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Archiv "Kind als „Schaden“: Ein Spiegelbild der Gesellschaft?" (03.08.1998)

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ann ein Kind ein „Schaden“

sein? Nein – war die vorherr- schende Auffassung der Teil- nehmer einer Podiumsdiskussion Ende Juni in der Ärztekammer Nie- dersachsen, Hannover. „Wer ein Kind als Schaden ansieht, wird es in Zukunft nicht schwer haben, auch ei- nen kranken oder alten Erwachsenen als Schaden zu begreifen“, sagte der Vorsitzende der Perinatologischen Arbeitsgemeinschaft, Prof. Dr. med.

Rüdiger Rauskolb.

„Ein Kinderarzt ist Anwalt jeden Kindes, und jedes Kind hat ein Recht auf Leben. Die Abschaffung von Be- hinderungen schafft kein Glück“, be- tonte Privatdozent Dr. rer. nat. Eve- lyn Kattner, Hannover. Es sei zwar möglich, die Geburt eines Kindes un- ter verfassungs- und haftungsrechtli- chen Aspekten zu betrachten, jedoch allein die Denkweise „Kind als Scha- den“ hält Klaus Dickneite vom Lan- desverband für Körper- und Mehr- fachbehinderte mit der Menschen- würde für nicht vereinbar.

Unterschiedliche

Auffassungen der Senate

Doch warum muß bei soviel Ei- nigkeit das Thema überhaupt disku- tiert werden? Ausgangspunkt waren zwei Urteile des Bundesverfassungs- gerichts. Zur Erinnerung: Ein Urolo- ge hatte eine Sterilisation vorgenom- men, die offenbar mißlang. Die Ehe- frau des über den fehlgeschlagenen Eingriff nicht aufgeklärten Patienten bekam ein Kind.

Das Landgericht und später das Oberlandesgericht München verur- teilten den Arzt zu Unterhalt für das

Kind und Schmerzensgeld für die Mutter.

Der zweite Fall betraf Eltern von zwei behinderten Kindern, die sich nach der Geburt des ersten Kindes und vor dem Entschluß zu einem wei- teren genetisch beraten ließen. Ob- wohl ihnen der Genetiker versichert hatte, daß eine genetische Störung

„äußerst unwahrscheinlich“ sei, wur- de das zweite Kind mit den gleichen Behinderungen wie das erste geboren.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat- te den Arzt zu Unterhalt für das Kind und Schmerzensgeld für die Mutter verurteilt; das Landgericht hatte bei- des zuvor verneint, weil der Beweis zu einer pflichtwidrigen Beratung nicht gelungen sei. Die Ärzte erhoben ge- gen die beiden Urteile Verfassungs- beschwerde. Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat am 12.

November 1997 die Schadensersatz- pflicht des Arztes anerkannt. Die Un- terhaltspflicht stelle keine Verletzung der Menschenwürde und auch keine Kommerzialisierung dar.

Der Zweite Senat war in einem entscheidenden Punkt anderer Auf- fassung als der Erste. In seinem Urteil zur Neuregelung des Schwanger- schaftsabbruchs vom 28. Mai 1993 hatte er erkannt, daß einer rechtlichen Qualifikation eines Kindes als Scha- densquelle Artikel 1 des Grundgeset- zes (Menschenwürde) entgegenstehe.

Unterhaltspflichten für unerwünschte oder mißgebildete Kinder seien da- nach kein ersatzfähiger Schaden.

Rauskolb bedauert den Streit der beiden Senate, „weil er dem Ansehen der höchsten deutschen Gerichte ab- träglich ist“. Gleichzeitig lasse die Meinungsverschiedenheit aber auch die Schlußfolgerung zu, daß sie Aus-

druck des Fehlens eines von der Ge- sellschaft getragenen Konsenses hin- sichtlich der Wertigkeit ungeborenen Lebens sei. Die Sympathien der deut- schen Geburtshelfer dürften sich der Auffassung des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichts zuneigen, so Rauskolb. Er kritisiert jedoch, daß es der Zweite Senat offensichtlich ver- säumt habe, „seine Auffassung nicht nur nebenbei, sondern auch nachhal- tig zu vertreten“.

