Zur Fortbildung Aktuelle Medizin AUSSPRACHE
Serologie
Es ist zweifellos verdienstvoll, nie- dergelassene Ärzte mit den Fort- schritten der Serologie bei Lues connata vertraut zu machen, zu- mal wenn große, eigene, langjähri- ge Erfahrungen vorliegen (Hage- dorn und Naumann). Dennoch überrascht immer wieder, daß zu- mindest bei serologisch schwieri- gen Diagnosen (z. B. wegen des Reaginüberganges von Mutter zum Kind) nicht mehr die „alte"
Meinicke-Klärungsreaktion (MKR II) herangezogen wird. Mir ist noch kein Fall bekannt, wo eine positive (reaktive) MKR II nicht gleichbe- deutend mit der Diagnose Lues connata war. Denn die Schwierig- keiten in der Interpretation der Be- funde, welche die Verfasser nicht verschweigen, sind trotz aller Fort- schritte in Grenzfällen noch er- heblich und,die Konsequenzen be- deutend (vergleiche Therapie).
Klinik
Ob große klinisch-serologische Erfahrungen zu Aussagen über Klinik und Therapie berechtigen, wie sie der Text der Arbeit im Ge- gensatz zum Titel bringt, sei da- hingestellt. So kommt es, daß eine Aufzählung von Symptomen ohne Hinweis auf ihre Häufigkeit für die Diagnostik kaum hilfreich ist. Wir fanden bei 121 luischen Säuglin- gen eine Lebervergrößerung in 70 Prozent und eine Gelbsucht in 1 Prozent, um nur zwei Symptome, die in der Arbeit gleichberechtigt nebeneinander gestellt werden, herauszugreifen (Oehme 1956).
Auch ist die Sattelnase beim Säug- ling kein Hinweiszeichen auf Lues connata, wohl aber das abgebilde- te Exanthem auf der Titelseite. Die
Hutchinsonschen Zähne als Miß- bildungen zu bezeichnen, hilft trotz der mäßigen Abbildung nicht weiter. Vielmehr sind diese Zahn- veränderungen einmal durch Mi- krodontie sowie durch tonnenför- mige Verbildungen, vorwiegend der bleibenden oberen Schneide- zähne gekennzeichnet, die zusätz- lich eine Einkerbung der Schnei- dekanten zeigen (Oehme, 1971).
Therapie
Die Dosisangaben entsprechen den allgemein gültigen Empfeh- lungen, wie wir sie schon 1952 herausgearbeitet haben (Leipziger Schema). Allerdings erscheint mir zweifelhaft, ob genügend Erfah- rungen vorliegen, beim Säugling eine einmalige Benzathin-Penicil- Iin-G-Behandlung zu empfehlen, wie sie die Verfasser erwähnen;
mir ist keine Klinik in der Bundes- republik bekannt, die so vorgeht.
Ferner ist zu beachten, daß die Gesamtdosis bei Säuglingen min- destens 600 000 Einheiten pro kg/KG beträgt.
Prophylaxe
Die Entscheidung, ob in Grenzfäl- len eine Therapie durchzuführen ist, muß vom klinischen Bild und ggf. auch vom spezifischen IgM- Antikörper-Befund abhängig ge- macht werden. Diese Aussage der Verfasser ist zwar objektiv richtig, hilft aber im Einzelfall wenig. Des- halb muß aus kinderärztlicher Sicht hinzugefügt werden: Im Zweifelsfall muß eine postnatale Präventivbehandlung („Sicher- heitskur") durchgeführt werden;
denn die Lues connata bedeutet für den jungen Säugling eine le-
bensbedrohende Erkrankung. Al- lerdings sollte auch der Kinderarzt um Klärung bemüht sein und die Spezialdiagnostik bei Schwange- ren und Neugeborenen durchfüh- ren. Mit F. Müller, der sich zu den Antikörperkonstellationen in den verschiedenen Stadien der Syphi- lis nicht nur in der schwer zugäng- lichen USA-Literatur, sondern auch im DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT auseinandergesetzt hat, stimme ich den Verfassern zu:
Nicht die Sicherheitskur, sondern die Sicherheitsdiagnostik muß das Ziel sein!
Literatur
Hagedorn H.-J., und Naumann, P.: Moderne Sero-Diagnostik der Syphilis, Dtsch. Med.
