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Archiv "Euthanasie gestern – Sterbehilfe heute?" (26.11.1987)

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THEMEN DER ZEIT

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Gibt es ein wachsendes Bedürfnis, das Leiden eines Men- schen irgendwann für so groß zu halten, daß man nicht mehr von einem menschenwürdigen oder lebenswertem Leben sprechen kann? Führt diese Haltung zu Forderun- gen, die Sterbehilfe zu „liberalisieren"? Stünde eine solche Haltung nicht in gefährlicher Kontinuität mit Euthanasie- Forderungen der letzten hundert Jahre? Der folgende Bei- trag stützt sich auf Gedanken, die im Rahmen der Weiter- bildung im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Gütersloh entwickelt wurden, sowie auf Diskussionen während einer Tagung der Evangelischen Akademie Bad Boll im Frühjahr.

ls Professor Julius Hak- kethal seiner krebs- kranken Patientin Her- my Eckert im April 1984 Cyankali zukom- men ließ, beging er weder „Tötung auf Verlangen" noch „unterlassene Hilfeleistung". Vielmehr habe er le- diglich straflose Beihilfe zur ebenso straflosen Selbsttötung geleistet. So befand jetzt abschließend der 1.

Strafsenat des Oberlandesgerichtes München, womit er die von der Staatsanwaltschaft geforderte Ein- leitung des Hauptverfahrens gegen ihn ablehnte. Nicht nur Hackethal selbst feierte diese Entscheidung als Sieg der Humanität, der Vernunft und des Rechts auf Selbstbestim- mung über rückständige Juristen und ebenso rückständige ärztliche Standesvertreter; sondern ebenso freute sich mit ihm der überwiegen- de Teil unserer Presselandschaft.

Hackethal ist nur ein Symptom dafür, daß Forderungen nach Libe- ralisierung der Sterbehilfe, um der seelenlos gewordenen Medizin das Recht auf einen menschenwürdigen Tod ihrer Patienten abzuringen, seit Jahren sich einer zunehmend me- dienwirksamen Faszination erfreu- en. Dabei finden wir das Pressespek- trum von der „Zeit" bis zu „Bild"

in seltener Eintracht. Neben Hak- kethal werden zum Beispiel nieder- ländische Ärzte gefeiert, die sich öf- fentlich dazu bekennen, ihren AIDS-Patienten durchaus nicht nur passive Sterbehilfe gewährt zu ha- ben.

Offensichtlich gibt es ein wach- sendes Bedürfnis, das Leiden eines

Klaus Dörner

Euthanasie gestern

Sterbehilfe heute?

Menschen irgendwann für so groß zu halten, daß man nicht mehr von ei- nem menschenwürdigen oder einem lebenswerten Leben sprechen kön- ne. Oder geht die allgemeine Ver- meidung und Verdrängung unseres Todes so weit, daß die Menschen zu- nehmend sich auch noch die Mühe des Sterbens von Ärzten abnehmen lassen möchten? All dies ist Anlaß genug, sich mit der Frage zu be- schäftigen, wie weit die beschriebe- ne Tendenz auf Liberalisierung der Sterbehilfe sich in einer gefährlichen Kontinuität mit Euthanasie-Forde- rungen der letzten hundert Jahre be- findet, von denen Theorie und Pra- xis der nationalsozialistischen Eu- thanasie nur die konsequenteste und mörderischste Spielart war.

Im folgenden stütze ich mich vor allem auf Gedanken, die wir im Rahmen der Weiterbildung im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Gütersloh in den letzten Jahren ent- wickelt haben, angereichert durch die Diskussionen auf der Euthana- sie-Tagung der Evangelischen Aka- demie Bad Boll vom Frühjahr 1987.

Die historische Forschung hat inzwischen die Aufmerksamkeit auf den früher gern verdrängten Um- stand gerichtet, daß die Forderung nach Euthanasie oder Sterbehilfe im 20. Jahrhundert vor allem der libera- len Forderung nach mehr Selbstbe- stimmung, Emanzipation, Freiheit und Fortschritt entspringt, vermischt mit einem geradezu religiösen Glau- ben an die Wissenschaft, an die Machbarkeit des Abschaffens menschlichen Leidens und an die schlecht hinnige Heilbarkeit des Menschen. Diese Vermutung hatten schon Horkheimer und Adorno, als sie 1940 in der „Dialektik der Auf- klärung" die unbeabsichtigten und schrecklichen Folgen des liberalen Fortschrittsoptimismus der Aufklä- rung darstellten, um das Möglich- werden des Nationalsozialismus ver- stehen zu können.

