Gefahren
durch eine HIV-Infektion für Mutter und Kind
Erweiterung der Beratungsgespräche notwendig
Vertreter der Deutschen Verei- nigung zur Bekämpfung der Virus- krankheiten e. V. (DVV) haben ge- meinsam mit mehreren Sachverstän- digen und Vertretern des Bundesmi- nisters für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, des Bundesgesund- heitsamtes und der Bundesärzte- kammer die Frage erörtert, ob und gegebenenfalls bei welchen Perso- nengruppen Untersuchungen zum Nachweis einer Infektion mit HIV (Human Immunodeficiency Virus;
früher: LAV/HTLV-III) bei Schwangeren und anläßlich von Be- ratungsgesprächen zur Empfäng- nisregelung angezeigt sind.
Ubereinstimmend wurden fol- gende Feststellungen getroffen:
1. Die Häufigkeit von HIV-In- fektionen und der hierdurch ausge- lösten AIDS-Erkrankung nimmt in der Bundesrepublik vor allem bei Angehörigen einiger Bevölkerungs- gruppen (sogenannte Risikoperso- nen: männliche Homosexuelle und Bisexuelle, Drogenabhängige [Fi- xer], Personen mit Sexualkontakten zu HIV-Infizierten) weiter zu.
Als Übertragungswege kommen in Frage:
a) Sexualkontakte gleich welcher Art (homosexuelle Sexualpraktiken scheinen die Übertragung zu begün- stigen).
b) Verwendung HIV-kontaminier- ter Injektionsbestecke von Fixern.
c) Prä- oder perinatale Übertragung von HIV von einer infizierten Mut- ter auf das Neugeborene.
d) Verabreichung von HIV-halti- gern Blut oder von virushaltigen Blutprodukten; dieser Übertra- gungsweg ist nach Einführung ent- sprechender Vorsichtsmaßnahmen
in der Bundesrepublik heute un- wahrscheinlich.
Infektionsübertragungen durch an- dere virushaltige Körperflüssig- keiten als Blut oder Samenflüssig- keit wurden bisher nicht beobachtet.
2. Nach pränataler HIV-Infek- tion werden Embryopathien und Mißbildungen beobachtet. Eine In- fektion kann aber auch perinatal er- folgen oder postnatal beim Stillen erworben werden. Die Häufigkeit von HIV-Infektionen bei Kindern infizierter Mütter ist derzeit nicht si- cher anzugeben; in verschiedenen Untersuchungsreihen erwiesen sich zwischen 20 Prozent und 65 Prozent der Neugeborenen HIV-infizierter Mütter als infiziert. Die Mehrzahl der infizierten Neugeborenen er- krankte in den folgenden Monaten an AIDS oder zeigte andere Sym- ptome, die dem AIDS related com- plex (ARC) zuzuordnen sind. Die Prognose dieser Infektionen ist sehr schlecht.
3. Aus diesem Grund wird empfohlen, bei der Beratung Schwangerer oder bei einem Bera- tungsgespräch zur Empfäng- nisregelung jede Patientin über In- fektionswege und die Gefahren der HIV-Infektion für Mutter und Kind aufzuklären und gezielt zu befragen, ob sie selbst oder ihr(e) Partner in den letzten fünf Jahren gefixt haben, in dieser Zeit sexuelle Kontakte mit sogenannten Risikopersonen hatten oder zu irgendeinem Zeitpunkt zwi- schen 1980 und dem Sommer 1985 Bluttransfusionen erhielten; auch nach Sexualkontakten zu Hämophi- len in diesem Zeitraum sollte gefragt werden. Ein HIV-Infektionsrisiko besteht auch bei wechselnden Se- xualkontakten mit kurzzeitigen Part- nern.
4. Haben solche Infektions- möglichkeiten bestanden, ist eine Untersuchung auf das Vorhanden- sein von Antikörpern gegen HIV (falls erforderlich einschließlich der sogenannten Bestätigungstests) an- gezeigt. Da HIV-Antikörper häufig erst zwei bis vier Monate nach der Infektion nachweisbar werden, ist bei fortbestehendem Infektionsrisi- ko die Untersuchung nach einigen Wochen zu wiederholen.
5. Wird bei einer Patientin eine HIV-Infektion nachgewiesen, so ist sie hierüber, über das Erkrankungs- risiko und über das Infektionsrisiko für ihr Kind zu informieren. Das Mißbildungsrisiko nach einer präna- talen HIV-Infektion kann zwar der- zeit nicht quantifiziert werden, das Infektions- und Erkrankungsrisiko des Neugeborenen nach prä- oder perinataler Infektion muß aber — wie oben angeführt — als hoch einge- schätzt werden. Über die Möglich- keit eines Schwangerschafts- abbruchs sollte eine Schwangere in- formiert werden.
6. Da bei jeder Schwanger- schaft eine Verminderung der zellu- lären Immunität eintritt und damit eine erhöhte Empfänglichkeit für ei- nige Infektionen bestehen kann, sollte eine HIV-infizierte Schwange- re darauf hingewiesen werden, daß bei ihr die Wahrscheinlichkeit der Ausbildung von AIDS oder ARC größer sei kann als bei Nicht- Schwangeren.
7. Gegenwärtig werden HIV- Infektionen in der Bundesrepublik fast ausschließlich bei Angehörigen der angegebenen Risikogruppen be- obachtet, eine routinemäßige Unter- suchung aller Schwangeren zum Nachweis einer möglichen HIV-In- fektion, ohne daß Hinweise auf ein bestehendes Infektionsrisiko vor- handen sind, wird aus diesem Grund nicht für erforderlich gehalten.
Deutsche Vereinigung zur Bekämpfung
der Viruskrankheiten e. V. (DVV) Professor Dr. med.
Friedrich Deinhardt Professor Dr. med.
Günther Maass Pettenkoferstaße 9 a 8000 München 2 A-346 (54) Dt. Ärztebl. 84, Heft 7, 11. Februar 1987