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Protestantische Ethik — Fleißrevolution

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10. Dezember 2014

U. PFISTER

Industrialisierung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert

Kulturelle Grundlagen der Industrialisierung:

Protestantische Ethik — Fleißrevolution

Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus

Ausgangspunkt

Ausgangpunkt für Webers These ist die Beobachtung einer Korrelation zwischen Verbreitung des asketischen Protestantismus und dem frühen Vorkommen (proto-)industrieller Unternehmer

Mit asketischem Protestantismus meint Weber den Calvinismus, pietistische und freikirchliche Strömungen (Methodismus) sowie täuferische Sekten (z. B. Mennoniten)

Weber motiviert seine Studie mit der Beobachtung der vergleichsweise geringeren Beteiligung der Katholiken »am modernen Erwerbsleben in Deutschland« (um 1900), die teilweise auch durch eine geringere Verbreitung höherer Bildung begründet ist

Im 18./frühen 19. Jh. stammten zahlreiche Unternehmergruppen, die sich in Fernhandel, Bankgeschäften und verarbeitenden Gewerben engagierten, aus dem Umfeld des asketischen Protestantismus

Beispiele: Mennoniten und Calvinisten im Rheinland, Calvinisten in Frankreich, kontinentale Glaubensflüchtlinge und später Puritanisten in Großbritannien 10.12.2014 Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution 2

Protestantische Ethik im Rheinland?

Frühindustrielle Kerne entstanden überwiegend in kleinen Zonen, in denen nicht-lutherische evangelische Bekenntnisse verbreitet waren

Krefeld: Mennoniten

Rheydt(-Mönchengladbach): Reformierte

Wuppertal: Reformierte, Pietisten/freikirchliche Bewegungen

Hing dies mit der Geschäftspraxis der dortigen Kaufleute zusammen?

»Mit der Idee der Arbeit verbanden sich für den Unternehmer eine Reihe bestimmter, ethischer und rationeller Maximen, nach denen er nicht nur seine Geschäftsführung, sondern seine gesamte Lebensgestaltung sinnvoll und zweckmäßig ausrichtete. [...] Die meisten Unternehmer werden uns als Arbeitsfanatiker geschildert, die vom frühen Morgen bis zum späten Abend in Fabrik und Kontor tätig waren. Zum Beispiel soll der Tuchfabrikant Johann Caspar Engels in seiner Jugend täglich von 5 Uhr morgens bis 21 Uhr abends gearbeitet haben. [...] Sparsamkeit [...] wurde in jener ersten Zeit industrieller Entwicklung zur Hauptquelle der Kapitalakkumulation. Bei den reichen und streng religiösen Fabrikantenfamilien trug dazu auch die den Luxus verbietende protestantische Ethik bei [...].«

Zunkel, Friedrich: Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834–1879: ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1962, S. 67.

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»Geist des Kapitalismus«

Der Geist des Kapitalismus ist für Weber nicht gekennzeichnet durch Geldwirtschaft oder Profitstreben, sondern durch das Streben »nach immer erneutem Gewinn, nach Rentabilität« im Rahmen des kontinuierlichen, rationalen Betriebs

Rentabilität setzt eine rationale Berechnung und planmäßige Verwendung von Betriebsmitteln voraus

Im Gegensatz dazu: Abenteurer; Spekulanten; Hausierer-Kaufleute, die eine große Warenpalette mit sich tragen und auf zufällige Arbitrage-Gewinne aus sind; in Routine verhaftete Kaufleute

Eine solche durch methodisches Handeln geprägte Wirtschaftsweise ist eingebettet in eine umfassendere kulturell geprägte okzidentale Lebensführung

In Ergänzung der materialistischen Sicht von Marx beabsichtigt Webers Studie die kulturellen und religiösen Grundlagen der »Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung« aufzeigen

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These und Hinführung zum Argument

Die These in einem Satz

Die Lehren des asketischen Protestantismus waren einer methodischen Lebensführung besonders förderlich, und diese stellte die Grundlage des Geistes des Kapitalismus dar