Unser ganzes Jahrhundert hin- durch finden wir die Forderungen nach Recht auf das eigene Leben, Recht auf den eigenen Bauch und Recht auf den eigenen Tod mit dem Grundwert der Selbstbestimmung des Menschen begründet. Nun ist si- cher der Grundwert der Selbstbe- stimmung — auch in unserem Grund- gesetz — fundamental. Aber er be- darf offenbar eines gleichermaßen fundamentalen Gegenwertes, der et- wa als Schutz des Lebens zu bezeich- nen wäre, um sich nicht zu verselb- ständigen, zu verabsolutieren und dadurch mörderisch zu werden. Der Frankfurter Sexualwissenschaftler Sigusch hat einmal die Verschrän- kung dieser beiden Grundwerte so ausgedrückt: „Zwar gehört das Le- ben mir, aber ich gehöre auch dem Leben".

Während für uns alle der Grundwert und das Grundrecht der Selbstbestimmung selbstverständlich sind, scheint der Grundwert des Le- bensschutzes für uns weniger funda- mental zu sein, schwieriger zu be-

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gründen, bestenfalls und im Zuge der Säkularisierung nachlassend christlich motiviert, hat daher im Streitfall meist das Nachsehen. In dieser Situation frage ich mich und die Leser, ob vielleicht die neue ökologische Bewegung mit dem Na- turschutz auch zu einer machtvolle- ren Begründung des Lebensschutzes von uns entwickelt werden könnte oder müßte. Ich bitte die Leser, während meiner folgenden Gedan- ken sich innerlich von dieser Frage begleiten zu lassen, auch wenn Sie zunächst den Eindruck haben wer- den, mir gehe es hier nur um die fragwürdige Wiederbelebung veral- teter und überholter konservativer Grundwerte.

Die Anfänge im 19. Jahrhundert

In den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts werden merkwürdiger- weise all jene Forderungen, die für unser Problem wichtig sind, erstmals und in moderner Sprache lautstark erhoben, die uns durch das 20. Jahr- hundert begleiten (die nachfolgend zitierten Texte sind nachgewiesen in meinem Aufsatz „Nationalsozialis- mus und Lebensvernichtung", in:

K. Dörner: Der Krieg gegen die psy- chisch Kranken, Psychiatrie-Verlag Rehburg-Loccum 1980). 1895 for- derte A. Jost „Das Recht auf den Tod" für alle Menschen, besonders für alte und schwache. Er hielt dies für eine notwendige „soziale Re- form", da die religiöse Absolutset- zung des Lebens unmenschlich und unsozial sei — also lange bevor es In- tensivstationen gab. A. Ploetz for- derte ebenfalls 1895 die Tötung von Kindern mit Mißbildungen. H. St.

Chamberlain kämpft 1899 für die Förderung der Kräfte des Fort- schritts und für die Vernichtung der Kräfte des Verfalls, ähnlich wie kein Geringerer als Victor von Weizsäk- ker in den 30er Jahren, vom Natio- nalsozialismus begeistert, eine medi- zinische Vernichtungslehre entwik- kelte. Chamberlain entwarf für sei- nen Zweck einen Begriff der ari- schen Rasse, wobei es ihm gleichgül- tig sei, ob diese je existiert habe, da wir sie ja erst schaffen wollen. 1891

beschrieb J. L. A. Koch „die psy- chopathischen Minderwertigkei- ten", womit er von Geburt an entar- tete und daher minderwertige Men- schen meinte, ein Konzept, das sich im 20. Jahrhundert unter wechseln- den Begriffen gut behauptet hat. Im selben Jahrzehnt entwickelte E.