Wschr. 114, (1979) 209 — Müller, F.: Methoden moderner Syphilis-Diagnostik und Interpreta- tion der Untersuchungsbefunde, Dtsch. Ärz- tebl. 74 (1977) 1851— Oehme, J.: Das Leipziger Schema zur Verhütung und Behandlung der angeborenen Lues, Dtsch. Med. Wschr. 77, (1952) 1024 — Oehme, J.: Lues connata, Georg Thieme Verlag, Leipzig (1956)'— Oehme, J.:
Lues connata, Diagnose — Therapie — Prophy- laxe, pädiat. prax. 12 (1971) 231
Professor Dr. med. J. Oehme Am Schiefen Berg 28
3340 Wolfenbüttel
Schlußwort
Wir danken Herrn Professor Oeh- me für seine kritische Stellung- nahme zu dem Artikel über die Sy- philisdiagnostik bei Mutter und Kind. Die Kenntnis der prozentua- len Häufigkeit klinischer Befunde der Syphilis connata scheint für die primäre Verdachtsdiagnose ei- ner glücklicherweise so selten ge- wordenen Krankheit nicht immer hilfreich zu sein. Nach den Erfah- rungen von Wechselberg und Schneider (1) führte bei 127 Syphi- lis-connata-Fällen nur in 2 Prozent eine Hepatosplenomegalie zur weiteren ärztlichen Untersuchung und stationären Aufnahme, ob- gleich dann anschließend eine Le- berschwellung bei 67 Prozent der Säuglinge nachgewiesen wurde.
Deshalb wurde betont, daß bei ei- ner Vielzahl klinischer Symptome auch eine konnatale Treponemen- infektion diffentialdiagnostisch berücksichtigt werden muß und
Syphilisdiagnostik bei Mutter und Kind
Zu dem Beitrag von Privatdozent Dr. med. habil.
Hans-Jochen Hagedorn in Heft 3/1983, Ausgabe A, Seite 51 ff., Ausgabe B, Seite 35 ff., Ausgabe C, Seite 33 ff.
60 Heft 16 vom 22. April 1983 80. Jahrgang DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A
Zur Fortbildung Aktuelle Medizin
Anlaß zur — im Idealfall routinemä- ßigen - serologischen Untersu- chung sein sollte. Unserer Mei- nung nach ist die zusätzliche An- wendung der Meinicke-Klärungs- reaktion II (MKR II) neben dem VDRL-Test nicht mehr erforder- lich. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, daß der Nachweis T.-pallidum-spezifischer IgM-Antikörper sicher und zuver- lässig die Diagnose auch bei nicht eindeutig zu interpretierenden Li- poidantikörperbefunden ermög- licht. Zudem können die im VDRL- Test reagierenden Lipoidantikör- per nach Serumfraktionierung ebenfalls in IgM- und IgG-Antikör- per differenziert werden, so daß die Abgrenzung ihrer Herkunft von der Mutter oder dem Kind möglich ist. Die Empfehlung zur Behand- lung der Syphilis connata mit Ben- zathin-Penicillin basiert im we- sentlichen auf klinischen Erfah- rungen und Empfehlungen aus der amerikanischen Literatur. Ent- sprechende Therapievorschläge sind aber auch im deutschsprachi- gen Schrifttum publiziert (2, 3, 4).
Der erfahrene Wiener Dermatolo- ge A. Luger (2) gibt für die Be- handlung der Syphilis connata während des 1. Lebensjahres fol- gende alternative Möglichkeiten an:
Benzathin-Penicillin 50 000 E/
kg einmal i. m.,
• Procain-Penicillin 50 000 E/kg täglich für die Dauer von 2 Wo- chen
O Clemizol-Penicillin 50 000 E/kg täglich für die Dauer von 2 Wo- chen.
Literatur
Wechselberg, K.; Schneider, J. D.: Morbidität und klinische Symptomatik der konnatalen Lu- es im Säuglingsalter, Dtsch. med. Wschr. 95 (1970) 1976-1981 — Luger, A.: Genitale Kon- taktinfektionen, Thieme, Stuttgart (1982) 26-27 — Alexander, M.; Raettig, H.; Infektions- krankheiten, Thieme, Stuttgart (1981) 279 — Lindemayr, W.; Partsch, H.: Kongenitale Sy- philis, neuere Gesichtspunkte zur Diagnose, Prophylaxe und Therapie, Z. Hautkr. 51 (1976) 749-756
Privatdozent Dr. med. habil.