Hinführung: Luthers Berufsbegriff

Der moderne Berufsbegriff entstand wesentlich in der lutherischen Bibelübersetzung und den lutherischen Konfessionen

Confessio Augustana (1530), Art. XVI: »Denn das Evangelium ... stößt nicht um weltlich Regiment, Polizei und Ehestand, sondern will, dass man solches alles halte als Gottes Ordnung und in solchen Ständen christliche Liebe und rechte gute Werke, ein jeder nach seinem Beruf beweise.«

Hintergründe

Ablehnung traditioneller Werkheiligkeit (Almosen, fromme Stiftungen, Ablass, Beichte) Vielmehr ist die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten der einzige Weg, Gott wohlzugefallen; alle erlaubten Arbeiten sind Gott wohl gefällig

Allerdings betonte Luther bei der Berufsarbeit v.a. eine Konformität des Gläubigen mit dem Evangelium; Rechtfertigung geschieht seitens des Gläubigen nur durch den Glauben, nicht durch die Tat

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Prädestinationslehre und methodische Lebensführung im Calvinismus/Puritanismus

Prädestination — der Grundgedanke

Der Gnadenstand jedes Menschen (ob jemand dazu auserwählt ist, in den Himmel zu kommen oder zur Hölle verdammt ist) ist bereits im Schöpfungsplan festgelegt.

Er kann deshalb weder durch Gebete noch durch gute Werke beeinflusst werden.

Unbeabsichtigte Folgen der Distanz zwischen Mensch und Jenseits

Vereinzelung der Gläubigen, Entzauberung der Welt

Das Vollbringen guter Werke ist nicht mehr Heilsmittel, sondern selbst bereits Ausdruck des Gnadenstandes, Zeichen für Gottes Segen und Wirksamkeit in der Welt.

Angesichts der Ungewissheit über den eigenen Gnadenstand (»Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums«) übten Gläubige über sich eine systematische Selbstkontrolle aus im Hinblick auf das dauernde Hervorbringen guter Werke als Zeichen der Zugehörigkeit zu den Auserwählten Die Reichweite guter Werke nahm erheblich zu und schloss ethisch gutes Alltagshandeln, wirtschaftlichen und familiären Erfolg mit ein. Somit schwand der Heilszweck einzelner guter Handlungen zugunsten einer zum System gesteigerten, d.h. rationalen, Werkheiligkeit

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Innerweltliche Askese

Bereits mittelalterliche Mönchsorden kannten außerweltliche Askese

systematisierte Lebensführung mit planvoller Selbstkontrolle

Verzicht auf Triebbefriedigung

Askese zielte in diesem Fall auf den heiligmäßigen Status mittels der Überbietung der innerweltlichen Sittlichkeit

Durch die calvinistische Prädestinationslehre wurde die asketische Lebensführung in die Alltagswelt hineinverlagert

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Innerweltliche Askese, Humankapital und gesellschaftlicher Erfolg

Reformierte Familienratgeber aus dem 16. Jahrhundert

Eltern sollen ihre Kinder Gott zuführen, d. h. religiös erziehen. Der Grund dafür »ist diss, dass kein grösserer dienst, kein besser werck, und kein angenemer opffer dem eewigen Gott mag fürgebracht und bewisen werden, dann so mann jm die kinder zufürt. […] Nimm doch nit mer dann nur einen menschen der wol grhatet, der rechtsinnig ist, unnd hernach in gericht und rhat sitzt, der gemein dienet, ja Gott in seinem wort in der kirchen dienet, wz guts mag er doch schaf- fen in statt und land, […] Wo söliche elteren in einem hauss sind, das ist ein rechte kirchen und ein ausserwelt closter, unnd lass mir ein söliche muter eine rechte Aeptissin seyn, […].«

Von der Erziehung ihrer Kinder haben »die Eelüt nit die mindesten fröud und leid, ja die grösten ruw und unruew zeerwarten, zu dem das sy Gott rächnung von jren kinderen zu gäben schuldig sind.«

Quellen:Samuel Hochholzer, Von der Kinderzucht ..., Zürich 1591, fol. 135r–136r ; Heinrich Bullinger, Der Christlich Ehestand, Zürich 1540, Kap. 21; beides Pfister, Ulrich: Die Anfänge von Geburtenbeschränkung:

[…], Bern: Lang, 1985, S. 118, 120.