Kraepelin sein — von heute her gese- hen — ähnlich wahnsinniges und un- wissenschaftliches Konzept der

„Dementia praecox", die spätere

„Schizophrenie", mit dem gesetz- mäßigen Fortschreiten zum Defekt, zur Versandung, zum geistigen Tod, eine Erfindung, die erst in den 70er Jahren durch die großen biographi- schen Langzeituntersuchungen von Bleuler, Ciompi/Müller und Huber endgültig widerlegt wurde. Eben- falls in den 90er Jahren wurde der klassisch-christliche zum „wissen- schaftlichen" Antisemitismus mo- dernisiert.

1892 führte der bekannte Sozial- reformer und Psychiater A. Forel die erste Sterilisierung eines geistes- kranken Menschen mit eugenischer Absicht durch. Um dieselbe Zeit führte eine breite Bewegung im Na- men des Rechts auf das eigene Le- ben und auf den eigenen Tod in vie- len Staaten dazu, daß die Strafbar- keit des Suizids und der Beihilfe zum Suizid dem kirchlichen Einfluß ent- zogen und aufgehoben wurde. Diese Auswahl zeigt, daß nur noch das

„innere Erlebnis" des Ersten Welt- krieges nötig war, damit Binding und Hoche 1920 programmatisch die verschiedenen Impulse zur „Freiga- be der Vernichtung lebensunwerten Lebens" bündeln konnten. Fortan hatte Leben nicht mehr einen Wert in sich selbst, sondern einen positi- ven oder negativen Wert, gemessen an der Nützlichkeit oder an der in- dustriellen Brauchbarkeit.

Zum Beispiel:

Die Rolle der Kirchen

ADAM*

Jeder fortschrittsbewußte Bür- ger — und wer wollte das nicht sein?

— konnte und mußte dem zustim- men, da all diese

Bewegungen für

ihn nichts anderes waren als der Freiheitskampf um liberale Selbst- bestimmung, Gedankenfreiheit,

Wissenschaftsglauben und zweck- mäßig-vernünftige Sozialreform mit möglichst geringen Kosten gegen die reaktionären, finsteren und veralte- ten Mächte der Kirche und des mo- narchistischen Staates. Das über 200 Jahre einigermaßen funktionierende Gleichgewicht zwischen bürgerlich- liberaler Selbstbestimmung und Wissenschaftsglauben einerseits und dem christlichen Glauben daran, daß das Leben nur eine Leihgabe Gottes sei, andererseits, war mit dem Sieg der fortschrittlichen Kräfte zusammengebrochen. Als Folge da- von versuchten die Kirchen, sich an die fortschrittliche Modernität anzu- passen, um die Verbindung zu ihren Gemeindemitgliedern micht noch mehr zu verlieren, die immer schon mehr mit staatlicher Vernunft ver- flochtene Evangelische Kirche stär- ker als die Katholische Kirche. In den kirchlichen Einrichtungen für geistig Behinderte zum Beispiel ging die Macht zunehmend von den kon- servativen Pastoren an die liberal- fortschrittlichen Ärzte über. Statt daß die Pastoren nun ihre eigene Po- sition des unbedingten Lebensschut- zes weiter vertraten, machten sie sich in breiter Front zu Fürsprechern für die Sterilisierung aus eugenischer Indikation. Deshalb gab es auch bei ihnen kaum Widerstand, als 1933 mit der Machtergreifung der Natio- nalsozialisten als erstes das Erbge- sundheitsgesetz auf sie zukam, das man von seiner Absicht her mit Recht als das NS-Grundgesetz be- zeichnet hat, da alle späteren lebens- bedrohenden NS-Ideen und -Aktio- nen darauf aufbauten.

Es ist daher kein Zufall, daß et- wa Bethel um diese Zeit mit Carl Schneider und W. Villinger zwei so- wohl wissenschaftlich bedutende als auch in der Nazi-Euthanasie führen- de Psychiater als leitende Ärzte hat- te. So wurde es halbwegs verständ- lich, daß erst das unmittelbare Mordansinnen an den „Schutzbe- fohlenen" in Bethel wie in allen an- deren Einrichtungen ab 1940 die Pa- storen und teilweise die Ärzte von ihrem blinden und wahnhaften Wis- senschaftsglauben

befreite, so daß

sie sich wieder der Position des Le- bensschutzes erinnern konnten. Da sie aber allzu lange in dem beschrie-

