DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
V
iele Besserwisser hatten noch vor zwei Jahren be- hauptet, daß sich die staatsanwaltschaftlichen Ermitt- lungsverfahren gegen Kassen- ärzte wie ein „Flächenbrand"ausweiteten. Jetzt wurden sie durch die Generalstaatsanwalt- schaft Hamm eines Besseren be- lehrt: Trotz der noch nicht vergessenen Aufforderungen von NRW-Gesundheitsminister Hermann Heinemann, die Er- mittlungsbehörden sollten eine härtere Gangart anwenden, und des Bonner Ministerialdirektors Karl Jung, man sollte Sonderer- mittlungsgruppen einrichten, um der „Arztekriminalität"
nachzugehen, ist heute die Zahl der Neuzugänge bei den Ermitt- lungsverfahren gegen Ärzte in Westfalen-Lippe in den Keller gerutscht: In den letzten 12 Mo- naten sind die Ermittlungsver- fahren um 47 Prozent zurückge- gangen. In dieser Zahl sind die
„Radionuklidverfahren" mitbe- rücksichtigt. Ohne diese ergibt sich sogar ein Rückgang um 74 Prozent, gegenüber dem ersten Halbjahr 1987 sogar um 80 Pro- zent! Auch die Zahl der noch
Ermittlungsverfahren
mfflinkeArg
Tiefststand
anhängigen Verfahren bei den Staatsanwaltschaften ist rück- läufig. 1987 waren es noch über 300, im ersten Halbjahr 1988 fiel die Zahl auf 266.
Böswillige Unterstellungen und Behauptungen, innerhalb der Ärzteschaft wimmele es von
„Abrechnungsmanipulateu- ren" , wurden jetzt zurecht ge- rückt: Nur fünf Prozent der Ver- fahren führten zu einem Straf- befehl, drei Prozent zu einer Anklage (wobei der überwie- gende Teil dieser Verfahren noch nicht rechtskräftig abge- schlossen ist; Freisprüche und Teilfreisprüche sind möglich);
73 Prozent der Verfahren wur- den eingestellt oder an Anwalt- schaften außerhalb Nordrhein- Westfalens verwiesen.
Dies zeigt: Nicht jeder An- fangsverdacht hat zu einer straf- rechtlichen Sanktion oder Schiedsstellenverfahren auf
Selbstverwaltungsebene ge- führt. Freilich war zähe Aufklä- rungsarbeit nötig, und die Dele- gationsfähigkeit ärztlicher Lei- stungen wurde präzisiert. Diese Klarstellung werden künftig auch die Staatsanwaltschaften in der rechtlichen Bewertung dele- gierter Leistungen berücksichti- gen, so zum Beispiel bei einer i.v.-Injektion durch ärztliches Hilfspersonal. Die Gerichte ver- treten in der letzten Zeit inzwi- schen ohnedies teilweise andere Auffassungen als einige Staats- anwaltschaften: Es gibt Frei- sprüche und Verfahrenseinstel- lungen, soweit Ärzten „unzuläs- sige Delegation" ärztlicher Lei- stungen vorgeworfen worden war.
Inzwischen sind viele pflichtbewußte Ärzte für den Fall „X" präpariert und aufge- klärt, geben sich kämpferisch und streichen nicht vorschnell die Segel vor noch so „omnipo- tenten Mächten". Sie lassen die Betrugsvorwürfe durch Gerich- te überprüfen. Auch das führte zu dem in Westfalen-Lippe jetzt evident gewordenen Tiefstand an Verfahren. HC
E
in neuer Begriff hat das Licht der Welt erblickt.Sein Vater ist der Germa- nist Prof. Dr. Theodor Ickler aus Erlangen, und gezeugt wur- de der Terminus in einem Rea- genzglas seines Hobby-Sprach- labors. Als Geburtshelfer betä- tigten sich die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) sowie eine „Arbeitsgruppe zur Termi- nologie der sog. Reproduktions- medizin" an der Frankfurter Goethe-Universität. Der Begriff heißt „IVF-Kind" und soll, geht es nach dem Willen seiner Förderer, das „Retorten-Baby"
aus unseren Köpfen und Bü- chern verdrängen.
Denn die Sprach-Hüter ha- ben ihren Homunculus mit der festen Absicht in die Welt ge- setzt, einen „versachlichenden, formal griffigen" Ersatz für je- nen „grellen Sprachgebrauch"
mit seinen „inhumanen Asso-
„IVF-Kind"
Fehlgeburt
ziationen" zu schaffen. Sie schrieben den zu findenden Be- griff für das extrakorporal ge- zeugte Leben in einem Wettbe- werb aus, 360 Einsender „aus allen Bevölkerungsschichten"
antworteten, und die Jury ent- schied. Den Zuschlag bekam Professor Icklers „IVF-Kind" , weil es sein Leben der „In-vitro- Fertilisation" verdankt.
Abgelehnt werden mußten dagegen vermeintlich ebenbürti- ge Beiträge, denn, wie es in der Begründung heißt: „Wer würde in dem Initialwort ,AGG-Baby' von sich aus an ,außerge- schlechtlich gezeugt' denken?".
Und: „Was soll sich der Laie
unter einem Agenzkind, einem Initial- oder Resonanzbaby vor- stellen?" Nein: IVF ist sachlich, griffig, deutsch. Da weiß auch Tante Emma, wo es lang geht, und das Retorten-Stigma lastet nicht mehr auf dem neuen Er- denbürger. „Ich bin ein IVF- Kind", spricht er jetzt stolz, so- bald er sprechen kann.
Zweimal lesen sollte man schließlich den folgenden Satz der Jury: „Wir wollen damit im übrigen niemandem vorschrei- ben, daß er etwa in der Alltags- kommunikation aus Gründen, die aber stets verantwortungsbe- wußt erwogen sein sollten, von ,IVF-Kind' abweichende Be- zeichnungen verwendet."
Die Juroren wollten wohl sagen, daß sie es niemandem
verbieten wollen. Wer aber
„IVF-Kinder" erfindet, der schießt auch solche sprachlichen Eigentore. OD
Dt. Ärztebl. 85, Heft 34/35, 29. August 1988 (1) A-2317