Kommentare

Gesellschaftlicher Erfolg von Kindern ist ein gutes Werk, das für Eltern heilsrelevant ist Innerweltliche Askese: Wohlgeratene Kinder hervorzubringen ist Ergebnis einer methodi- schen Lebensführung, welche die geheiligte Lebensführung des Klosters in den Ehealltag der Laien überträgt

Nebenaspekt: Hohe Bewertung der Schaffung von Humankapital

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Kritik der Weber-These

Allgemeines

In wissenschaftshistorischer Perspektive ist Webers Studie grundlegend für die Entwicklung von …

Religionssoziologie Modernisierungstheorie

Historische bzw. empirische Sicht

die These ist wegen ihrer psychologischen Ausrichtung schwierig zu prüfen Sie wird unter anderem deshalb heute kaum mehr ernsthaft vertreten

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Prädestination, Vorsehung und religiöse Alltagspraxis

im englischen Nonkonformismus des 17. Jahrhunderts Argument: Die religiöse Praxis im englischen Nonkonformismus des 17. Jahrhunderts führte wohl nicht zum psychischen Druck auf Gläubige, ihre Lebensführung zur methodischen Hervorbringung guter Werke zu rationalisieren

Vorsehung als Ausflucht vor der Prädestination

Im Calvinismus bezieht sich Vorsehung auf das Wirken Gottes in der Welt. Im 17.

Jh. implizierte sie verbreitet den Glauben, dass Gottes Gnade allen, nicht nur den durch die Prädestination Auserwählten, zugänglich ist.

Religiöse Tagebücher zeigen, dass sich auch theologisch gebildete Gläubige über den Glauben an die Vorsehung den von Weber betonten Implikationen der Prädestinationslehre weitgehend entzogen

Aufrechter Lebenswandel als generelle Zeitforderung

Auch Ratgeber, welche die Prädestinationslehre nicht teilten, betonten die Bedeutung eines konsequent aufrechten Lebenswandels als Ausdruck von Gottes Gnade

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Beeinflusste die protestantische Ethik die Geschäftspraxis?

Die Frage ist schwierig zu untersuchen

Existierende Studien zum Geschäftsgebaren von Kaufleute aus dem Umfeld des asketischen Protestantismus kommen zu eher zurückhaltenden Ergebnissen

Fallstudie zu deutschem Kontext: Pietistische Wolltuchhändler in Calw im frühen 18. Jh.

Fazit: Kaufleute aus dem Umfeld des asketischen Protestantismus unterschieden sich hinsichtlich ihrer Geschäftspraxis wohl nicht nachhaltig von anderen Kaufleuten

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Soziale Marginalität als Quelle industriellen Unternehmertums I

Ausschluss von herkömmlichen Geschäftsmöglichkeiten

Grundidee aller nun folgenden Einwürfen:

Zusammenhang Protestantismus — wirtschaftliche Entwicklung hängt mit anderen Faktoren als der Ethik zusammen

Ausschluss von herkömmlichen Geschäftsmöglichkeiten

Die mächtigen Fürsten des europäischen Festlands waren überwiegend katholisch Habsburg, Frankreich, Spanien (Habsburg/Burbonen)

→Für Protestanten war der Staat als Geschäftspartner weitgehend verschlossen Kriegsunternehmertum, Staatsfinanzierung

Glaubensflüchtlingen wurde zudem die Betätigung in angestammten Gewerben oft verwehrt

Mit Tätigkeiten in wenig regulierten Protoindustrien erschlossen sich religiöse Minderheiten eine Lebensgrundlage

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Soziale Marginalität als Quelle industriellen Unternehmertums II

Diaspora

Definition Diaspora

Räumlich zerstreute Gruppe mit gemeinsamer Identität, die durch gemeinsame räumliche Herkunft und/oder Religion begründet sein kann