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benen liberal-fortschrittlichen Ge- dankenstrom mitgeschwommen wa- ren, kam ihr Widerstand allzu spät, war wenig kräftig, glaubwürdig und damit erfolgreich. War es denn nicht auch vernünftig, alles für die heilba- ren psychisch Kranken und geistig Behinderten zu tun, die Unheilba- ren jedoch von ihrem trostlosen Lei- den zu erlösen? Würden diese nicht selbst ihr Selbstbestimmungsrecht auf den eigenen Tod gewünscht ha- ben, wenn sie nur sich vernünftig äu- ßern könnten? Hatte man nicht in der Psychiatrie schon seit 50 Jahren für die Heilbaren wesentlich mehr investiert als für die Unheilbaren?

Hatte die Psychiatrie dadurch nicht schon die moderne Wertung des Le- bens nach der ökonomischen Nütz- lichkeit vorweggenommen?

NS-Zeit: Von der ersten Phase der Euthanasie .. . Gar keinen Widerstand gab es gegen die erste Phase der Euthana- sie, als es sich 1939/40 „nur" um polnische Psychiatrie-Patienten han- delte, an denen erstmals in der Ge- schichte der Menschheit das syste- matische und industrielle Töten von Menschengruppen durch Vergasen erprobt wurde. Nach diesem schwei- gend hingenommenen Präzedensfall war der Widerstand noch weniger aussichtsreich, als die NS-Planer 1940/41 mit derselben Methode des Vergasens den errechneten Über- hang von 80 000 Unheilbaren „des- infizieren" ließen, wie sie den Mord nannten. Selbst Kardinal Graf von Galen konnte sich zu seinen öffent- lichen Predigten erst kurz vor Ende dieser Aktion durchringen, nach- dem er schon ein Jahr lang von den Morden wußte.

Manche Psychiater, die sich überhaupt äußerten, forderten, daß es wenigstens ein Euthanasie-Gesetz geben sollte, damit ihre Euthanasie- Beteiligung nicht strafbar sei. Wäh- renddessen war aber ein solches Ge- setz schon in Arbeit. An den Bera- tungen zu diesem Euthanasie-Ge- setz, deren Protokolle zum Teil er- halten sind, nahmen die führenden Psychiater teil, von denen nur einer

— Prof. Ewald — sich verweigerte.

Nicht einer von ihnen hat dabei den hippokratischen Eid zu bedenken gegeben. Für all diejenigen Ärzte, die in den Jahrzehnten davor dem modernen Zeitgeist gefolgt waren, war es aber auch ungeheuer schwer, sich der liberalen Selbstbestim- mungslogik des NS-Euthanasie-Ge- setzes zu entziehen, wodurch das NS-Gesetz auch unsere heutige Pro- blematik schonungslos und grell be- leuchtet: Denn in diesem Gesetz, das nur aus außenpolitischer Rück- sicht erst nach dem Krieg veröffent- licht werden sollte, gab es zwei Indi- kationen für die Sterbehilfe: Nach

§ 1 sollte jeder Bürger das Recht ha- ben, im Falle eines unheilbaren Lei- dens nach wissenschaftlicher Über- prüfung durch ein Ärztegremium sich aktiv den Gnadentod oder die Sterbehilfe durch einen Arzt geben zu lassen. Der Grundwert der Selbstbestimmung sollte sich endlich uneingeschränkt durchsetzen. Und nach § 2 sollte für alle diejenigen, die aufgrund ihres Leidenszustandes nicht für sich sprechen können, der Staat garantieren, daß ihnen dassel- be Recht auf die Gnade der Sterbe- hilfe eingeräumt würde, wobei es nicht schwerfällt, die meisten Behin- derungen gleich welcher Art und die meisten Alterszustünde für „unheil- bar" — im medizinischen Sinne — zu erklären (abgedruckt in „Recht und Psychiatrie" 3/1983, Psychiatrie- Verlag Bonn). Man kann sicher sein, daß viele der fortschrittsbe- wußten Liberalen von 1890 gegen diese Gesetzesformulierung nichts einzuwenden gehabt hätten, sie viel- mehr als Einlösung ihrer Forderung nach dieser „sozialen Reform" ge- feiert hätten. Und heute?

