seite aus, von hier kamen ebenfalls die Geldspenden für das Mahnmal, auch von der Bundesärz- tekammer. Umgesetzt aber wurde das Projekt großenteils von weiß-
russischer Seite. Mitarbeiter der Kli- nik selbst, Historiker der Universität Minsk und Geschichtsstudenten der Universität in Mogilew befragten Zeitzeugen, sichteten Akten und Li- teratur. Das Mahnmal wurde landes- weit ausgeschrieben, der Auftrag ging schließlich an einen jungen Bildhauer aus Mogilew, Alexander Minjkow. Es sei das erste Denkmal in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, das an diese lange vergessene Opfergruppe erinnere, hieß es übereinstimmend in Mogilew.
Bereits seit 1990 beschäftigt sich an der Psychiatrischen Universi- tätsklinik Heidelberg eine Arbeits- gruppe mit Forschungen zur „Eu - thanasie“. Denn die Heidelberger Klinik trage eine besondere Verant- wortung, erklärte deren Direktor, Prof. Dr. med. Christoph Mundt, bei der Enthüllung des Mahnmals in Mogilew, sei doch Professor Carl Schneider, der Klinikdirektor von 1933 bis 1945, einer der beiden Hauptgutachter „für die definitive Entscheidung zur Tötung psychisch Kranker im damaligen deutschen Reichsgebiet“ gewesen. Von den Heidelberger Forschungen zur Auf- klärung der „Euthanasie“-Morde profitiert auch das Mogilew-Projekt, nicht zuletzt auch dank des Einsatzes des Psychiaters und Medizinhistori- kers Dr. med. Gerrit Hohendorf, der inzwischen am Institut für Geschich- te und Ethik der Medizin der Techni- schen Universität München arbeitet.
Der Vertreter der Bezirksregie- rung Mogilew, Valerij Malaschko, wertete solche Aktivitäten als Be- weis dafür, dass die Deutschen be- reit seien, „offen ins Gesicht ihrer Vergangenheit zu sehen“. Die His- torikerin Olga Goleta aus Minsk er- kannte an, dass es hart sei, sich ei- ner solchen Vergangenheit zuzuwen- den. Doch die Deutschen täten es freiwillig und mit offenen Augen.
Das Projekt Mahnmal hat Ärzte und Wissenschaftler, Studenten und Behördenvertreter, Deutsche und Weißrussen zusammengeführt. Und so resümierte die Oberärztin der Klinik, Dr. Jelena Lazarenko: „Ich empfinde Aufregung, Freude, Be- geisterung und Stolz, dass wir das alle zusammen geschafft haben.“ ■
Norbert Jachertz Dem Gedenken
an die Opfer der NS-„Euthanasie“
gewidmet: das Mahnmal vor der psychiatrischen Klinik in Mogilew
Foto: privat