Beispiele wichtiger Diasporen: Juden, Armenier, Täufer, Hugenotten

Diasporen waren in einer Welt mit fehlendem internationalen Handelsrecht für den Fernhandel besonders geeignet

Information zirkulierte unter Mitgliedern über weite Distanzen

Neben der Verbreitung von Wirtschaftsnachrichten ermöglichte dies auch eine Überwachung räumlich getrennter Geschäftspartner

Kleine Gemeinschaften vor Ort konnten einzelne Mitglieder gut überwachen, und die Sanktionsdrohung mit Ausschluss bei Fehlverhalten war wirksam, weil letzterer die gesellschaftliche Ächtung nach sich zog

→Niedrige Transaktionskosten von Verträgen im Fernhandel

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Humankapitalakkumulation war wichtiger als Ethik

Die theologische Bedeutung von Bildung im Protestantismus

Seit Luther legte der Protestantismus großen Wert darauf, dass die Gläubigen sich Gottes Wort selbständig durch Lesen der Bibel aneigneten

Schlüsselkonzepte: »Priestertum aller Gläubigen«; »sola scriptura«

Günstige Ressourcenbasis für den Ausbau des Schulwesens

Im Zuge der Reformation gingen im 16. Jh. kirchliche Ressourcen in staatliche Aufsicht über

Letztere wurden in der Folge unter anderem zum Auf- und Ausbau des Schulwesens genützt

Das Bildungsniveau war im 18./19. Jh. in evangelischen Gebieten höher als in katholischen

Die Studie von Becker/Woessmann (2009)

Vergleich preußischer Kreise in den 1870er Jahren mit ökonometrischen Methoden Ergebnis: Der positive Effekt des Protestantismus auf das steuerbare Durchschnitts- einkommen verlief wohl v. a. über das Bildungsniveau (Alphabetisierungsrate) 10.12.2014 Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution 14

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Fleißrevolution — Konsumrevolution

Schon vor dem Beginn der Industrialisierung im späten 18. Jh. nahm der Konsum von Manufakturgütern deutlich zu

Die Mechanisierung der Baumwollspinnerei lässt sich als Beseitigung von nachfragebedingten Engpässen in einem arbeitsintensiven Arbeitsgang interpretieren

Wie war dies vor dem Hintergrund tiefer und lange fallender Reallöhne möglich?

Antwort: Im Rahmen einer Fleißrevolution waren Menschen in Europa bereit mehr zu arbeiten und damit ihre Einkommen zu erhöhen Dieser Vorgang geschah vor dem Hintergrund einer Neubewertung von Bedarfsdeckung und Konsum um die Wende vom 17. zum 18. Jh.

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Reallohn von ungelernten städtischen Bauarbeitern

Anteil eines jährlichen Konsumgüterkorbs, der mit einem Taglohn gekauft werden kann

Quellen: Allen, Robert C.: »The great divergence in European wages and prices from the Middle Ages to the First World War«, Explorations in Economic History 38, 4 (2001), 411–447, Daten von http://www.iisg.nl/hpw/data.php#europe (England); Pfister, Ulrich: » The timing and pattern of real wage divergence in pre-industrial Europe: evidence from Germany, c. 1500–1850«, Manuskript 2014 (Deutschland).

0.0%

0.5%

1.0%

1.5%

2.0%

1650 1660 1670 1680 1690 1700 1710 1720 1730 1740 1750 1760 1770 1780 1790 1800 1810 1820 1830 1840 1850 Südengland

Deutschland

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10.12.2014 Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution 17

Verbreitungsraten häuslicher Einrichtungsgegenstände

England, 1675–1725

1675 1685 1695

1705 1715

1725 Land

Kleinstädte London 0

10 20 30 40 50 60 70

Land Kleinstädte London

Vorhänge

1675 1685 1695

1705 1715

1725 Land

Kleinstädte London 0

10 20 30 40 50 60 70 80

Land Kleinstädte London

Tongeschirr

1675 1685

1695 1705

1715 1725

Land Kleinstädte

London 0

10 20 30 40 50 60

Land Kleinstädte London

Uhren

1675 1685

1695 1705

1715 1725

Land Kleinstädte

London 0

10 20 30 40 50 60

Land Kleinstädte London

Bücher

Quelle: Lorna Weatherill, »The meaning of consumer behaviour in late seventeenth- and early eighteenth-century England«, S. 206–227 in Brewer, John und Roy Porter (Hg.): Consumption and the world of goods, London: Routledge, 1993, S. 186.