. . . bis zur

„Normalisierung des Tötens"

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Die 3. Phase der NS-Euthanasie von 1941-45 war dann auch ein Schritt zur Normalisierung des Tö- tens, indem in mehr Krankenhäu- sern und nur noch mit medizinischen Mitteln (Medikamente oder kontrol- lierter Nahrungsentzug) Euthanasie gewährt wurde.

Die 4. Phase hätte nach dem Krieg begonnen, wofür die bekann-

testen Psychiater unter Federführung des schon erwähnten Carl Schneider 1943 eine so fortschrittliche Denk- schrift vorlegten, daß in ihr die we- sentlichen Elemente unserer Psychia- triereform der 70er Jahre vorwegge- nommen sind — bei gleichzeitiger selbstverständlicher Euthanasie im Falle der wissenschaftlichen Feststel- lung der „Unheilbarkeit". Wie wir wissen, wurde statt dessen nach dem Krieg sowohl das Thema der Psychia- triereform als auch das Thema der Sterbehilfe verdrängt. Offenbar brauchten wir Jahrzehnte des er- schrockenen Schweigens, um mit dem Abstand die Wiederannäherung an diese Themen riskieren zu können.

So registrieren wir erst wieder ab den 60er Jahren, daß einzelne Fälle von strittiger Sterbehilfe oder Euthanasie wieder die Chance ha- ben, in die öffentliche Diskussion zu geraten. Und sie werden — auf un- heimliche Weise zunehmend me- dienwirksam — in ihrem Pro und Contra so diskutiert, als hätte es die Entwicklung von 1890 bis heute nicht gegeben, als hätten wir — wie in vielen anderen gesellschaftspoliti- schen Bereichen — nur wieder an die Tradition der 20er Jahre anzuknüp- fen, worin der entscheidende Fehler liegt, wie ich hoffe gezeigt zu haben.

Die Bewältigung der Vergangenheit findet bestenfalls sprachlich statt, in- dem insbesondere Juristen mit Vor- liebe ihre Beiträge damit beginnen, daß der Begriff der „Euthanasie"

von den Nazis entwertet sei, weshalb man heute nur noch von „Sterbehil- fe" sprechen könne. Beides habe auch im übrigen nichts miteinander zu tun. Dies folgt dem fatalen Denk- muster, wonach der Nationalsozia- lismus nur ein Betriebsunfall in der deutschen Geschichte gewesen ist, verleugnet auch die Internationalität des Problems. Neoliberal wird die altliberale Forderung nach Selbstbe- stimmung, durch Gedankengut der 68er antiautoritären Bewegung ver- schärft, wieder zur Grundlage der Forderung des Rechts auf das eigene Leben, den eigenen Bauch und den eigenen Tod modernisiert. Wieder gibt es keinen Gegenwert gegen den Grundwert der Selbstbestimmung.

Wieder erhält das Leben einen Wert im Sinne des Nützlichkeitswer-

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tes, der mal positiv, mal negativ sein kann, wenn man auch heute lieber formuliert, ein Leben mit zuviel Lei- den habe keinen Wert mehr. Wieder schweigen die Kirchen. Oder sie ge- hen auf ihrem Anpassungskurs noch weiter und beeilen sich, über die see- lenlose Apparatemedizin herzuzie- hen und die armen Menschen, die nur noch an Schläuchen auf Intensivsta- tionen liegen und denen gewissenlose Ärzte den Tod verweigern, mitleidig zu bedauern, was sowohl das allge- meine Publikum als auch die Medien als auch schließlich die liberalen Juri- sten dazu bringt, eine aktivere Eutha- nasie jetzt wieder für angezeigt zu hal- ten. Sie bedauern und feiern diejeni- gen mutigen, weil mitleidigen Medizi- ner, die über die jetzt noch engen — viel zu engen? — gesetzlichen Grenzen sich hinwegsetzen.

Wenn schon die Diskussion in den Niederlanden, wo der Damm- bruch zugunsten der Straffreiheit für aktivere Sterbehilfe schon erfolgt ist und nun die Gefahr besteht, daß weitere Grenzen nicht mehr zu zie- hen sind, daraus noch zu verstehen ist, daß die Holländer die Nazis nur als unmenschliche Okkupanten erle- ben konnten, also aus der Geschich- te schlecht lernen konnten, so kann eine solche Entschuldigung für uns Deutsche nicht gelten. Wir hätten und wir haben die Pflicht zu lernen.

