A 2286 Deutsches Ärzteblatt
|
Jg. 108|
Heft 43|
28. Oktober 2011Ungläubiges Staunen
Der Beitrag des mit zahlreichen Buchpublikationen ausgewiesenen Theoretikers der sexuellen Revolu- tion hinterlässt im heutigen Zeital- ter von gender mainstreaming un- gläubiges Staunen: Wie ist es mög- lich, das weibliche Geschlecht in einem an Realitätsverlust grenzen- den Maße zu idealisieren und sämtliche Formen des von Frauen und Müttern an Mädchen und Jun- gen verübten sexuellen Miss- brauchs vollständig auszublenden?
Der Artikel handelt ausschließlich von Frauen als Opfern und von Männern als Tätern, die beinahe hingebungsvoll in ihren Varianten von „fahrigen Berührungen ver- wirrter alter Männer“, über den „in gestörten sozialen Verhältnissen al- koholisierten Mann aus der Nach- barschaft“, den „überreifen Re- formpädagogen“ und den „neose- xuellen Sextouristen“ bis zum „po- lymorph-perversen Mann“ skiz-
ziert werden. Spätestens seit dem aufklärenden „Handbuch Sexueller Missbrauch“ von Rutschky/Wolff (1994), den Vorgängen um die so- genannten Wormser Prozesse, ers- ten Metaanalysen des Forschungs- standes (Wakefield/Underwager 1991, Koonin 1995) bis hin zur Enzyklopädie von Holmes (2003) wird deutlich, dass mit der ideali- sierenden Spaltung in Mädchen/
Frauen = Opfer und Männer = Tä- ter nur die eine Hälfte des Pro- blems erfasst wird: Eine Vielzahl empirischer Studien geht von ei- nem Anteil von circa 20 Prozent weiblicher Missbraucher aus, Heye (1993) fand sogar sieben Studien mit einem Täterinnenanteil von 25 bis 60 Prozent. Für das Gesamtpro- blem interessant erscheint auch, dass ein erheblicher Anteil der männlichen „Täter“ Missbrauchs- erfahrungen durch Mütter/Frauen aufweisen.
Tätertypologie wäre zu erweitern, zum Beispiel um jene von Rossil-
hol (2002), welche die „Lehrerin/
Liebhaberin-Täterin“, die sich (natürlich ganz unschuldig) in den jugendlichen Schüler „verliebt“, die „intergenerational vorgeneigte Täterin“, die von verschiedenen Personen selbst missbraucht wur- de oder die „von Männern ge- zwungene Täterin“ unterscheidet.
Oder jene von Enders (1995), die auf Basis ihrer langjährigen Bera- tungserfahrung die „jugendliche Täterin“, die „Täterinnen, die ge- meinsam mit Männern missbrau- chen“, die „sadistische Täterin“, die „pädophile Täterin“, Täterin- nen, die „ihr ganzes Leben den Kindern widmen“ sowie „psy- chisch kranke und abhängige Tä- terinnen“ fand.
Einigkeit besteht bei den Autoren, dass der sexuelle Missbrauch durch Frauen nicht weniger traumatisie- rend wirkt wie der von Männer be- gangene . . .
Literatur bei dem Verfasser
Dr. Walter Andritzky, 40235 Düsseldorf
PRIORIS IERUNG
Eine Bilanz der De- batte über Rationie- rung und Prioritä- tensetzung aus ärzt- licher Sicht (DÄ 24/2011: „Prioritä- ten setzen: Gerechte Leistungsverteilung muss offen disku- tiert werden“ von Christoph Fuchs).
Priorisierung in der Forschung
Priorisierung im Gesundheitssys- tem ist in der Tat längst Realität.
Ein weiterer wichtiger Bereich, der mittlerweile einer gravieren- den Priorisierung unterworfen ist, wäre aber noch zu ergänzen: die medizinische Forschung, speziell die Entwicklung neuer bezie- hungsweise die Weiterentwick- lung bewährter medikamentöser Behandlungsverfahren. Pikant dar - an ist, dass die Priorisierung hier ganz wesentlich – wenn vielleicht auch nicht willentlich – vom Ge- setzgeber verantwortet wird. Ge- meint ist damit die Tatsache, dass
aufgrund erheblicher Verschärfungen der rechtlichen Rahmenbedingungen der finanzielle und organisatorische Aufwand zur Durchführung phar- makologischer Therapiestudien sich in den letzten Jahren verviel- facht hat. Dies hat bei der Neuzu- lassung von Medikamenten zwei- fellos seine guten Gründe, betrifft jedoch leider auch sämtliche Studien , die darauf abzielen, die Anwendung bereits zugelassener Medikamente zu optimieren, sei es auch nur, um zu beweisen, dass sich die gewünschten Behand- lungsergebnisse auch mit geringe- rer Dosis oder Behandlungsdauer (und somit Einsparung von Kos- ten und Toxizität) erreichen las- sen. So ist beispielsweise die in den letzten 20 Jahren erreichte deutliche Verbesserung der Thera- pieergebnisse beim Hodgkin- Lymphom ausschließlich durch solche (nicht pharmagesponser- ten) „Therapieoptimierungsstudi- en“ bewirkt worden. Auch für sol- che Studien müssen aber wegen der dramatisch gestiegenen Doku- mentations- und Kontrollpflichten
heutzutage Budgets von einer Million Euro aufwärts kalkuliert werden.
Das bedeutet, dass derartige Unter- suchungen im akademischen Be- reich kaum noch unabhängig durch- geführt werden können. Mit ande- ren Worten: Universitäten und öf- fentliche Forschungseinrichtungen haben bei der Schwerpunktsetzung, welche Therapieverfahren am Pa- tienten geprüft werden, nur noch ei- nen sehr begrenzten Einfluss. Statt- dessen bleibt es im Wesentlichen der pharmazeutischen Industrie, welche sich am Ende bei den Kran- kenkassen refinanzieren kann, vor- behalten, hier die entwicklungsstra- tegischen Akzente zu setzen. Dass diese nicht ausschließlich am ge- sellschaftlichen Wohl orientiert sein können, liegt auf der Hand.
Diese – ökonomisch orientierte – Priorisierung der Entwicklung von Arzneimitteltherapien müsste sich doch durch unspektakuläre gesetz- geberische Maßnahmen zur Entbü- rokratisierung abmildern lassen . . .
Prof. Dr. med. Peter Dreger, Abteilung Innere Medizin V, Universitätsklinikum, 69120 Heidelberg
O S
E b r t l 2 t Leistungsverteilung