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Textiliensorten in Pariser Nachlassinventaren des 18. Jh.

Adel Dienstboten

Lohnarbeiter(innen) Handwerk, Einzelhandel

Beamte und freie Berufe

LeinenWolleSeideBaumwolleVerschiedenes 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

Quelle:Daniel Roche, The culture of clothing: dress and fashion in the "ancien régime“, Cambridge: Cambridge University Press, 1994, S. 127, 138.

Adel Dienstboten

Lohnarbeiter(innen) Handwerk, Einzelhandel

Beamte und freie Berufe Leinen

WolleSeide BaumwolleVerschiedenes 0%

5%

10%

15%

20%

25%

30%

35%

40%

um 1700 um 1789

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Hebung des Niveaus der materiellen Kultur

vor allem ca. 1650–1750 Wichtige Elemente

baumwollene und seidene Artikel in der weiblichen Bekleidung auch in der Unterschicht (z. T. nur Accessoires: Bänder, Taschentücher, Schale, Kopftücher) Häusliche Ausstattung: Heimtextilien, Geschirr, Besteck, Möbel inkl. Uhren

Speziell in Bezug auf Textilien

Verbreitung von über weite Distanzen gehandelte Artikel mit komplexer Wertschöpfung (Baumwoll-, Seidenwaren) auf Kosten einfacherer Artikel (einfache Wolltuche, Leinen)

Verbreitung bunter auf Kosten von schwarzen, grauen und v. a. braunen Artikel Anteil bunter Textilien in Pariser Nachlassinventaren

Hinweis sowohl auf Produktdifferenzierung als auch auf die Entwicklung der Färbetechnik Adel Dienstboten Lohnarbeiter-

(innen) Handwerk,

Einzelhandel Beamte, freie Berufe

Um 1700 8% 13% 12% 9% 8%

Um 1789 41% 38% 29% 19% 34%

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Einkommenssteigerung dank mehr Arbeit

Die Zunahme des Niveaus der materiellen Kultur wurde in England ca.

1650–1750 durch eine verbreitete Zunahme der Reallöhne unterstützt

ihrerseits begünstigt durch eine verbreitete Stagnation der Bevölkerung

Darüber hinaus nahmen in der Frühen Neuzeit die Dauer und die Intensität der Arbeit deutlich zu

Im 16. Jh. Zunahme der jährlichen Arbeitszeit um ca. 20% wegen der Reduktion von Feiertagen

In der zweiten Hälfte des 18. Jh. in England v. a. wegen des Wegfallens des blauen Montags nochmals Steigerung der jährlichen Arbeitszeit um ca. 20%

Im Rahmen der Entstehung exportorientierter Gewerberegionen

(Protoindustrialisierung) wurden Jahreszeiten mit geringem landwirtschaftlichem Arbeitsaufkommen vermehrt für die Herstellung von Manufakturgütern genutzt, besonders durch Frauen und Kinder

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Subsistenzorientierung

und/oder Steigerung des Arbeitsangebots

Die vermutete Existenz einer fallenden Arbeits- angebotskurve kann die Zunahme der Arbeitszeit in der Frühen Neuzeit wahrscheinlich nur zum Teil erklären

Elastizität des Arbeitseinsatzes wohl max. -0,3 Bei dem verbreiteten Reallohnverfall von 50% stiege der Arbeitseinsatz um 15%

Arbeitseinsatz Lohn

L2 L3

N2 w2

A' A

w1 w3

N1 N3

L1

A Arbeitsangebot N Nachfrage nach Arbeit Fallende Arbeitsangebotskurve

Angestrebt wird das zur Aufrechterhaltung einer gegebenen Lebenshaltung angestrebte Einkommen (z. B. von w1und L1 begrenzte Fläche)

Geht die Arbeitsnachfrage zurück, z.