Der „Fall Hackethal"

Um so weniger sind das wider- wärtige Spektakel um die Aktivitä- ten von Hackethal und die Reaktio- nen der Öffentlichkeit darauf zu ver- stehen. Dabei liegen für jeden lern- fähigen Menschen — trotz des Urteils des OLG München — die Fehler und Vergehen von Hackethal auf der Hand: Einmal hat er sich der unter- lassenen Hilfeleistung schuldig ge- macht; denn da seine Patientin vor allem deshalb nicht mehr leben woll- te, weil sie ihr krebszerfressenes Ge- sicht nicht mehr der Öffentlichkeit zumuten wollte, wäre es die erste Pflicht des Arztes gewesen, gemein- sam mit dieser Patientin durch die Kuranlagen des Badeortes spazieren zu gehen, um sich zu seiner Patientin öffentlich zu bekennen. Zum ande-

ren hat er sich selbst dazu bekannt, seine Patientin, deren Sterben kei- neswegs begonnen hatte, von ihrem Leiden zu erlösen, obwohl es un- strittig ist, daß es noch nie so gute Möglichkeiten der Schmerzbekämp- fung gegeben hat wie heute.

Vielmehr hat er sich von libera- len Juristen beraten lassen, wie er seine Absicht straffrei durchführen könne. Seine Absicht war zweifellos

„Tötung auf Verlangen" (§ 216 StGB). Da aber diese Möglichkeit, die er eigentlich verwirklichen woll- te, wegen der Strafandrohung ihm noch verschlossen war, hat er sich auf die Idee bringen lassen, seine Absicht dennoch zu erreichen, in- dem er straflose Beihilfe zum straf- losen Suizid beging. Nur geht aus den von ihm selbst beschriebenen und dargestellten Umständen — von

„Bild" gefeiert — deutlich hervor, daß die Patientin von der mächtigen Persönlichkeit des Professors, des Herrn über Leben und Tod, völlig abhängig war, so daß die geforderte Tatherrschaft ganz offensichtlich eben nicht mehr bei der Patientin, sondern bei dem Professor lag. Man muß fürchten, daß es dem Professor mehr um seine eigene Selbstbestim- mung als um die Selbstbestimmung seiner Patientin ging — etwas, was wir bei aktiveren Therapeuten in der Medizin immer wieder finden.

Wenn jetzt die liberal-fort- schrittlichen Juristen, ohne reflek- tiert und gelernt zu haben, und mit ihnen der 56. Deutsche Juristentag die Möglichkeit des Verzichts auf Bestrafung bei Tötung auf Verlan- gen durchsetzen wollen (Alternativ- entwurf eines Gesetzes über Sterbe- hilfe, Stuttgart: Thieme 1986), und wenn dieser Sieg des Wertes der Selbstbestimmung von den Medien nur hinreichend hochgejubelt wird, dann kann allmählich eine soziale Erwartungshaltung in der Bevölke- rung entstehen, wonach alle behin- derten, unheilbaren oder alten Men- schen es für anständig halten müs- sen, sich von den medizinischen Vertretern der Wissenschaft den Tod geben zu lassen. Es entstehen ungeahnte Möglichkeiten, soziale Kosten einzusparen. Wer sich in die unvermeidliche Abhängigkeit von einem Arzt begibt, wird nicht mehr

wissen können, ob dieser seine Tat- herrschaft mehr aufs Leben oder mehr aufs Sterben richten wird.

Als Arzt befinde ich mich in ei- ner ungewöhnlichen Situation: Ge- wohnt, im Zweifel zunächst mich selbst und meine Disziplin, die Me- dizin,zu kritisieren, muß ich diejeni- gen Arzte verteidigen, die schlicht erklären, daß ein Patient, der von seinem Arzt den Tod erbittet, zuvor von eben diesem Arzt zu sehr allein- gelassen worden sein muß. Ich muß die Intensivmediziner verteidigen und kann dies aufgrund umfangrei- cher Konsiliartätigkeit auch gut tun:

Denn sicher sind Intensivstationen als neue Möglichkeit in der Anfangs- begeisterung nicht selten zu ausgie- big auch zu Lasten von Patienten be- nutzt worden, wie jede technische Neuerung in der Medizin für eine gewisse Zeit zu expansiv-unkritisch genutzt wird. Aber ebenso sicher ist es, daß die Intensivmediziner diese Phase längst hinter sich haben und der Gebrauch dieses Instrumentes in aller Regel kritisch erfolgt, sich nor- malisiert und damit humanisiert hat.