Die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe be- dauere vor allem die Folgen, die ei- nem ungeborenen Kind, letztlich auch einem geborenen, aber kranken oder behinderten Kind von der Gesell- schaft zugesprochen werden. Raus- kolb räumte allerdings ein, daß der Bundesgerichtshof dieser Befürch- tung schon vor Jahren widersprochen habe, indem er festgestellt hatte, daß die Beurteilung der Unterhaltsbela- stung als „Schaden“ im Verhältnis zwischen Eltern und Arzt nicht be- deute, daß über das Kind ein Unwert- urteil ausgesprochen würde. Dennoch könne das Urteil Signalwirkung ha- ben und zu der Befürchtung Anlaß ge- ben, daß ein nicht gewolltes Kind noch mehr als bisher als „Schaden“

angesehen werde.

Unbegründete Anspruchshaltung

Der Perinatalmediziner kritisier- te an der Entscheidung des Ersten Se- nats, daß sie die Vorstellung begünsti- ge, daß alles, was machbar sei, auch erfolgreich gemacht werden müsse.

„Dies weckt eine unbegründete An- spruchshaltung (zum Beispiel beim Ultraschallscreening). Tritt das ge- wünschte Ergebnis nicht ein, wird der ,Schaden‘ eingeklagt.“ Diese Auffas- sung vertrat auch die niedersächsische Sozialministerin Heidi Merk. Die Prä- nataldiagnostik habe das alltägliche Handeln und Denken verändert.

In einer Gesellschaft, in der das absolute Gesundheitsideal und der Zwang zur ästhetischen Perfektionie- rung einen so hohen Stellenwert hät- ten, gelte ein behindertes Kind als un- zumutbare Erfahrung von Leid und Schmerz. Der Präsident der Ärzte- kammer Niedersachsen, Prof. Dr.

A-1892 (20) Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 31–32, 3. August 1998

P O L I T I K AKTUELL

Kind als „Schaden“

Ein Spiegelbild der Gesellschaft?

Widersprüchliche Aussagen der

beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts stellen Ärzte vor ein Dilemma.

K

(2)

med. Heyo Eckel, warnte jedoch da- vor, aus ständiger Regreßfurcht die Flucht in die defensive Medizin anzu- treten. Die Ärztekammer müsse mit garantieren, „daß das Arzt-Patien- ten-Vertrauensverhältnis als eine der wichtigsten Grundlagen jeder Arzt- Patienten-Beziehung erhalten bleibt und nicht der Regreßangst auf ärztli- cher Seite zum Opfer fällt oder von Patientenseite als Vehikel für materi- ellen Schadensersatz mißbraucht wird“. Nötig seien Lösungsvorschlä- ge, wie die Ärzte dem Dilemma der widersprüchlichen Rechtsprechung entrinnen könnten.

Umfassende Information

Ministerin Merk schlug vor, Schwangere und ihre Partner so um- fassend zu informieren, daß sie selbst entscheiden könnten. Damit dürften sich auch die Erwartungen an die be- handelnden Ärztinnen und Ärzte re- lativieren. „Die Ärzte werden dann in der Regel auch nicht mehr Erwartun- gen ausgesetzt, die sie nicht erfüllen können.“ Sie warnte jedoch davor, bei eindeutigen, schuldhaften ärztlichen Behandlungsfehlern Mittel und Wege zu suchen, die Ärzte aus ihren Pflich- ten zu entlassen und die Rechte der Patienten zu verkürzen.

Daß dies offenbar auch die Ab- sicht der Richter des Ersten Senats war, darauf verwies Prof. Dr. jur. Dr.

h. c. mult. Erwin Deutsch, Universität Göttingen. Die Richter hätten nicht das behinderte Kind selbst, sondern lediglich seine Geburt und die daraus resultierenden Folgeaufwendungen als „Schaden“ bezeichnet. Da ein be- hindertes Kind eine Familie schwer belasten könne, gehe es um eine Ent- schädigung in Form von Unterhalts- zahlungen. Deutsch räumte jedoch ein, daß die Richter den zwar her- kömmlichen, aber mißverständlichen Begriff „Schaden“ verwendet hätten.

Unmittelbar Betroffene könnten ihr Kind durchaus als „Schaden“ be- trachten, meinte dagegen eine Ärztin in der Podiumsdiskussion. Sie stellte fest: „Mein Kind ist ein Schaden.

