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(WS 2014/15) Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution 1

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1 U. Pfister: Industrialisierung im ausgehenden 18. und 19. Jh. (WS 2014/15)

Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution

1. Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus: Webers These (WEBER 1920;

Rekonstruktion u. a. bei SCHLUCHTER 1988)

a. Ausgangspunkt: Korrelation zwischen Verbreitung des asketischen Protestantismus und dem frühen Vorkommen (proto-)industrieller Unternehmer. Asketischer Protestan- tismus bezeichnet den Calvinismus, pietistische u. freikirchliche Strömungen (Metho- dismus) sowie täuferische Sekten. Im 18./19. Jh. stammten viele Unternehmer, die sich in Fernhandel, Bankgeschäften u. verarbeitenden Gewerben engagierten, aus diesem Umfeld (z.B. Mennoniten u. Calvinisten im Rheinland, Calvinisten in Frankreich, kon- tinentale Glaubensflüchtlinge u. später Puritanisten in GB.

b. »Geist des Kapitalismus«. Der Geist des Kapitalismus ist für Weber nicht ge- kennzeichnet durch Geldwirtschaft oder Profitstreben, sondern durch das Streben »nach immer erneutem Gewinn, nach Rentabilität« im Rahmen des kontinuierlichen, rationa- len Betriebs. Rentabilität setzt eine rationale Berechnung u. planmäßige Verwendung von Betriebsmitteln voraus. Eine solche durch methodisches Handeln geprägte Wirt- schaftsweise ist in eine umfassendere, kulturell geprägte okzidentale Lebensführung eingebettet, die in wesentlicher Hinsicht religiöse Hintergründe hat.

c. Die These. Die Lehren des asketischen Protestantismus waren einer methodi- schen Lebensführung besonders förderlich. (1) Hinführung: Luthers Berufsbegriff. Der moderne Berufsbegriff entstand wesentlich im frühen Luthertum. Hintergrund: Ableh- nung traditioneller Werkheiligkeit (Almosen, fromme Stiftungen, Ablass, Beichte); die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten ist der einzige Weg, Gott wohlzugefallen; alle erlaubten Arbeiten sind Gott wohl gefällig. — (2) Prädestinationslehre und methodi- sche Lebensführung im Calvinismus/Puritanismus. Der Gnadenstand jedes Menschen (ob jemand dazu auserwählt ist, in den Himmel zu kommen oder zur Hölle verdammt ist) ist bereits im Schöpfungsplan festgelegt. Er kann deshalb weder durch Gebete noch durch gute Werke beeinflusst werden. Die Distanz zwischen Mensch u. Jenseits haben eine Vereinzelung der Gläubigen u. eine Entzauberung der Welt zur Folge. Das Voll- bringen guter Werke ist nicht mehr Heilsmittel, sondern selbst bereits Ausdruck des Gnadenstandes. Angesichts der Ungewissheit über den eigenen Gnadenstand (»Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums«) übten Gläubige über sich eine systematische Selbstkontrolle aus im Hinblick auf das dauernde Hervor- bringen guter Werke als Zeichen der Zugehörigkeit zu den Auserwählten. Dabei nahm die Reichweite guter Werke erheblich zu: ethisch gutes Alltagshandeln, wirtschaftlicher u. familiärer Erfolg → der Heilszweck einzelner guter Handlungen schwand zugunsten einer zum System gesteigerten, d.h. rationalen, Werkheiligkeit. — (3) Innerweltliche Askese. Bereits mittelalterliche Mönchsorden kannten außerweltliche Askese als syste- matisierte Lebensführung mit planvoller Selbstkontrolle, Verzicht auf Triebbefriedi- gung. Askese zielte hier auf den heiligmäßigen Status mittels der Überbietung der in- nerweltlichen Sittlichkeit. Durch die calvinistische Prädestinationslehre wurde die aske- tische Lebensführung in die Alltagswelt hineinverlagert.

Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution (10.12.2014) 2

2. Kritik von Webers These

a. Allgemeines. In wissenschaftshistorischer Perspektive ist Webers Studie grundlegend für die Entwicklung von Religionssoziologie u. Modernisierungstheorie. In historischer Sicht ist die These wegen ihrer psychologischen Ausrichtung schwierig zu prüfen u.

wird deshalb heute kaum mehr ernsthaft vertreten.

b. Prädestination, Vorsehung und religiöse Alltagspraxis im englischen Nonkon- formismus des 17. Jahrhunderts (Greyerz sowie Benedict in LEHMANN/ROTH 1993). Im Calvinismus bezieht sich Vorsehung auf das Wirken Gottes in der Welt. Im 17. Jh. im- plizierte sie verbreitet den Glauben, dass Gottes Gnade allen, nicht nur den durch die Prädestination Auserwählten, zugänglich ist. Religiöse Tagebücher zeigen, dass sich auch theologisch gebildete Gläubige über den Glauben an die Vorsehung den von We- ber betonten Implikationen der Prädestinationslehre weitgehend entzogen. Umgekehrt betonten auch Ratgeber, welche die Prädestinationslehre nicht teilten, die Bedeutung eines konsequent aufrechten Lebenswandels als Ausdruck von Gottes Gnade.

c. Kaufleute aus dem Umfeld des asketischen Protestantismus unterschieden sich hinsichtlich ihrer Geschäftspraxis wohl nicht nachhaltig von anderen Kaufleuten. Bei- spiel: Pietistische Wolltuchhändler in Calw (LEHMANN 1996: Kap. 5).

d. Soziale Marginalität als Quelle industriellen Unternehmertums. (1) Ausschluss von herkömmlichen Geschäftsmöglichkeiten. Die mächtigen Fürsten des europ. Fest- lands waren überwiegend katholisch → Protestanten war der Staat als Geschäftspartner weitgehend verschlossen (Kriegsunternehmertum, Staatsfinanzierung). Glaubensflücht- lingen wurde zudem die Betätigung in angestammten Gewerben oft verwehrt. In der wenig regulierten Protoindustrie erschlossen sich religiöse Minderheiten eine Lebens- grundlage. — (2) Diaspora. Gemeinschaften von räumlich zerstreuten religiösen Min- derheiten (Juden, Armenier, Täufer, Hugenotten, etc.) waren für den Fernhandel beson- ders geeignet: Zirkulation von Information; neben der Verbreitung von Wirtschafts- nachrichten ermöglichte dies auch eine Überwachung räumlich getrennter Geschäfts- partner; drohender Ausschluss aus einer kleinen Gemeinschaft wegen Fehlverhaltens konnte den Ruin nach sich ziehen.

e. Humankapitalakkumulation war wichtiger als Ethik. Seit Luther legte der Protes- tantismus großen Wert darauf, dass die Gläubigen sich Gottes Wort selbständig durch Lesen der Bibel aneigneten. Der Übergang kirchlicher Ressourcen in staatliche Aufsicht im Zuge der Reformation wurde zum Auf- und Ausbau des Schulwesens genützt. Des- halb war das Bildungsniveau im 18./19. Jh. in evangelischen Gebieten höher als in ka- tholischen. Becker/Woessmann (2009) zeigen anhand eines Vergleichs preußischer Kreise in den 1870er J., dass der positive Effekt des Protestantismus auf das steuerbare Durchschnittseinkommen wohl v. a. über das höhere Bildungsniveau verlief.

3. Fleißrevolution und Konsumrevolution (DE VRIES 1994)

a. Materielle Kultur und Arbeitszeit: Befunde. (1) Das Paradox steigenden Konsumni- veaus. Im 17./18. Jh. nahm die materielle Kultur auch außerhalb der Elite zu, trotz des Rückgangs der Reallöhne v. a. im 18. Jh. Wichtige Elemente: baumwollene u. seidene

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3 U. Pfister: Industrialisierung im ausgehenden 18. und 19. Jh. (WS 2014/15)

Artikel in der weiblichen Bekleidung auch in der Unterschicht; Heimtextilien, Geschirr, Möbel inkl. Uhren. Bei den Textilien verbreiteten sich über weite Distanzen gehandelte Artikel mit komplexer Wertschöpfung (Baumwoll-, Seidenwaren) auf Kosten einfache- rer Artikel (einfache Wolltuche, Leinen). — (2) Einkommenssteigerung dank mehr Ar- beit. Im 16. Jh. steigerte sich die Arbeitszeit wegen Reduktion von Feiertagen um ca.