B. wegen einer Missernte (N1→N2) so wird zur Kompensation des fallenden Lohns mehr gearbeitet w1→w2, L1→L2; die von L2,w2 begrenzte Fläche (Einkommen) ist identisch mit der von L1,w1 begrenzten Fläche Zunahme des Arbeitsangebots

Verschiebung A→A’: die Menschen sind bereit, für denselben Lohn mehr zu arbeiten

Trotz fallender Löhne steigt das verfügbare Einkommen

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Die Hypothese der Fleißrevolution

Ausgangspunkt

(Ländliche) Haushalte produzieren Güter für den Eigenbedarf (Subsistenzgüter) und Güter für den Markt (landwirtschaftliche Güter, Manufakturwaren)

Den Bedarf decken sie mit Subsistenzgütern und gekauften Konsumgütern

Mögliche Ursachen eines steigenden Arbeitseinsatzes für die Produktion von Marktgütern

(1) Sinkende Kosten der Distanzüberwindung

… bewirken aus Sicht der Haushalte, dass die Nachfrage nach Marktgütern und das Angebot von Konsumgütern steigen

Die mit der Produktion von Marktgütern erlangbaren Konsumchancen nehmen somit zu

→Haushalte dehnen die Marktgüterproduktion auf Kosten der Subsistenzgüterproduktion aus und verlagern ihre Bedarfsdeckung von Subsistenz- zu Konsumgütern

(2) Verlagerung der Präferenz von Subsistenz- zu Konsumgütern

… bewirkt ebenfalls eine Verlagerung von Arbeit aus der Subsistenz- zur Marktgüterproduktion

(3) Verlagerung der Präferenz von Muße zu Konsum

Eine Höherbewertung von Konsumgütern im Vergleich zu Muße führt dazu, dass Menschen bereit sind, mehr zu arbeiten, um Konsumgüter erwerben zu können

→Ausweitung des Arbeitsangebots

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Entstehung einer Konsumgesellschaft

Bedarfsdeckung in der Ständegesellschaft

Standesspezifische Normierung mittels Aufwandsgesetzen Dieses System brach Ende 17. Jh. zusammen

Die Debatte um Luxus und Geschmack im 18. Jh.

Ist Luxus sozial und volkswirtschaftlich sinnvoll?

wichtiger Ausgangspunkt: Bienenfabel von Bernard Mandeville (1714) Welches sind die Grundlagen einer individuellen Geschmacksästhetik?

Ergebnis: Legitimität von Konsum

… als individuelle Entscheidung hinsichtlich des unter Alternativen wählenden Kaufs von Bedarfsgütern

Funktion 1: Gewinn von Prestige durch modisches Auftreten

Funktion 2: Gewinn von Identität über die Entwicklung eines individuellen Geschmacks

Basis für Verlagerung von Präferenzen von Muße bzw.

Subsistenzgüterverwendung zu Konsumgüterkonsum und Arbeit Neue Grundlagen für Konsumentscheidungen (ab 2. Hälfte 18. Jh.)

Modezeitschriften

Werbekampagnen mit Katalogen: z. B. Wedgewood

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Stolz, Neid und Eitelkeit nähren Innovationen und Fleiß

Die Umwertung von Luxus durch Mandeville (1714)

Luxury Employ‘d a Million of the Poor, And odious Pride a Million More.

Envy it self, and Vanity Were Ministers of Industry;

Their darling Foly, Fickleness In Diet, Furniture and Dress, That strange ridic‘lous Vice, was made The very Wheel, that turn‘d the Trade.

Their Laws and Cloaths were equally Objects of Mutability;

For what was well done for a Time, In half a Year became a Crime;

...