Und ich muß meine ach so reaktio- näre Bundesärztekammer verteidi- gen, die vor dem Dammbruch in Sachen Sterbehilfe warnt — so auch das Bundesjustizministerium. Dabei kann es eigentlich nur darum gehen, daß wir Ärzte noch mehr oder wie- der mehr die Kunst des bescheide- nen Begleitens von Menschen im Leben und Sterben zu lernen haben.

. . . wehren gegen die, die mir zu Hilfe kommen wollen

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Mehr noch. Ich habe mich als Arzt paradoxerweise zu wehren ge- gen diejenigen, die mir zu Hilfe kommen wollen: Gegen die liberal- fortschrittlichen Vertreter der Kir- che, die gegenüber der hoffnungslos seelenlos gewordenen Medizin im Namen des Grundwertes der Selbst- bestimmung das fragwürdige Mittel des Patiententestaments empfehlen, das das Mißtrauen zwischen Arzt und Patient eher noch vergrößert, Vertrauensbildung eher verhindert.

Und ich habe mich gegen die liberal- fortschrittlichen Vertreter der Justiz zu wehren, die im Namen des

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Grundwertes der Selbstbestimmung mir meinen Spielraum des straffrei- en Tötens (auf Verlangen) erweitern wollen. Statt dessen wünsche ich mir von diesen beiden Seiten eher eine entgegengesetzte Hilfe: Von den Vertretern der Kirche erwarte ich, daß sie dem Grundwert der Selbst- bestimmung den anderen Grund- wert des Lebensschutzes entgegen- setzen, das Leben als Geschenk, als Pfand, als von Gott geliehen und des- halb nicht wegzuwerfen setzen — und wenn es nur wäre, daß ich etwa im Fal- le meines eigenen Suizids mich über diese Norm hinwegsetzen möchte.

Und von den Juristen erwarte ich, daß sie ihre Normen so setzen und beibe- halten, daß ich, wenn ich in meinem ärztlichen Handeln an die Grenze zwischen Leben und Tod komme, auch strafrechtlich belangbar und da- mit kontrollierbar bleibe.

Wo bleibt

der hippokratische Eid?

111M11■1111,

Das scheinen heutzutage schwer einlösbare Erwartungen zu sein, nachdem das ganze 20. Jahrhundert hindurch Wissenschaftler unerlaub- terweise aus ihrem Tun Glaubens- haltungen abgeleitet haben und nachdem die kirchlichen Vertreter des Glaubens unerlaubterweise sich an wissenschaftliche Aussagen ange- paßt haben. Und dennoch müssen wir uns entwirren, müssen anerken- nen, daß menschliches Leiden nicht wegzumachen ist, sondern mehr als alles andere den Menschen als Men- schen konstituiert (P. Sloterdijk:

Der Denker auf der Bühne, Frank- furt: Suhrkamp 1986). Und schließ- lich und vor allem müssen wir die Werte-Verschränkung wieder her- stellen, die das ältere Abendland einigermaßen im Gleichgewicht ge- halten hat — etwa nach dem eingangs erwähnten Satz: „Das Leben gehört mir, aber ich gehöre auch dem Le- ben." Dabei ist mir um den ersten Teil dieses Satzes nicht bange: Auf der Seite des Grundwertes der Selbstbestimmung, der auch mir wahrlich wichtig ist, stehen nach wie vor die stärkeren Bataillone. Wie aber machen wir die zweite Hälfte des Satzes, wonach auch ich dem Le-