Wenn es zur Zeit meiner Schwanger- schaft bereits pränatale Diagnostik gegeben hätte, wäre es heute nicht da.“ Gisela Klinkhammer

A-1893

P O L I T I K AKTUELL

Deutsches Ärzteblatt 95,Heft 31–32, 3. August 1998 (21) ie Auseinandersetzungen der

Kassenzahnärztlichen Bun- desvereinigung mit Bundes- gesundheitsminister Horst Seehofer und den Krankenkassen gehen un- vermindert weiter. Nachdem die Kas- senzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV), Köln, gegen eine von Bun- desgesundheitsminister Horst Seeho- fer verhängte Aufsichtsanordnung in ihrer Klage vor dem Sozialgericht Köln unterlag (es verhängte den Spruch ohne Auseinandersetzung mit der Rechtslage), hat der KZBV-Vor- stand beschlossen, eine Beschwerde gegen diese Entscheidung vor dem Landessozialgericht Essen einzurei- chen, „ohne sich aber Illusionen über die Erfolgsaussichten zu machen“.

Auslöser der Aufsichtsanord- nung des Ministeriums waren der seit Januar 1998 schwelende Streit über die Rechtsauslegung und die Begrün- dung zu § 30 SGB V in der Fassung des 2. GKV-Neuordnungsgesetzes, die zum 1. Januar 1998 in Kraft trat.

Kern des Streits ist die Frage, in wel- chem Umfang metallkeramisch ver- blendete Kronen und Brücken als Kassenleistungen einzustufen sind.

Bundesgesundheitsminister Seehofer hat angeblich auch auf Druck der Krankenkassen wiederholt festge- stellt, daß die Zahnersatzleistungen im Rahmen der vertragszahnärztli- chen Versorgung rechtsverbindlich auf den 1,7fachen Gebührensatz der Amtlichen Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) in den alten bezie- hungsweise den 1,86fachen Gebüh- rensatz der GOZ in den neuen Bun- desländern zu begrenzen seien. Dage- gen interpretierte die KZBV – auch unter Berufung auf neuere State- ments von Gesundheitspolitikern der CDU und FDP, daß metallkerami- sche Versorgungen insgesamt „so- wohl nach dem Gesetz als auch nach den Intentionen des Gesetzgebers“ ab

Januar keine Kassenleistungen mehr sind. Die Kassenzahnärzte verweisen auf die Gesetzesbegründung zu § 30 SGB V, die Kronen und Brücken, die mit Kunststoff verblendet sind, als ausreichend bezeichnet. Dagegen hat inzwischen das BMG die offenbar mehrdeutige Gesetzespassage so in- terpretiert, daß lediglich die Verblen- dung aus dem Krankenkassenkatalog herausgenommen worden ist. Dem- nach müßten Patienten allein den zahntechnischen Mehraufwand für die Metallkeramik direkt bezahlen.

Die besonders aufwendige und teure metallkeramische Verblendung von Zahnkronen wäre demnach seit 1998 eine privatzahnärztliche Leistung, die nach den Grundsätzen der GOZ zu li- quidieren wäre. Die Kassenzahnärzte stehen auf dem Standpunkt, eine sol- che Trennung sei sowohl aus zahnme- dizinisch-fachlichen als auch aus ab- rechnungstechnischen Gründen gar nicht möglich. Das Mehrhonorar ge- genüber einer Kunststoffverblend- krone wird für die meisten Zahnarzt- praxen mit rund 30 DM angegeben.

Hochgerechnet auf alle Zahnärzte in West und Ost, geht es um Mehrein- nahmen von 320 Millionen DM.

Hickhack schadet Patienten

Vorsorglich hat Seehofer an- gekündigt, falls die Zahnärzte nicht zur Raison gerufen werden, die GOZ zu ändern und die Honorarbindung für vertragszahnärztliche Zahnersatzlei- stungen festzuschreiben. Die Kassen haben die Versicherten aufgerufen, bei Zahnersatzversorgung keine Zusatz- vereinbarungen zu akzeptieren. Am meisten schadet der Hickhack den Pa- tienten und gefährdet den sozialen Frieden. Er wäre freilich überflüssig gewesen, wenn der Gesetzgeber klarer formuliert hätte. Dr. Harald Clade

Zahnärzte/Zahnersatz

Streit um Honorargrenzen

Entscheidung des Kölner Sozialgerichts bestätigt Seehofer.

Kassenzahnärzte wollen Beschwerde einlegen.

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