Thus Vice nursed Ingenuity, Which join‘d with Time, and Industry Had carry‘d Life‘s Conveniences, Its real Pleasures, Comforts, Ease, To such a Hight, the very Poor Lived better than the Rich before

Luxus Beschäftigte eine Million Arme,

Verachtenswerter Stolz noch eine Million dazu.

Neid selbst und Stolz Waren Diener des Fleisses;

Ihre Narretei

In Nahrung, Möbel und Kleidung Dies merkwürdige Laster, wurde Zum eigentlichen Rad, das Handel antrieb.

Ihre Gesetze und ihre Kleider waren gleichermaßen Getrieben von Veränderlichkeit;

Denn was eine Zeitlang in Ordnung war, Wurde binnen eines halben Jahrs zum Verbrechen.

So nährte das Laster den Erfindungsgeist, Der sich mit Zeit verband, und Fleiß Hatte die Annehmlichkeiten des Lebens, Seine wahren Vergnügungen und Bequemlichkeiten Zu solchen Höhen gebracht, dass die Ärmsten Besser als zuvor die Reichen lebten.

Aus der Bienenfabel von Bernard Mandeville (1714); zitiert nach McKendrick, Neil, John Brewer und J. H. Plumb:

The birth of a consumer society: the commercialization of eighteenth-century England, London: Europa, 1982.

(7)

Verbreitung differenzierter Konsumgüter

Vgl. allgemein oben die Informationen zu Haushaltsinventaren in England und in Paris

Paradebeispiel für neue differenzierte Konsumgüter sind ab dem letzten Drittel des 17. Jh. verbreitet aus Indien eingeführte bemalte und bedruckte Baumwolltücher

im England des 18. Jh. »fashion’s favourite«

Differenzierte Konsumgüter waren Voraussetzung dafür, dass der Nutzen des Konsums durch Gewinn von Prestige bzw. Identität stieg

Wenn alle Menschen graue Wolltücher tragen, gibt es keine Mode, mit der sich Prestige gewinnen lässt. Letzteres gilt auch für traditionelle Luxusgüter wie Pelze

Der gestiegene Nutzen von Konsumgütern bewirkte seinerseits, dass letztere gegenüber Subsistenzgütern und Muße präferiert wurden und Menschen bereit waren, sowohl mehr zu arbeiten als auch einen höheren Anteil ihrer Arbeitszeit auf die Herstellung von Marktgütern zu verwenden

10.12.2014 Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution 25 10.12.2014 Kulturelle Grundlagen: Protestantische Ethik — Fleißrevolution 26

Ein unendlich differenzierbares Produkt

Bedrucktes Baumwolltuch, 18. Jh.

Detail eines indienne-Stoffs, Holzplatte auf Baumwolle, Manufaktur Oberkampf, Jouy (in der Nähe von Paris), 1785

© Musée de l'Impression sur Etoffes, Mülhausen

Folgen mit Blick auf Industrialisierung

Die Ausdehnung von Märkten für Konsumgüter weitete den Anwendungsbereich von technischen Innovationen aus und erhöhte damit die mit ihnen zu erlangenden Profite

Da nur wenige Regionen in Europa Baumwollprodukte herstellen konnten, führte die Nachfragesteigerung zu Engpässen, welche arbeitssparende Innovationen lohnend machten

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Gab es in Deutschland eine Fleißrevolution?

Nicht in Württemberg

Aufwandsgesetze blieben hier länger in Kraft

Landzünfte erschwerten es Frauen, den Arbeitseinsatz in Exportgewerben zu erhöhen

Verminderung der Zahl an Feiertagen

In katholischen Gebieten wurde im 3. Viertel 18. Jh. eine Kampagnen gegen Feiertage geführt

→Erhöhung der potentiellen Jahresarbeitszeit um ca. 30–50 Tage

Außenhandel

Deutsche Importe insbesondere von Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Tabak) wuchsen ca. 1735–1800 etwas rascher als die Bevölkerung

Bei sinkendem Reallohn und wohl kaum wachsenden anderen Einkommensquellen setzte dies Änderungen der Präferenzen bezüglich der Nachfrage nach Gütern und Muße voraus

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