Hans-Jochen Hagedorn Medizinaluntersuchungsstelle Lübbertorwall 18
4900 Herford
Mehr Hilfe für
Iegasthenische Kinder gefordert
Eine Revision der von der Kultus- ministerkonferenz (KMK) der Län- der herausgegebenen Empfehlun- gen zur „Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und Schreibens" (Legasthenie) fordert die Deutsche Gesellschaft für Kin- der- und Jugendpsychiatrie. Sie empfiehlt:
4)
die Diagnose der spezifischen Lese-Rechtschreib-Schwäche in- nerhalb der Gruppe der Kinder„mit besonderen Schwierigkei- ten . " wieder—wie bei früheren
Erlassen — vorzusehen,
e
die zusätzliche außerschulische ärztlich-psychologische Diagnose und Behandlung bei solchen Kin- dern zu fordern, deren Lese- und Schreibleistungen am Übergang zur 2. Jahrgangsstufe der Grund- schulen durch pädagogische Maß- nahmen nicht zu bessern waren, und0 die besondere Zensurenge- bung bei Kindern mit persistieren- der Legasthenie auch jenseits der 6. Jahrgangsstufe zuzulassen.
Die Kritik der Kinderpsychiater am Erlaß der KMK richtet sich gegen
„die grundsätzliche Verharmlo- sung der Schwierigkeiten vieler an Legasthenie leidender Kinder".
Gravierend ist, daß legasthene Kinder der ersten beiden Jahr- gangsstufen, wie die Praxis zeigt, wertvolle Zeit für intensivere und spezifischere Fördermaßnahmen verlieren, vor allem dann, wenn die Entscheidung über die Art der vorliegenden Schwierigkeiten und über eine mögliche außerschuli- sche Behandlungsmöglichkeit bei einem Lehrer liegt, der hierfür kei- ne ausreichende Vorbildung be- sitzt.
Legasthenie ist ein medizinisches Problem. Sie ist als Krankheit an- zusehen. Unter diesem Begriff
werden unterschiedliche Störun- gen zusammengefaßt, die zwar das gleiche äußere Ergebnis, aber sehr unterschiedliche Entste- hungsursachen und damit unter- schiedliche Behandlungsvoraus- setzungen haben. „Die besonde- ren Schwierigkeiten" können aus- schließlich milieubedingt, unter- richtsbedingt, Folge einer Hirnent- wicklungsstörung oder auch Fol- ge aller drei Bedingungen sein.
Sie lassen sich auch im Fall quan- titativ vergleichbarer Schwere qualitativ deutlich unterscheiden.
Die Stellungnahme der Kinder- psychiater geht darauf in allen Einzelheiten ein und stellt schließ- lich zusammenfassend fest, daß Ursachen und Entstehung der Legasthenie sich nicht auf einen einzigen Nenner reduzieren las- sen. Dies zu tun wäre ein verhäng- nisvoller Irrtum für die Betrof- fenen.
Denn schwerere Formen der Leg- asthenie seien nur in interdiszipli- närem Bemühen spezifisch, d. h.
individuell zu diagnostizieren und nur behandelbar, wenn frühzeitig eine Therapie einsetze, die deut- lich über das hinausgehe, was ein dafür nicht ausgebildeter Lehrer durch „innere Differenzierung des Unterrichtes" oder durch Förder- kurse erreichen könne. Die Stel- lungnahme macht auch darauf aufmerksam, daß eine kleine Gruppe zwar begabter, aber schwer legasthener Kinder das Schulsystem durchläuft, ohne Le- sen und Schreiben erlernt zu ha- ben. Sie bleiben oftmals nur des- wegen Analphabeten, weil ihre Legasthenie zu spät erkannt, mit unzureichenden Mitteln nur unzu- reichend „behandelt" und im wei- teren Verlauf des Schulbesuches bestenfalls ignoriert, in der Regel aber bestraft wird. Die Stellung- nahme gipfelt in der Forderung, Schule, Fachärzte und Psycholo- gen müßten frühzeitig zusammen- arbeiten, um diesen Problemkin- dern nachhaltig zu helfen. GM
(78. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, 1982, Heidelberg)
KONGRESS-NACHRICHT AUSSPRACHE
Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 16 vom 22. April 1983 63