20%, in der zweiten Hälfte des 18. Jh. in England v. a. wegen Wegfallens des blauen Montags nochmals um ca. 20% (VOTH 2000). Jahreszeiten mit geringem landwirt- schaftl. Arbeitsaufkommen wurden vermehrt für die Herstellung von Manufakturgütern genutzt, insbes. von Frauen u. Kindern (→Protoindustrialisierung). — (3) Subsistenzor- ientierung oder Steigerung des Arbeitsangebots? Für vormoderne Gesellschaften wird verbreitet eine fallende Arbeitsangebotskurve angenommen: Menschen richten ihren Arbeitseinsatz am Einkommen aus, das zur Aufrechterhaltung der von ihnen gewünsch- ten Lebensführung erforderlich ist (Subsistenzorientierung). Fällt der Lohnsatz, ist mehr Arbeit für das Erreichen des angestrebten Einkommens erforderlich. In dieser Sicht stellt die Vermehrung der Arbeitszeit in erster Linie eine Anpassung an den Rückgang der Reallöhne in der FNz dar. Plausibilitätsgründe sprechen jedoch dafür, dass Subsis- tenzorientierung die Zunahme der Arbeitszeit nur z. T. erklären kann. Zum größeren Teil muss sie auf eine Ausweitung des Arbeitsangebots zurück gegangen sein, d. h. die Menschen waren bereit, für denselben Lohn mehr Arbeit zu leisten.

b. Die Hypothese der Fleißrevolution. Ausgangspunkt: (Ländliche) Haushalte pro- duzieren Güter für den Eigenbedarf (Subsistenzgüter) u. Güter für den Markt (landwirt- schaftliche Güter, Manufakturwaren). Den Bedarf decken sie mit Subsistenzgütern u.

gekauften Konsumgütern. — (1) Sinkende Kosten der Distanzüberwindung bewirken aus Sicht der Haushalte, dass die Nachfrage nach Marktgütern u. das Angebot von Kon- sumgütern steigen. Die mit der Produktion von Marktgütern erlangbaren Konsumchan- cen nehmen somit zu → Haushalte dehnen die Marktgüterproduktion auf Kosten der Subsistenzgüterproduktion aus u. verlagern ihre Bedarfsdeckung von Subsistenz- zu Konsumgütern. — (2) Verlagerung der Präferenz von Subsistenz- zu Konsumgütern bewirkt ebenfalls eine Verlagerung von Arbeit aus der Subsistenz- zur Marktgüterpro- duktion. — (3) Verlagerung der Präferenz von Muße zu Konsum. Eine Höherbewertung von Konsumgütern im Vergleich zu Muße führt dazu, dass Menschen bereit sind, mehr zu arbeiten, um Konsumgüter erwerben zu können → Ausweitung des Arbeitsangebots.

c. Entstehung einer Konsumgesellschaft. (1) Wandel der Bewertung von Konsum.

Bis ins 17. Jh. wurde die Bedarfsdeckung in Europa verbreitet durch Aufwandsgesetze nach Ständen differenziert normiert (d. h. obrigkeitliche Verordnung einer Subsistenzor- ientierung). Ende 17. Jh. brach dieses System zusammen, u. im 18. Jh. erfolgte eine Diskussion um Sinn u. Berechtigung von Luxus u. über individuelle Geschmacksästhe- tik (wichtiger Ausgangspunkt: Bienenfabel von Bernard Mandeville, 1714). Im Ergeb- nis wurde es legitim, dass Konsum den Gewinn von Prestige (modisches Auftreten) u.