ben angehöre, gleich stark und wahr? Für mich als Arzt habe ich einmal die Möglichkeit des hippo- kratischen Eides, obwohl dieser nicht mehr sehr mächtig zu sein scheint. Zumindest irritiert es, wie leicht der Eid in der gegenwärtigen Sterbehilfe-Diskussion auch von Ärzten beiseite gelassen wird. So- dann wäre zu überlegen, ob nicht der Grundwert der körperlichen Un- versehrtheit in unserem Grundge- setz in seinem Bedeutungsgehalt auch in der heutigen Euthanasie- Diskussion die Grenze ziehen kann, die wir brauchen, um uns nicht zu immer weitergehenden Grenzkor- rekturen zu Ungunsten des Lebens verführen zu lassen Immerhin ha- ben die Väter des Grundgesetzes die körperliche Unversehrtheit in den Grundrechtskatalog eingefügt, um all dem, was die Nationalsozialisten im Namen des Fortschritts gegen das Leben unternommen haben, einen keineswegs wertneutralen Riegel vorzuschieben.

Schließlich frage ich mich, ob nicht das in der Medizin immer schon wichtige ökologische Denken einen Grundwert beinhaltet, der dem Grundwert der Selbstbestim- mung gleichgewichtig ist. Immerhin entspricht der ökologische Ansatz des Denkens und Handelns einer Haltung, die dem aufgeklärt-libera- len Individualismus die Zugehörig- keit des Menschen zu seinem Oikos, zu seinem Haus, zu seinem mensch- lichen und materiellen Haushalt zur Seite stellt, die der Naturbeherr- schung den Naturschutz beigesellt, die der Verwertung des Lebens den Wert des Lebens gegenüberstellt und die dem Satz „Ich bin der Herr meines Lebens" etwas gegenüber- stellt, das in den letzten 100 Jahren für uns alle offenbar viel schwieri- ger, ungewohnter und unbeholfener auszusprechen ist, weshalb ich mir zu meinen Gedanken eine lebhafte Diskussion wünsche.

Anschrift des Verfassers:

Prof. Dr. phil.

Dr. med. Klaus Dörner Westfälisches

Landeskrankenhaus Hermann-Simon-Straße 7 4830 Gütersloh 1

Gegendarstellung

Im Deutschen Ärzteblatt Heft 18 vom 30. April 1987 ist ein Interview des Journalisten Kurt Gelsner mit dem Prä- sidenten der Bundesärztekammer, Dr.

Karsten Vilmar, unter der Überschrift:

„Die ‚Vergangenheitsbewältigung' darf nicht kollektiv die Ärzte diffamie- ren"

erschienen.

1. In diesem Beitrag nehmen so- wohl der Interviewer wie auch Dr. Vil- mar Stellung zu einem Referat von mir, das am 2. August 1986 in der wissen- schaftlichen Zeitung „The Lancet" er- schienen ist. In diesem Interview wird mir insbesondere auch deswegen „eine profunde Unkenntnis der neueren deutschen Geschichte" vorgeworfen, weil ich behauptet hätte, die „Reichs- ärztekammer" hätte die „Machtüber- nahme" 1933 begrüßt.

Diese Behauptung ist falsch.

Richtig ist vielmehr, daß ich in meinem Beitrag von der „German Chamber Of Physicians" gesprochen habe.

Unmittelbar über diesem Satz habe ich die Titelseite des Deutschen Ärzte- blattes vom 1. Juli 1933 abdrucken las- sen, auf der zu finden ist, es handele sich beim Deutschen Ärzteblatt um das

„Mitteilungsblatt der Vereinigung der deutschen Ärztekammern und des Ausschusses der deutschen Ärztekam- mern":

Diese „Vereinigung" bezeichnet der Begriff „Chamber of Physicians".

2. Der Interviewer hält mir vor, ich hätte „schlichtweg konstatiert, damals sei die ,ärztliche Elite' ausgeschaltet worden".

Im Lancet-Artikel dagegen steht, daß die Administration „begann, ein- zelne Kollegen als Bolschewiken oder Juden zu stigmatisieren und die medizi- nische Elite auszuschalten".

Dr. Hartmut M Hanauske-Abel

Wer sich für Hintergrund und Her- gang im einzelnen interessiert, kann den Wortlaut eines entsprechenden Aner- kenntnis-Urteils des Landgerichts Köln bei der Redaktion anfordern, die es ger-

ne zusenden wird.

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