Identität (über die Anwendung des individuellen Geschmacks) verschaffte. 2. H. 18. Jh.

entstanden als Grundlage von Konsumentscheidungen u. a. die ersten Modezeitschriften u. erste Werbekampagnen (Wedgewood; MCKENDRICK et al. 1982). — (2) Verbreitung

Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution (10.12.2014) 4

differenzierter Konsumgüter. Vgl. allgemein §3.a. Paradebeispiel sind im 3. Drittel 17.

Jh. verbreitet aus Indien eingeführte bemalte u. bedruckte Baumwolltücher (im England des 18. Jh. »fashion’s favourite«). Differenzierte Konsumgüter waren Voraussetzung dafür, dass der Nutzen des Konsums durch Gewinn von Prestige bzw. Identität stieg.

Dies bewirkte seinerseits, dass Konsumgüter gegenüber Subsistenzgütern u. Muße prä- feriert wurden u. Menschen bereit waren, sowohl mehr zu arbeiten als auch einen höhe- ren Anteil ihrer Arbeitszeit auf die Herstellung von Marktgütern zu verwenden.

d. Folgen mit Blick auf Industrialisierung. (1) Ausdehnung von Märkten für Kon- sumgüter weitete die Anwendungsmöglichkeit von technischen Innovationen aus u.

erhöhte damit die mit ihnen zu erlangenden Profite. — (2) Da nur wenige Regionen in Europa Baumwollprodukte herstellen konnten, führte die Nachfragesteigerung zu Eng- pässen, welche arbeitssparende Innovationen lohnend machten.

e. Fleißrevolution in Deutschland? (1) Nicht in Württemberg, da dort Aufwandsge- setze länger in Kraft blieben u. Landzünfte es Frauen erschwerten, den Arbeitseinsatz in Exportgewerben zu erhöhen (OGILVIE 2010). — (2) Feiertagsverminderungen. In kath.

Gebieten im 3. V. 18. Jh. Kampagne gegen Feiertage, welche die potentielle Jahresar- beitszeit um ca. 30–50 Tage erhöhte. — (3) Außenhandel. Importe insbesondere von Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Tabak) wuchsen ca. 1735–1800 rascher als die Bevöl- kerung. Bei sinkendem Reallohn (und wohl kaum wachsenden anderen Einkommens- quellen) setzte dies Änderungen der Präferenzen bzgl. Güternachfrage u. Muße voraus.

Zitierte Literatur

BECKER, Sascha O. und Ludger WOESSMANN: »Was Weber wrong? a human capital theory of Protestant economic history«, Quarterly Journal of Economics 124, 2 (2009), 531–596.

LEHMANN, Hartmut: Max Webers »Protestantische Ethik«: Beiträge aus Sicht eines Historikers (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1996).

LEHMANN, Hartmut und und Guenther ROTH (Hg.): Weber’s Protestant ethic: origins, evidence, contexts (Cambridge: Cambridge University Press, 1993).

MCKENDRICK, Neil, John BREWER und J. H. PLUMB: The birth of a consumer society:

the commercialization of eighteenth-century England (London: Europa, 1982).

OGILVIE, Sheilagh: »Consumption, social capital, and the “Industrious Revolution” in early modern Germany«, Journal of Economic History 70, 2 (2010), 287–325.

SCHLUCHTER, Wolfgang: Religion und Lebensführung, 2 Bde. (Frankfurt a. M.: Suhr- kamp, 1988).

VOTH, Hans Joachim: Time and work in England 1750–1830 (Oxford: Clarendon, 2000).

DE VRIES, Jan: The Industrious Revolution: consumer behavior and the household economy, 1650 to the present (Cambridge: Cambridge University Press, 2008).

WEBER, Max: »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus,« S. 17–206 in DERS., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I (Tübingen: Mohr, 1920). Taschenbuch: Die protestantische Ethik I (Gütersloh: Mohn, 19816).

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